Kinostart des ukrainischen Dramas "The Tribe" in Deutschland

Ein intensives Kino-Experiment

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MAINZ. (hpd) Miroslav Slaboshpitskys Spielfilmdebüt „The Tribe“ startet heute in den deutschen Kinos. Ein radikaler, aufwühlender Film, der den brutalen Alltag einer Gruppe gehörloser Teenager zeigt und ohne gesprochene Dialoge auskommt.

Ein Internat in einer Kleinstadt irgendwo in der Ukraine. Sergey ist neu an der Schule und findet nur schwer Anschluss. Unter seinen Mitschülern herrscht ein rauer Umgang vor, Gewalt ist allgegenwärtig. Er schafft es, in eine Gang aufgenommen zu werden, die sich durch Raubüberfälle und die Prostitution ihrer weiblichen Mitglieder Geld verschafft. Doch Sergey verliebt sich in Anya, eines der Mädchen, und bricht mit den Regeln der Gruppe, die sich gegen ihn wendet.

Was nach dem Stoff eines harten "Coming of Age"-Dramas klingt, entpuppt sich als das schonungslos-brutales Langfilmdebüt des ukrainischen Regisseurs Miroslav Slaboshpitsky, der damit ein beeindruckendes Experiment wagte. Die Protagonisten, wie auch ihre realen Darsteller, sind allesamt taubstumm. Die Geschichte spielt an einem Internat für Gehörlose. Sämtliche Dialoge innerhalb des Films werden in nicht untertitelter, ukrainischer Gebärdensprache geführt.

Seine Weltpremiere feierte "The Tribe" bereits im Mai vergangenen Jahres in Cannes, woraufhin er auf diversen internationalen Filmfestivals mit Preisen überhäuft wurde.

Kann ein Film ohne gesprochene Sprache für Menschen verständlich sein, die der verwendeten Zeichensprache nicht mächtig sind? Zumal Slaboshpitsky, der auch das Drehbuch schrieb, darüber hinaus auf jegliche Filmmusik verzichtete.

Tatsächlich lässt sich der Handlung zu jeder Zeit folgen, ohne dass ein genaues Verstehen der Dialoge nötig wäre. Allein Gestik, Mimik und das konkrete Geschehen reichen aus, um die Geschichte zu erzählen. Dadurch gewinnt sie auf ungewohnt eindringliche Weise an Aussagekraft. Auch filmästhetisch bricht der Regisseur mit Sehgewohnheiten. Die Szenen werden häufig in Plansequenzen aufgelöst, immer wieder verweilt der Blick der Kamera in extrem langen und ungewöhnlichen Einstellungen. So wird eine Distanz zu den Protagonisten bewahrt, die den Zuschauer zum abseitigen Beobachter der Handlung werden lässt. Selbst die recht expliziten Sexszenen wirken dadurch befremdlich.

Slaboshpitskys Werk macht deutlich, wie zugänglich und tiefgründig ein Film auch ohne Worte und Musik sein kann. Angesichts eines aktuellen Hollywood-Kinos, das allzu oft durch Dialoge erklärt, anstatt visuell zu erzählen, also eine gelungene Rückbesinnung auf eine der Stärken des Mediums Film.

Das Publikum erhält Einblick in den schockierenden Alltag der hierarchisch-autoritären Parallelwelt einer Gruppe von Teenagern. Ihre Gehörlosigkeit wird dabei nicht thematisiert. Vielmehr lässt sich "The Tribe" als reduzierte, vielfältig interpretierbare Kritik menschlicher Gesellschaft begreifen. Eine mögliche Lesart, die viele Rezensenten ausmachen, ist die soziale Realität der Jugendlichen des Films als Sinnbild der Situation in der Ukraine. Ähnlich den Schülern, die sich mit der Gewalt arrangieren müssen, die von dem "Tribe", also dem "Stamm", ausgeht und in seinen eigenen Reihen herrscht, versank das Land in einem Kriegszustand innerer Zerrissenheit zwischen Ost und West. Slaboshpitsky betonte in Interviews allerdings, dass er derlei Deutungen nicht explizit intendiert habe. Der Film sei bereits im Jahr 2013, also vor den Maidan-Protesten und dem Konflikt im Osten des Landes, entstanden.

Ein Drama, das menschliche Abgründe beleuchtet und dem Zuschauer einiges abverlangt. Ein gelungenes Experiment, das zeigt, wie viel Potenzial weiterhin im Medium Kino steckt, gerade abseits üblicher Konventionen.

"The Tribe", Regie: Miroslav Slaboshpitsky, 2014, Ukraine/Niederlande.