Rezension

Bloßes Leben

Von seinen Fans mit Spannung und Vorfreude erwartet, legt der – nach Eigendefinition – "Schreiber, der nebenbei reist" Andreas Altmann sein 23. Buch vor, das, wie zahlreiche vorherige, die Voraussetzung erfüllt, Bestsellerstatus zu erlangen. In einer Auswahl besonderer Reportagen versteht es der mit bedeutenden Literaturpreisen und Auszeichnungen bedachte Autor, ein spannendes, überaus buntes Kaleidoskop intensiver Erfahrungen und Momente sowie unmittelbarer Betroffenheit, verbunden mit den verschiedensten Erscheinungen menschlichen, oft allzumenschlichen Verhaltens anschaulich und mitfühlend zu vermitteln. "Bloßes Leben" ist ein Buch, das man nicht leicht aus der Hand legt, das man nicht "nebenbei" liest, das man nicht, ohne berührt, ohne bewegt zu sein, "konsumiert".

"Ich poche auf mein analoges Leben, das keinen Wert darauf legt, rundum 'connected' zu sein. Ich will auf die Welt glotzen und nicht auf ein handtellergroßes Display, ich will nicht zermalmt werden von Geschwätz, das durch den Cyberspace wabert."

Gnadenlos mit sich selbst, schonungslos mit seinem Körper und seinen Empfindungen, bietet Andreas Altmann in bildmächtiger, überaus ausdrucksstarker Sprache, mit scharfer, radikal ehrlicher Beobachtungsgabe, Berichte von ungewöhnlichen Orten, Landschaften, Ereignissen, Erlebnissen und vor allem von Begegnungen. Von Begegnungen, die erstaunen, berühren, anziehen, nicht selten auch abstoßen, faszinieren: Beispielsweise auf der "Route 66" in Amerika, auf dem gnadenlos schrecklichen Pilgerpfad zum heiligen Penis Shivas im Himalaya, in Mexiko bei der Befreiungsarmee der Zapatisten, in Ladakh bei der Suche nach den wertvollsten Ziegen der Welt, mit "Stendhal-Syndrom" angesichts der Schönheit Islands und seiner "literaturnärrischen" Bewohner, mit kühler Beobachtung der berühmten Pferderennen in Chantilly, als Erleidensweg am "Bärenweg" in Finnland, mit kritisch anteilnehmenden Impressionen aus Kirgistan ("Die von Akajew ausgerufene Seidenrevolution reibt wund wie Holzfäller-Toilettenpapier"), beim Eintauchen in den Zauber und die von den Zusehern vergeblich erhoffte Frivolität des Lido in Paris, bei der Beschreibung der "Bibliotheca Alexandrina als Leuchtturm im Meer namenloser Ignoranz" etc. etc. – 31 Reportagen quer über den Globus erschließen neues Wissen und neue Horizonte, wecken Neugier, Empathie, zuweilen auch Abscheu und lassen in großartiger Sprache die Welt besser verstehen.

Cover

Unter sechs Rubriken – von "Schöne Welt" bis "Aussichtslose Welt" – spiegeln die Berichte die authentisch gewonnenen Weltsichten des Autors mit Glanzlichtern des Schönen, mit hoch anstrengenden Herausforderungen, mit Entdeckungen des Geheimnisvollen und Rätselhaften, das man nicht glaubt, wenn man es nicht selbst erfahren hat und nicht zuletzt auch mit Gefühlen der Aussichts- und Trostlosigkeit angesichts der Absurditäten und Tollheiten des Homo sapiens wider. "Bloßes Leben" in mehreren Varianten; brutal, wenn Menschen nichts als das nackte Überleben bleibt, sehr schwer erträglich, wenn Menschen im Zustand körperlicher Hilflosigkeit leben müssen und, für den Autor am wichtigsten: "Bloßes Leben als Ausdruck äußerster Innigkeit. In den 31 Geschichten passieren immer wieder Momente, die deshalb so intensiv sind, weil sie nichts anderes benötigen als die Bereitschaft, diese Augenblicke zu leben. So ein ultimatives Jetzt, das absolute Wissen, dass der Zauber, der kleine oder größere Rausch, nur Wert hat, wenn man von Anfang bis Ende dabei ist."

Reisen mit Andreas Altmann bedeutet eintauchen, "dass einen gerade das verheerend grandiose Gefühl durchflutet, unverbrüchlich anwesend zu sein: herzflimmernd und mittendrin". Der Autor lässt die Welt mit neuen, anderen Augen erleben; extrem dicht, gleichzeitig aber auch minimalistisch leicht. Worte und Sätze zu Kunstwerken geformt, intelligent, feinfühlig und humorvoll. Dazu eingestreut, beziehungsweise vorangestellt, brillante Zitate wie "Alles beginnt mit der Sehnsucht" von Nelly Sachs und "Wir werden alle sterben, jeder von uns, was für ein Zirkus. Das allein sollte uns dazu bringen, zu leben, zu lieben…." von Charles Bukowski.

Andreas Altmanns Beschreibungen enthalten Anekdotisches, gehen darüber aber weit hinaus; sie veranschaulichen nicht nur Erlebtes und berichten von besonderen Begegnungen, an denen er teilhaben lässt, sondern beleuchten mit scharfer Beobachtung auch das jeweils Dahinterliegende, das sich oftmals nicht direkt Erschließende. Seine Methode, die Welt und vor allem interessante Menschen in möglichst vielen Facetten kennenzulernen, beruht auf Zufall, gepaart mit Intuition: "Oft mache ich nichts, stehe nur herum, provozierend herum. Bis jemand anbeißt, mich anspricht, und ich ihn einlade zum Beichten. Der Mensch berichtet und ich höre zu. Je inniger das Zuhören, desto radikaler die Beichte."

"Bloßes Leben" vermittelt Teilnahme an außergewöhnlichen wie auch alltäglichen Begebenheiten und erzählt von den Schicksalen, Freuden, Leiden, Siegen und Niederlagen unterschiedlichster Männer und Frauen: "Ach, wie ich Geschichten von starken Frauen und Männern liebe. Die nicht aufgeben, die so lange kämpfen, bis sie das Leben gefunden haben, das sie wollen." Wie sich aus dem Text ergibt, stammen die Reportagen aus Unterlagen bereits länger zurückliegender Reisen. Was ihren Wert und den Lesegenuss nicht mindert, ein Hinweis auf den jeweiligen Zeitpunkt wäre allerdings vorteilhaft gewesen.

"Ich wünschte, jedes meiner Bücher taugte so nebenbei als Aphrodisiakum. Man liest es, man schluckt es, und nach spätestens einer halben Stunde regt sich die Lust. Aufs Leben." Dieser Wunsch wird für die allermeisten Leserinnen und Leser in Erfüllung gehen.

Andreas Altmann, Bloßes Leben – Reportagen, Piper Verlag, München, 2022, 302 Seiten, 17,00 Euro, ISBN 978-3-492-06246-6

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