Anthroposophische Apokalypse: Die Oper Leipzig zeigt "Der Sturz des Antichrist"

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Szene aus der Inszenierung "Der Sturz des Antichrist" der Oper Leipzig.

Die Oper Leipzig führt die selten gezeigte anthroposophische Weltanschauungsoper "Der Sturz des Antichrist" von Viktor Ullmann auf und – eine echte Premiere! – begleitet die Aufführung mit einem kritischen, wissenschaftlichen Symposium. Einer der Referenten ist der Religionsphilosoph Ansgar Martins1. Sein mit Genehmigung der Oper Leipzig beim hpd veröffentlichter Programmheft-Text bietet einen tiefen Einblick in die Zukunftsängste und -hoffnungen der Anthroposophie nach dem Tod ihres Propheten Rudolf Steiner. Und wir erleben den Einsatz der anthroposophischen Wunder-Waffen gegen die tödliche nationalsozialistische Ideologie2: apokalyptische und zahlenmagische Spekulation.

Nach dem Ersten Weltkrieg erfreuten sich esoterische und alternativ-religiöse Reformbewegungen einiger Beliebtheit. Gerade Intellektuelle und Künstler suchten bei kosmischen Heilslehren und selbsternannten Propheten nach groß klingenden Antworten auf die Krisen ihrer Zeit. Eine damals wie heute beliebte "Weltanschauung" war die "Anthroposophie" des Philosophen Rudolf Steiner (1861–1925), der beanspruchte, Christ, Hellseher und Wissenschaftler zu sein. Steiner versprach seinen Anhängern direkten Kontakt zu den spirituellen Mächten, die das Universum und das individuelle Schicksal lenkten. Durch eine besondere "Schulung" des Denkens wollte er die Menschen lehren, zu "Schauen", was in "höheren Welten" und Dimensionen vorgeht. So exzentrisch das alles anmutet, so gewöhnlich war es doch: Okkultes blieb im Kulturleben des 20. Jahrhunderts zutiefst verankert. Auch musikalische Lehrer Ullmanns, wie Schönberg und Alois Haba, hatten sich innig mit solchen esoterischen Lehren auseinandergesetzt.

Dass Ullmann nach 1933 die Oper zu "Der Sturz des Antichrist" schrieb, war sein öffentliches Bekenntnis zu Steiners "Schulungsweg". Die "dramatische Skizze", die er als Libretto übernahm, hatte der mit ihm befreundete Vorsitzende der Anthroposophischen Gesellschaft geschrieben: Albert Steffen. Die erste Fassung verlas Steffen 1928 am "Goetheanum" – der Zentrale der "Bewegung" in Dornach bei Basel – vor der versammelten anthroposophischen Elite. Jeder einzelne Satz des Textes und sogar der Regieanweisungen spielt auf deren Überzeugungen an. Alle auftretenden Figuren verkörpern Prinzipien, die Anthroposophen als real existente kosmische "Wesenheiten" verstehen. An manchen Textstellen geht es direkt um den hier "großer Lehrer" genannten Steiner. So enttarnt sich der Gefängniswärter im zweiten Akt als dessen persönlicher Schüler. An anderer Stelle träumt der Künstler, wie seine Brüder, Techniker und Priester um die Urne des Meisters streiten. Tatsächlich hatte es nach der Einäscherung Steiners 1925 Konflikte um den adäquaten Aufstellungsort seiner Urne gegeben. Der Sturz des Antichrist ist nicht zuletzt der Versuch des Dichters Steffen, im Medium der Kunst die zerstrittene Weltanschauungs-Gemeinschaft zu maßregeln, der er vorstand.

Der Gefängniswärter, der einzige, der den "großen Lehrer" noch direkt kannte, ist ein Greis, weil Steffen die Handlung des Stücks am Ende des 20. Jahrhunderts ansetzte. Dann muss(te) die Menschheit sich laut Anthroposophie mit einem bösen Widersacher auseinandersetzen. Steiner hatte über das "Wirken" unglaublich vieler übersinnlicher "Wesenheiten" berichtet. Die wichtigste war Christus, den er als "Sonnenwesen" und innersten Kern des menschlichen "Ich" identifizierte. Die Erkenntnis des inneren Christus ist das zentrale Thema in Der Sturz des Antichrist. Auf der Bühne vollzieht sich für Steffen ein "Einweihungs"-Prozess. Der Künstler gelangt sozusagen zur anthroposophischen Erleuchtung und das Publikum selbst soll an diesem Vorgang geistig teilhaben. Dem Antichrist kann allein der Künstler widerstehen, weil er sich zum christlichen "Wort", dem Logos vom Anfang des Johannes-Evangeliums, bekennt. Im finsteren Kerker des zweiten Akts kommt er unter der Anleitung des Wärters zu der höheren Erkenntnis, dass und wie genau sein "Ich" zu Christus und im All steht. Konsequenterweise stürzt im dritten Akt keine äußere Handlung den dämonischen Despoten. Er muss, so meinte Steffen, nur erkannt und entlarvt werden, dann endet seine Herrschaft. Das Raumschiff, mit dem er die Erde von den kosmischen Kräften trennen will, zerbirst und begräbt ihn. Aus dem Raumschiff heraus konnte zuvor aber auch der Techniker in der Sonne Christus erblicken.

Der Dämon des Regenten tritt dem Künstler nicht allein gegenüber. Techniker und Priester verfallen nämlich rasch ihrem jeweiligen bösen Geist. In diesen beiden Dämonen veranschaulichte Steffen zwei anthroposophische Hauptfiguren. Das Gespenst der Technik heißt bei Steiner Ahriman: der steht für Dunkelheit, Materialismus und Intellekt. Sein Ziel ist es, die Menschen um jeden Preis vom Spirituellen fernzuhalten. Der falsche Engel des Priesters heißt Luzifer und will das genaue Gegenteil: Luzifer ist für Steiner ein Irrlicht, eine nicht-anthroposophische und schädliche Art der Erleuchtung. Christus strahlt dabei in der Mitte von Ahriman und Luzifer. Er bannt beide, indem er ihre Gegensätze integriert, genau wie Steffens Künstler zwischen Techniker und Priester vermittelt.

Steiner kannte noch mehr böse Geister. In verstreuten Bemerkungen seiner Vorträge gab es etwa noch die Asuras, die Ende des 20. Jahrhunderts den "Kulturtod" bringen konnten. Oder den "Sonnendämon" Sorat, der nur alle 666 Jahre aufsteigt – mit dieser Zahlenangabe spielte Steiner auf das Große Tier 666 aus der christlichen Johannesapokalypse (Offb. 13,18) und den spätmittelalterlichen Okkultisten Agrippa von Nettesheim an. All diese Figuren fasst Steffens Antichrist zusammen. Die anthroposophische Dämonologie erklärt auch, warum das Stück zunächst am Ende des 20. Jahrhunderts spielen sollte. Im Jahr 1998 (= 3 x 666) drohte nicht nur die nächste Manifestation Sorats; öfter als vor Sorat hatte Steiner davor gewarnt, dass sich um 2000 die "Inkarnation Ahrimans" ereigne. Laut Anthroposophie nehmen die Menschen an der Weltgeschichte durch Wiedergeburt und Karma teil. Zu bestimmten Zeiten komme es auch vor, dass höhere Wesen in einem menschlichen Leib erscheinen, Christus zum Beispiel. Zweitausend Jahre nach Christus ist Ahriman dran und kann nur durch die anthroposophische Geist-Erkenntnis besiegt werden. 

Im Verlauf des Jahres 1933 gelangte Steffen dann allerdings immer mehr zu der Überzeugung, er habe 1928 intuitiv Hitler vorweggenommen. Auch in diesem Jahr betonte er zwar öffentlich, "Der Sturz des Antichrist" beziehe sich "nicht auf die unmittelbare Gegenwart". Aber er ließ das Stück an Karsamstag 1933 in Dornach uraufführen. In seinen Tagebüchern zitierte er dazu den "großen Lehrer". Steiner hatte im September 1924 über den sogenannten Bielaschen Kometen spekuliert, der im Jahr 1933 wieder am Himmel erwartet wurde. Dieser Himmelskörper sei das materielle Pendant zu dem zweigehörnten Tier aus der Offenbarung des Johannes. Zusammen mit dem Kometen werde 1933 also auch das Große Tier 666 aus dem Weltraum in den geistigen Orbit der Erde eintreten. Wenn sich die Menschheit dann nicht mit Christus auseinandersetze, so Steiner, "bestünde die Möglichkeit, daß die Erde mit allem, was auf ihr lebt, zugrunde ginge".

Steffens Tagebücher aus der Zeit der Proben belegen, dass er Steiners dämonologische Prognosen auf Hitler übertrug und glaubte, es sei vor allem sein eigener Job, ein solches Übel spirituell niederzuringen. Denn Hitler, der "es zulässt, dass Millionen den Eid auf seine Gefolgschaft schwören, und der Vorsitzende der Anthroposophischen Gesellschaft sind derzeit die grössten Gegensatze, die denkbar sind. […] Hitler kehrt zur Rasse zurück. Der Anthroposoph überwindet sie. Bei ihm Blut. Bei uns Geist." Die Konzentration auf "Blut" setzte Steffen dabei mit dem Ziel gleich, die "geistige" Seite des Menschen auszulöschen. Den Antichrist bringt letztlich der Umstand zu Fall, dass der Künstler dessen Wesen im Geiste erkennt. Genauso sah Steffen sein Verhältnis zu Hitler. Vermittelt durch die Aufführung des Stücks glaubte er, die Nazis durch ein übersinnliches Kräftemessen stürzen zu können. Dass der Nationalsozialismus nicht vor Gebeten oder Sakralkunst die Waffen streckte, sondern militärisch besiegt werden musste, konnte innerhalb dieses esoterischen Systems nicht gedacht werden.

Die Diktatur im Stück von 1928 scheint eher noch eine sozialistische zu sein. Der Regent hat einen internationalen "Völkerbund" und "Einheitsstaat" initiiert und er erschafft Brot aus Steinen – aus anthroposophischer Sicht eine Anspielung auf den gefürchteten "Materialismus". Erst 1933 interpretierte Steffen das Stück und sich selbst mit Blick auf Hitler neu. Er heiratete eine Jüdin, aber ging gegen Antisemitismus unter Anthroposophen kaum offen vor – das Böse sollte ja innerlich überwunden werden.

Vor allem wegen Steffens Textvorlage blieb Ullmanns Oper umstritten. Seine Biographin Verena Naegele urteilte drastisch: "Zum Lehrstück fehlen dem Antichrist die innere Distanz, zum Bühnenstück wichtige dramaturgische Gesetzmäßigkeiten wie Liebeskonflikte, Kämpfe, Schuld oder Siege." Über die – allerdings nie öffentlich gezeigte – Inszenierung von 1935 schrieb sogar der Anthroposoph Jan Dostal: "Keine Person des Stücks, der Künstler ausgenommen, macht eine innere Entwicklung durch." Der Tod des Regenten durch sein Raumschiff sei kein "überzeugende[s]" Ende, sondern eine "Deus ex Machina"-Lösung. "Außerdem entdeckte ich keine politischen Verbindungslinien zwischen dem Stück und dem Geschehen im nazistischen Deutschland." Diese Themen habe Ullmann erst in seiner im Konzentrationslager Theresienstadt komponierten Oper "Der Kaiser von Atlantis" konfrontiert.

Das Problem an Steffens Stück ist, dass er die okkulten Inhalte eins zu eins als Bühnenhandlung benutzen will und damit den Rahmen einer "dramatischen Skizze" überfrachtet. Dem arbeiten aber unabsichtlich übertriebene Details des Stücks entgegen: zum Beispiel, dass Steffen Steiners Ansichten über die "Kulmination" am Ende des 20. Jahrhunderts ausgerechnet in einem aparten Raumschiffs-Szenario umsetzt. Diese unfreiwillig komische Konkretisierung bringt die religiöse Erziehungs-Ästhetik des Stücks von innen her zum Platzen. Ullmanns Vertonung kommt dieser Tendenz (ob er das wollte oder nicht) durch die Unanschaulichkeit des musikalischen Ausdrucks entgegen. Die Eigenlogik des Klangs bricht die starre Steinersche Typenlehre auf – erst durch die Intervention der Musik wird das Werk zu Kunst im engeren Sinne.


1Interview mit Ansgar Martins beim hpd: "Anthroposophie und Antisemitismus"

2Das Verhältnis der Anthroposophie zum Nationalsozialismus ist ein Forschungsschwerpunkt des Historikers Prof. Peter Staudenmaier, dazu eine von ihm durchgesehene Kurzzusammenfassung: "Anthroposophie und Nationalsozialismus: 'Die Waldorfschulen erziehen zur Volksgemeinschaft'"

Dieser Text wurde erstmalig veröffentlicht im Programmheft der Oper Leipzig "Der Sturz des Antichrist" unter dem Titel "Ich-Erkenntnis, Weltraumtechnik und die Apokalypse. Viktor Ullmanns/Albert Steffens Der Sturz des Antichrist (1928/1935) als esoterische Science Fiction-Oper". Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Oper Leipzig.

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