Interview mit Gerhard Czermak (Institut für Weltanschauungsrecht)

70 Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage

Im September 2021 feiert das Bundesverfassungsgericht seinen 70. Geburtstag. Zu diesem Anlass hat Gerhard Czermak, Direktoriumsmitglied des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), eine bemerkenswerte Monographie mit dem Titel "Siebzig Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage" vorgelegt. Über die Neuerscheinung sprach der ehemalige Verwaltungsrichter mit gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon.

Schmidt-Salomon: Das Bundesverfassungsgericht hat am 7. September 1951 seine Arbeit als "oberster Hüter des Grundgesetzes" aufgenommen. Heute gilt es als die "angesehenste staatliche Institution der Bundesrepublik Deutschland". Zu Recht?

Czermak: In der Gesamtschau ja. International ist das Gericht hochangesehen und hat mehreren Ländern sogar als Vorbild gedient. Hierzulande ist das Bundesverfassungsgericht in der Bevölkerung beliebt, weil es die Politik immer wieder in die Schranken weist. Auch ermöglicht es das einzigartige Instrument der Verfassungsbeschwerde im Grundsatz jedem Bürger, nach Absolvierung des gerichtlichen Instanzenzugs wegen einer qualifiziert behaupteten Grundrechtsverletzung eine Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Die Politik wiederum ist froh, sich an eine oberste Gerichtsinstanz wenden zu können, wenn Gesetze umstritten sind. Allerdings wirft die Institution Verfassungsgericht auch erhebliche Probleme auf.

Dr. Gerhard Czermak, geb. 1942, war bis zu seiner Pensionierung Verwaltungsrichter in Bayern. Er ist Autor verschiedener rechtswissenschaftlicher Werke, Gründungsbeirat der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) sowie Mitgründer und Direktoriumsmitglied des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw). Seine aktuelle Monographie "Siebzig Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage" ist im Nomos-Verlag erschienen.

Ein schwer lösbares Problem ist der starke Zwang zum Kompromiss bei der Richterwahl durch Bundestag und Bundesrat mit einer Zweidrittel-Mehrheit. Das erschwert die Wahl von Richtern mit unorthodoxen Sichtweisen sehr. Die enorme Machtposition des Gerichts hat mitunter auch zu Übergriffigkeiten gegenüber dem Parlament geführt. Die – teilweise selbstverschuldete – übermäßige, ja eigentlich untragbare Arbeitsbelastung bedingt zudem zwangsläufig Fehler. Hinzu kommen besonders bei den achtköpfigen Senatsentscheidungen gruppendynamische Probleme mit manchmal unversöhnlich aufeinanderprallenden Überzeugungen. Das führt zu widersprüchlichen und fehlerhaften Entscheidungsbegründungen, die man in den nunmehr 154 Bänden mit durchschnittlich über 400 Seiten nachvollziehen kann. Kritiker bemängeln die oft willfährige Kritiklosigkeit der Politik gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, und auch die trotz aller Kritik grundsätzlich affirmative Einstellung der Verfassungsrechts-Wissenschaft trägt zur problematischen Machtposition des Gerichts bei.

In deinem Buch konstatierst du eine "weltanschauliche Schieflage" der Karlsruher Richter. Worin drückt sie sich aus und warum ist sie so problematisch?

In der bis etwa 1965 dauernden Nachkriegsphase, der klerikalen Adenauer-Ära, gab es nur erstaunlich wenige Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu religiös-weltanschaulichen Fragen. Die erste war, nach einem extrem aufwändigen Prozess, das sogenannte Konkordats-Urteil von 1957. Das Gericht hatte auf Antrag der Bundesregierung (die sich damit zum Wahrer katholischer Interessen machte) darüber zu urteilen, ob das neue niedersächsische Schulgesetz mit seiner Regelung zu den Konfessionsschulen im Widerspruch zum Reichskonkordat von 1933 stand. Nachdem es schließlich zur (recht fragwürdigen) Fortgeltung des Konkordats gekommen war, erklärte das Gericht, darauf komme es gar nicht an, weil der Vertragsgegenstand in die ausschließliche Länderkompetenz falle und Bundesrecht jedenfalls nicht verletzt sei. Dem Senat war dabei offenbar wichtig, auch ohne irgendeine prozessuale Veranlassung die These unterzubringen, Konfessionsschulen seien auch im Hinblick auf Andersdenkende rechtlich problemlos. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit wurde nicht einmal diskutiert, obwohl selbst der rechtskatholische Theodor Maunz den Konfessionsschulzwang gutachtlich für verfassungswidrig erklärt hatte. Art. 4 GG war damit bedeutungslos und Minderheiten waren der christlichen Schulpolitik ausgeliefert. Nebenbei erklärte das Gericht das gesamte Kirchenvertragswesen für unproblematisch, was gravierende Auswirkungen bis zum heutigen Tag hat.

Das ist ein erstes und richtungweisendes Beispiel für eine kirchenfreundliche Schieflage. Im Grundsatz ist das auch unbestritten. Die Kirchenfreundlichkeit des Bundesverfassungsgerichts ist eine im öffentlichen Sprachgebrauch anerkannte Redewendung. Ihre Richtigkeit zeigt sich etwa in der Rechtsprechung zum Schulwesen, zum Arbeitsrecht im kirchlichen Bereich, bei der Religionsförderung, im Steuerrecht, in der Frage des Rechtsschutzes kleiner Religionsgemeinschaften (abwertend: Sekten), beim Rundfunkwesen und in anderen Bereichen. Alles in allem werden Sachverhalte oft mit kirchlicher Brille registriert und gewürdigt, während die Frage der berechtigten Interessen Andersdenkender, vor allem Nichtgläubiger, bis heute günstigstenfalls eine untergeordnete Rolle spielen – trotz verbaler Nennung. Sie werden oft nicht als Rechtsproblem gesehen. Dies alles ist nur möglich, weil anerkannte Methoden der Rechtsgewinnung missachtet werden, was zumindest unprofessionell, wenn nicht gar parteiisch ist.

Was waren aus deiner Sicht die gravierendsten Fehlentscheidungen aus Karlsruhe?

Seit Mitte der 1970er Jahre ist die Zahl der wichtigeren fragwürdigen Entscheidungen stark gestiegen – auch wenn es selbstverständlich auch viele gute oder akzeptable Entscheidungen gegeben hat. Zum Begriff der Fehlentscheidungen ist zu bemerken, dass es bei rechtlicher Betrachtung weniger auf das Ergebnis ankommt als auf die Sorgfalt, Widerspruchsfreiheit und Neutralität der Entscheidungsbegründung.

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Neben dem eingangs erörterten Konkordats-Urteil nenne ich die Lumpensammler-Entscheidung von 1968 mit ihrer exzessiven Ausdehnung der Religionsausübungsfreiheit. Der Schutz aus Art. 4 GG wurde bei äußerlich gleichem Verhalten vom Vorhandensein religiöser Motivation abhängig gemacht. Diese Position wird manchmal auch von kirchennahen Juristen verworfen. Am schlimmsten finde ich, wie wohl die meisten Kritiker, die erste Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1975. Sie stimmte unausgesprochen mit der erst seit 1869 in der katholischen Kirche allgemein geltenden Lehre von der Beseelung der befruchteten Eizelle überein und kann wegen des Fehlens zentraler juristischer Begründungselemente nicht als Urteil eines Gerichts akzeptiert werden. Die Mehrheitsbegründung zeigt manchmal sogar eine aggressive, religiös geprägte Wortwahl. Zwei der Richter haben das Urteil dann auch deutlich missbilligt. Der bekannte Rechtswissenschaftler Josef Esser schrieb: "Hier war Gelegenheit, in nuce den Unterschied von politischer Parteilichkeit und juristischer Methodenehrlichkeit zu demonstrieren. Sie ist vertan." Schlimmeres lässt sich über Verfassungsrichter kaum sagen. Die rechtliche Fiktion von der Menschenwürde des befruchteten Eies ist noch heute von rechtlicher Bedeutung.

Ebenfalls gravierend war das Urteil von 1985 zu den Loyalitätspflichten in Arbeitsverhältnissen im kirchlichen Bereich, zum sogenannten Buchhalter- und Assistenzarztfall. Auch hier wurde, wie schon oft, das zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht mutierte verfassungsrechtliche Selbstverwaltungsrecht der Religionsgesellschaften stark überdehnt mit verheerenden Folgen für weit über eine Million kirchliche Arbeitnehmer. Vollkommen unverständlich ist die inhaltliche Bekräftigung der 1985 vertretenen Positionen noch im Chefarzturteil von 2014. Als letzte gravierende Fehlentscheidung nenne ich das zweite Kopftuchurteil von 2015, in dem das – bisher auch in der Gerichtspraxis zumindest inhaltlich ohnehin stark vernachlässigte – Neutralitätsgebot im Gegensatz zur Kopftuchentscheidung von 2003 der Glaubensfreiheit stark untergeordnet wurde.

Du hast die Urteile des Verfassungsgerichts in drei Gruppen angeordnet, nämlich in Entscheidungen von 1951 bis 1975, von 1976 bis 2000 und von 2000 bis heute. Lässt sich in den 70 Jahren der Arbeit des Gerichts eine Entwicklungstendenz feststellen? Hat die "weltanschauliche Schieflage" mit der Zeit abgenommen?

Zunächst: Die drei Entscheidungsgruppen entsprechen nicht erkennbaren Epochen der Rechtsprechung, sondern dienen der besseren Übersichtlichkeit. Eine eindeutige Epoche des staatlichen Religionsrechts mit eindeutiger Tendenz zur Gleichordnung von Staat und Kirche endete 1965 abrupt mit den Kirchensteuerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Sie sind zwar nicht durchwegs fortschrittlich, betonen aber die individuelle Religionsfreiheit und staatliche Neutralität. Seitdem ist die weltanschauliche Neutralität ständiger Bestandteil der immer umfangreicher gewordenen einschlägigen Rechtsprechung. Oft verbleibt es aber bei der verbalen Betonung der Neutralität, ohne dass daraus klare Konsequenzen gezogen werden. Wie eine religionsgeneigte "positive Neutralität" begründet werden soll, ist nicht ersichtlich. Die Inkonsequenz zeigt sich besonders in den Entscheidungen zum Schulrecht, aber auch in vielen anderen Bereichen. In der Problematik der Religionsförderung ignoriert das Gericht das Neutralitätsgebot nahezu vollständig. Manchmal scheint es einen präziseren Definitionsversuch sogar absichtlich zu vermeiden. Die Argumentation schwankt bis heute zwischen Neutralitätsgebot und – überwiegend – nur grundsätzlichem Neutralitätsprinzip. Diese Unbestimmtheit ist das vielleicht größte Versäumnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Seit etwa 2000 ist das von einem abgegrenzten Kreis kirchenorientierter Juristen dominierte Religionsverfassungsrecht (veraltet: "Staatskirchenrecht") Bestandteil des allgemeinen verfassungsrechtlichen Diskurses geworden. Es lässt sich aber nicht ohne weiteres sagen, dass die weltanschauliche Schieflage beim Bundesverfassungsgericht dadurch abgenommen hätte. Gerade viele Kammerentscheidungen, die von nur drei Richtern gefällt werden, zeigen das. Einige davon habe ich in meine kleine Monographie aufgenommen. So hat 1999 eine Kammer des 1. Senats eine sorgfältig begründete Richtervorlage betreffend die Unzulässigkeit des Ethikunterrichts in Form eines Ersatzunterrichts für Religionsunterricht regelrecht abgewürgt, wohl um eine Prüfung durch den Senat zu verhindern. Ein Erfolg der Richtervorlage wäre von größter Bedeutung für das gesamte Schulwesen gewesen, weil dann wahrscheinlich im ganzen Bundesgebiet nach und nach ein Ethik- oder Philosophieunterricht als allgemeines Pflichtfach eingeführt worden wäre, das heißt ein integrativer staatsbürgerlicher Fortschritt.

Als herausragend positiv ist das einstimmig ergangene Senatsurteil von 2020 zum assistierten Suizid zu bewerten, weil es in einer gesellschaftspolitisch wichtigen Frage mit der gegebenen Begründung so nicht erwartet wurde. Dass die zwingende Logik und fachliche Durchdringung des Urteils die Juristen erfreuen musste, zeigt, wie groß ansonsten die Begründungsdefizite im ideologisch-weltanschaulichen Bereich oft sind.

Was erwartest du für die Zukunft? Werden die Karlsruher Richter in ihren Entscheidungen noch größeres Gewicht auf das "Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität" legen? Oder könnte es doch wieder zu einem konservativen Rollback in der Rechtsprechung kommen?

Dazu möchte ich nur sagen: Nichts G’wisses weiß man nicht. Die personelle Zusammensetzung der beiden Senate hat sich mittlerweile stark verändert. Man muss und darf hoffen, das Gericht werde künftig die Interessen der wachsenden nichtchristlichen und vor allem nichtreligiösen guten Hälfte der Bevölkerung deutlicher wahrnehmen und der zentralen Bedeutung weltanschaulicher Gleichheit die nötige Beachtung schenken.

Abschließend möchte ich bemerken, dass es selbst hoch qualifizierten Juristen und Rechtsgelehrten offenbar speziell in weltanschaulich-religiösen Fragen sehr schwer fällt, über ihren Schatten zu springen. Nicht selten missachten sie daher die anerkannten – und von anderen Gerichten sowie Verwaltungen stets eingeforderten – Gebote der Professionalität und Unvoreingenommenheit. Das muss nicht so sein. Es ist eine Frage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit.

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