Die Natur besangen die Dichter erst, als sie durch die industrielle Revolution zu schwinden begann. Naturlyrik kam mit der Dampfmaschine auf, die Öko-Lyrik mit den Atomkraftwerken. Lyrik im Wissen, dass wir im Anthropozän leben, setzt sich von jenen Vorgängern durch das Fehlen von Pathos ab, durch das genaue Hinsehen. Das zeigt die Anthologie "All dies hier, Majestät, ist deins: Lyrik im Anthropozän", herausgegeben von Anja Bayer und Daniel Seel.
Dabei könnte man als erste Dichterin des Anthropozän schon Annette von Droste-Hülshoff bezeichnen mit ihrem Gedicht "Mergelgrube" aus den Jahren 1841/42. "Es ist gewiß, die alte Welt ist hin, / Ich Petrefakt, ein Mammutknochen drin!", heißt es darin. Schon hier taucht die Ahnung davon auf, dass es künftig eine Welt ohne Menschen geben könnte. So sehr er auch selbst der Natur angehört.
Wie fühlt es sich an, das Anthropozän, inwieweit ist es Bedingung meines Fühlens? Lyrik erfasst Orte auf der Zeitschiene. Sie macht Momentaufnahmen. So wie sich in der Natur Sedimente auf Sedimente legen, kann Poesie daraus eine Kunststruktur machen, wenn sie den Palimpsesten der Natur nachspürt. Deshalb wohl haben Dichter schon immer gern auf den Boden unter ihren Füßen geschaut.
Anthropozän heißt der geologische Zeitabschnitt, in dem der Mensch zum prägenden Faktor wird, mal mit der industriellen Revolution angesetzt, mal mit dem exponentiellen Wachstum von Industriestaub, Kohlendioxid und Abgasen seit Mitte des letzten Jahrhunderts, mitunter schon mit dem Beginn der Neuzeit und der Kolonialzeit. Was bleibt von der Natur seither? Und was von der Menschennatur? Und was von der Naturlyrik, wenn die Natur künstlich wird?
Nun, da der Mensch zur Kondition der immer rasanteren naturgeschichtlichen Entwicklung wird, stößt er überall auf sich selbst. Er entkommt sich nie. Für die Dichtung heißt das: Auch die Sprache wird unserer Tage gefrackt, und das schon längst. Sie gerät in Turbulenzen. Das lyrische Ich implodiert oder explodiert. Das gehört zur Moderne. Das Du erweitert sich gleichzeitig ungeheuer. Mit allem findet sich der Mensch aber nun auch im Austausch, dem Menschen kommt keine privilegierte Stellung mehr zu. Die Apokalypse wird dennoch klein geschrieben. Die Lyrik wird zu einem Code wie die DNA. Ihr Corpus sind die Bilder im Kopf des Lesers.
"Der Saugrüssel /aus der Umlaufbahn, unsichtbar saugt er / Träume an, heimlicher un- heimlicher Geister - / import - // woher also die: durch das Tunnelgras // sickernde Evolutionsarmee, Überlebensgene / auf ihrem leuchtenden / Pfad zum Unsterblichkeitswahn - wieder und wieder, unübersetz- / barer Zauberspruch - als die Tiere / noch Menschen waren, unteilbare Arten- / sprache aller - …//", dichtet Brigitte Oleschinski.
Man kann aber auch fast kalauernd herangehen, so wie Frederike Mayröcker, wenn sie schreibt:
"HÖLZERN WIRKT DER ASTRONAUT
wenn er aus dem Walde schaut."
Ein in der Taiga gelandeter Astronaut ist eben doch ein Gestrandeter. Schwebend im All, unendlich steif im Vergleich zum Wild.
Wir sind abhängig von der Natur, die wir gefährden. Da ist kein Sehnen mehr und keine Klage, dafür viel Verzicht, die Ruhe nach dem Sturm, nicht der Schreckensruf angesichts des Untergangs. Da ist das Gefühl, als habe das Schreckliche schon stattgefunden. So als läge die Zukunft hinter uns, nicht vor uns. Und die Vergangenheit vor unseren Füßen. Wenn etwa Christoph Meckel schreibt:
"Tag des Zitronenfalters, Tag des Kuckucks
und der Vogelrufe – willkommen im Jahr der Asche.
Staub, Qualen, Rauch und fliegende Asche,
verschließt die Räume, der Sommer kommt nicht zurück."...
Ob dieser oder kein Sommer je wiederkommt, bleibt in im Ungewissen. Ob dieser Sommer in der Vergangenheit lag oder noch kommen wird ebenso.
Nichts ist zu gering. Angesprochen wird mit "du" nicht mehr nur der Mensch. Die Welt aus der Insektenperspektive ist erst recht ein Paradies für die Fantasie, ein unerschöpfliches Reservoir an Gestaltmöglichkeiten, die nach dem Dichter geradezu verlangen, als hätten sie immer schon auf ihn gewartet. Das Dichten und Lesen wird aber auch zu einer Demutsübung gegen die kosmische Hybris des Menschen. Dazu lädt dieser Band ein, der im Rahmen der "Willkommen im Anthropozän"-Ausstellung des Deutschen Museums in München entwickelt wurde.
Er offeriert eine neue Haltung des Menschen gegenüber dem, was ihn geformt hat und das ihn formt. Er öffnet Zeiträume. Fast alle wichtigen deutschsprachigen Dichter von Moderne bis Avantgarde haben mitgemacht. So entstand nebenbei ein Who-is-who der Gegenwartslyrik.
Anja Bayer und Daniela Seel (HG.): "Alles dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Anthologie", kookbooks Berlin 2016, 333 S, 22,90 Euro
3 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Anthropozän heißt der geologische Zeitabschnitt..." - nö, seit wann das denn? Und ab wann denn nun, Neuzeit oder industr. Revolution oder wann?
Simone Guski am Permanenter Link
Es gibt Wörter, die entwickeln ob ihrer Ausdruckskraft ein Eigenleben unabhängig von institutionellen Vorgaben (und die kriegt auch keiner so schnell wieder aus der Welt).
Hans Trutnau am Permanenter Link
Das mag schon sein.
Nichtsdestotrotz heißt der gegenwärtige geologische Zeitabschnitt Holozän (das "völlig Neue"); das passt doch und reicht bislang völlig.