Bibel reloaded? Über den Versuch, das Alte Testament der Philosophie zu empfehlen

Pünktlich vor Weihnachten erschien die Sonderausgabe des "Philosophischen Magazins": "Die Bibel und die Philosophen". Der Fokus liegt auf dem Alten Testament. Die Chefredakteurin dieser Sonderausgabe, Catherine Newmark, will dem Leser das Alte Testament als "ungeheuer bezugsreichen Denkraum" ans Herz legen, als einen "Raum für Philosophie". Dies sei, so Newmark, erst durch die Bibelkritik der Neuzeit möglich geworden. Denn die Bibel ist heute "mehr", als "nur eine Heilige Schrift für Gläubige". Sie sei eine Fundgrube "spannender" Geschichten, in denen beispielsweise "ein Vater seinen einzigen Sohn opfern soll".

Es ist noch nicht lange her, dass die Bibelkritik der Gegenwart auf die zum Teil katastrophalen Botschaften der "spannenden Geschichten" gerade des Alten Testaments hingewiesen hatte. Beispielsweise mit dem Buch Franz Buggles: "Denn sie wissen nicht, was sie glauben". Hatte man geglaubt, die Philosophie miede nun solch problematische Denkräume, so wird man durch das Anliegen der Sonderausgabe eines anderen belehrt. Nicht nur, dass eine ähnlich deutliche Bibelkritik hier nicht zu finden ist. Nein, nun heißt es: "Nach(!) der Bibelkritik" seien die Texte der Bibel "mehr"(!), als "nur" religiöse Texte. 1

Geschichtlich haben wir Anteil an einem historischen Experiment. Die kulturelle Globalisierung durchmischt ehemals getrennte Traditionslinien. Friedlich gestaltet sich das kulturelle Mit- und Durcheinander nur, wenn wir unsere Gemeinschaft als offene Gesellschaft begreifen und ihre Spielregeln lernen. Der modernen Philosophie kommt hierbei eine wesentliche Aufgabe zu. Wir waren bisher gewohnt, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften die moralischen Leitplanken setzen, die Gemeinschaft braucht. Allgemeinverbindlich wird dies zukünftig nicht mehr möglich sein. Es sei denn, wir verfallen erneut dem religiösen Absolutheitsanspruch, dass eine Religion ihr Evangelium allen Völkern in göttlichem Auftrag zu lehren habe. Das allerdings wäre wohl auf friedlichem Wege nicht durchsetzbar. Denn heilige Texte sind immer nur für ihre jeweilige Glaubensgemeinschaft von verbindlicher Bedeutung, ob Bibel, Koran oder die Offenbarung jedweder anderen Religion. Philosophie, die ihren Namen verdient, ist der Vernunft verpflichtet, die wiederum allen Menschen in gleicher Weise zugänglich ist. Damit kommt ihr eine kulturübergreifende Aufgabe zu, die auch aufgeklärte Gläubige akzeptieren.

Susan Neiman: Warum Philosophen die Bibel lesen sollten

Es bräuchte sehr gewichtige Argumente, um religiös aufgeladene Texte wie das Alte Testament der besonnenen Philosophie zu empfehlen. Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman übernimmt in der Sonderausgabe die Aufgabe, den Leser davon zu überzeugen, "warum Philosophen die Bibel lesen sollten".

Der Erwerb grundlegender Bibelkenntnisse steht dabei nicht zur Debatte. Es ist banal, dass man die Kulturgeschichte der westlichen Welt ohne Minimalkenntnisse der biblischen Geschichten nicht verstehen würde. Darauf weist Neiman eingangs hin. Doch muss sie zugeben, dass man die Philosophie im 20. Jahrhundert strikt vom Glauben getrennt hat. Und das ist gut so. Warum also das Alte Testament erneut als "philosophisches Werk" lesen?

Als Beispiel für diese ihre Empfehlung verweist Neiman einerseits auf die Geschichte der Beinahe-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham auf Gottes Befehl und andererseits auf die Geschichte von Abrahams Versuch, Gott von der grausamen Vernichtung Sodom und Gomorrhas abzubringen, wenn sich denn nur zehn Gerechte fänden, was ihm in dieser Geschichte bekanntlich nicht gelang. "Zwei Grundströmungen" in "allen drei großen monotheistischen Religionen" spiegeln sich, so Neiman, in diesen beiden Geschichten. Für die einen heißt Glauben entsprechend der Abraham-Isaak Geschichte, "Gott absoluten Gehorsam entgegenzubringen. Sogar da, wo seine Befehle gegen die Ethik verstoßen." Die andere Strömung, für die die Sodom-und-Gomorrha-Geschichte steht, ist der Auffassung: "Gott hat uns unsere Vernunft gegeben und er ist der Meinung, wir sollten sie nutzen. ... Letztlich geht Ethik vor Religion."

Es ist erfreulich und sicher eine Frucht der Aufklärung, dass religiöse Mitbürger unseres Kulturkreises sich heute weitgehend der zweiten und seltener der ersten Grundströmung verpflichtet fühlen. Mir ist allerdings noch nicht zu Ohren gekommen, dass wir diese aufklärerische Leistung einer intensiven Auseinandersetzung mit der Sodom-und-Gomorrha-Geschichte verdanken. Das doch eher dem berühmten Wahlspruch der Aufklärung, sich "seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen". Nur eine säkulare Philosophie kann Vernunftorientierung vermitteln. Wer sich darüber hinaus religiös verortet, wird in seinen heiligen Texten sicherlich Passagen finden, die diese Haltung legitimieren, sei es im Alten Testament oder im Koran oder in einer anderen heiligen Schrift. Aufgeklärtes Bibelstudium sollte man aufgeklärten Theologen überlassen, um diese Botschaft in ihre Gemeinschaften zu tragen. Aber sollten deshalb auch Philosophen sich bevorzugt Bibelinterpretationen widmen? Und warum die Bibel und nicht auch den Koran, die Bhagavad Gita, die Reden des Baha’ullah oder die Schriften Blavatskys?

Eine Antwort Neimans auf diese Fragen lautet, dass es darum gehen muss, den "Graben zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen zu überwinden". Hier seien "säkulare Denker" viel näher am "Fundamentalismus dran", als "gemäßigt religiöse Sozialdemokraten". Solche Worte haben keinen guten Beigeschmack, wenn man bedenkt, wie schwer es Arbeitskreise in der deutschen Sozialdemokratie haben, die für eine konsequentere Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion eintreten. Was bekanntlich eine conditio sine qua non der demokratischen Staatsform einer offenen Gesellschaft darstellt!

Grotesk wird es, wenn Susan Neiman abschließend ein Loblied auf Papst Franziskus anstimmt und das, wie sie bemerkt, als Jüdin! Jede Religion habe "zwei Hauptstränge": Der eine "hat mit Sex zu tun: wer mit wem schlafen darf, wer seinen Körper wie bedecken sollte und so weiter". Der andere sei an "sozialer Gerechtigkeit interessiert: wie wir mit Witwen und Waisen umgehen". Das Bedeutende an Franziskus: Er "hat nun ganz eindeutig gesagt: Was wichtig ist, ist die soziale Gerechtigkeit. Das mit dem Sex ist nicht so zentral". Erschreckend, wenn es für diese Gewichtung eines aufgeschlossenen Papstes bedarf! Noch erschreckender die Befürchtung, dass wieder andere, weniger aufgeschlossene folgen könnten.

Wenn das die Erträge einer Philosophie sind, die sich im "ungeheuer bezugsreichen Denkraum" Bibel bewegt, dann kann man nur hoffen, dass sich viele Philosophen die Zeit der Bibellektüre sparen für tiefer schürfende Texte, wie beispielsweise die Werke, die den Renaissance-Humanismus inspirierten oder die Werke der Aufklärung. Und das gilt nicht nur für Philosophen an den Universitäten, das gilt besonders auch für die Inspiration der heranwachsenden Generation in unseren Schulen! Solange es keinen allgemeingültigen Philosophieunterricht für alle und stattdessen einen Religionsunterricht gibt, der die Schülerschaft in ihre konfessionellen Gruppierungen spaltet, wird die Philosophie ihrer Aufgabe für eine offene Gesellschaft nicht gerecht.

Und solange man lobhudelnd die Bibel empfiehlt ("Die Bibel erinnert uns an den Geist der Sanftmut", "Die Bibel beschleunigt die Bewegung, die uns eine Welt ohne Gewalt bringt", Emmanuel Lèvinas) 2, so lange wird man einen Aspekt der biblischen Wirkgeschichte nicht etwas entgegensetzen können, der in der Sonderausgabe immerhin Erwähnung findet. Schon Baruch de Spinoza wies 1670 in seinem "Theologisch-politischen Traktat" darauf hin, dass die Bibel ein Werk sei, das "vor allem politische Macht begründet" 3. Denn natürlich ist die Bibel, wie alle einflussreichen Bücher, geschichtlich bedeutungsvoll und bietet Anknüpfungspunkte für philosophisches Denken: Sie ist und bleibt aber ein religiöses Buch, mit dem kulturelle Machtansprüche legitimiert werden. Genau das aber ist eine der Gefahren für eine offene Gesellschaft. Es sollte Aufgabe der modernen Philosophie sein, hier ein Gegengewicht zu schaffen: Denkräume, die unabhängig davon sind, welcher religiösen Gruppierung der Einzelne angehört. Da bergen die Philosophien aller Länder mehr als genug Schätze, als dass es von Nöten wäre, erneut mit der Bibel hausieren zu gehen.

Theologie versus Metaphysik

Die Bibel wäre nicht die Bibel, ginge es hier nicht um Sein und Wirken des Allerhöchsten, um Gott. Und so wird in der Sonderausgabe munter drauf los fabuliert, wie man sich Gott vorzustellen habe und welche Eigenschaften ihn auszeichnen. Christoph Markschies, Professor für alte Kirchengeschichte, weiß beispielsweise, dass Gott zwar "einen Körper hat, aber kein Geschlecht" 4. Und von der promovierten Philosophin und systematischen Theologin Saskia Wendel erfahren wir, dass "Gott in seiner Liebe und seiner Vollkommenheit gesagt (hat), ich will, dass ein anderes sei, und ich will mich daran binden." 5 Dass er ein "geschichtsmächtig handelnder Gott sei", der mit "dem Volk Israel interagiert". 6 (Warum eigentlich nur mit diesem Volk?) Sie ist sich zudem sicher, dass zur Gottesvorstellung die "Vorstellung der Moralität Gottes" gehöre, dass Gott "eben auch eine Verantwortung übernimmt, die unwiderruflich ist" 7. Man fühlt sich in die heimelige Kinderstube zurückerinnert – aber war da nicht noch die Sache mit der Theodizee? Die Frage, wie denn nun das so offensichtliche Leid in die Welt kommt, wenn ein allmächtiger Gott mit vollkommener Moralität geschichtsmächtig handelnd unwiderruflich Verantwortung für seine Schöpfung übernommen hat? Natürlich wird diese Frage in der Sonderausgabe beantwortet, war sie doch nach Susan Neiman bis Ende des 19. Jahrhunderts "das Herz der Philosophie" 8. Zum Beispiel auf Seite 87 ganzseitig mit einem Zitat von Thomas von Aquin: "Denn das Übel wäre nicht, wenn die Ordnung des Guten nicht bestünde, dessen Beraubung das Übel ist. Diese Ordnung wäre aber nicht, wenn Gott nicht wäre." 9 Offensichtlich hat Thomas von Aquin nicht besonders überzeugt, sonst wäre die Theodizee nicht so lange "Herz der Philosophie" geblieben.

Es ist nicht nur erlaubt, sondern notwendig die Frage zu stellen, ob es jenseits objektiver Empirie noch ein Sein gibt und wie diese gegebenenfalls mit der wahrnehmbaren Welt zusammenhängt. Solche metaphysischen Fragen waren immer ein wesentlicher Raum philosophischen Denkens. Allerdings: Metaphysik sollte nicht mit Theologie verwechselt werden! Man muss sich immer im Klaren sein, dass ein Nachdenken über Inhalte, die sich unserer objektiven Erfahrung entziehen, ein hohes Maß an intellektueller Redlichkeit einfordert. Heilige Bücher sind daher grundsätzlich problematisch, denn sie sind für die Gläubigen Teil ihrer sozialen Identität und aus ihrer Sicht göttliche Offenbarungen, für anders oder nicht Glaubende hingegen kaum von Bedeutung. Die Theologie ist mit ihren jeweiligen heiligen Textquellen untrennbar verbunden, denn der "Theo" ist kein empirischer Untersuchungsgegenstand – entweder weil Gott nicht existiert oder weil er sich vor uns zu verstecken gedenkt. Daher gibt es nur verschiedene "Theo-Vorstellungs-logien", die sich aus der unterschiedlichen Interpretationsgeschichte der heiligen Texte ergeben haben. Katholische Theologie, evangelische Theologie, islamische Theologie und so fort. Ein christlicher Theologe ist demnach ein Bibelinterpret, ein islamischer einer des Korans. Aber wer entscheidet, ob wir nicht besser die Bhagavad Gita, die Vorträge R. Steiners, oder vielleicht noch besser indianische Mythen interpretieren sollten, um eine angemessene Vorstellung von "Gott" zu erhalten?

Die Metaphysik bedarf keiner heiligen Schriften. Auch wenn sich die Fragen oftmals bescheidener geben, als wissen zu wollen, was vor dem Anfang war und nach dem Ende sein wird. Man denke beispielsweise an das Bieri-Trilemma, das auf das Verhältnis von Sein und Bewusstsein zielt. Es ist ein verbreiteter theologischer Kurzschluss zu meinen, dass Theologie, Religion und Glaube da anfängt, wo die Naturwissenschaft aufhört.

Dem Appell der Sonderausgabe, die Bibel den Philosophen als Denkraum zu empfehlen, sei daher entgegengehalten: Überlasst die unkritische Bibelinterpretation den Theologen. Besinnt euch auf den reichen Schatz philosophischer Lektüre gerade, wenn es um metaphysische Fragen geht! Und wichtiger noch: Achtet darauf, dass ihr die Grenze zwischen Theologie und Philosophie nicht verwässert! Denn in Zeiten schwindenden Glaubens und verwischender religiöser Zugehörigkeit benötigen wir vernunftbasierte Orientierung: in der Gesellschaft und in den Schulen!


  1. Sonderausgabe des Philosophie Magazins "Die Bibel und die Philosophen", S. 3. ↩︎
  2. Seite 61 ↩︎
  3. Seite 69 ↩︎
  4. Seite 78 ↩︎
  5. Seite 13 ↩︎
  6. Seite 12 ↩︎
  7. Seite 12 ↩︎
  8. Seite 6 ↩︎
  9. Seite 87, Thomas von Aquin: "Summa contra gentiles" ↩︎