Anmerkungen zur Leipziger Buchmesse

Von Büchern und Menschen – und einem Islandpferd

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Das Blaue Sofa auf der Leipziger Buchmesse 2019
Das Blaue Sofa

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Der Literaturexperte und Kulturkenner Thomas Hocke hat die Leipziger Buchmesse besucht. Ihn fasziniert das Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion, das ihm an vielen Orten des Events begegnete. Außerdem führte er Gespräche mit der schreibenden Kinderärztin Julia Dessalles, dem Bestseller-Autor Sebastian Fitzek und dem bekannten DDR-Liedermacher Wolf Biermann. Für den hpd schildert er seine Eindrücke.

Kaum hat man draußen vor den Toren Leipzigs die Hallen auf dem Messegelände betreten, wähnt man sich im Lande der Phantasmagorien, so voll ist es von Menschen in den verschiedensten Kostümen – nicht nur Teenager sind darunter, auch die Altersgruppe bis dreißig gefällt sich in Verkleidungen. Man kann das belustigend oder seltsam finden, doch diese Farbtupfer mischen das "normale" Publikum auf. Und der Erfolg – die Messe spricht von über 100.000 Besuchern allein dort – spricht für sich. Ob der ersehnte Nebeneffekt, diese Altersgruppen könnten auch die anderen Messehallen besuchen, weil sie  mit ihren Verkleidungen ja kostenlos hineinkommen, funktioniert, erfährt man nicht.

Jedenfalls wurden auch dort noch fast 300.000 Leute gezählt. Dazu kamen im Rahmen von "Leipzig liest", das auf die stattliche Summe von 3.400 Veranstaltungen kommt, noch etliche tausend Hörer hinzu – das hätte sich damals vor zwei Jahrzehnten der Initiator Theo Schäfer von Bertelsmann niemals erträumt, dass es solch ein Erfolg wird, hatte er doch damals gerade sieben Veranstaltungen konzipiert.

Tempora mutantur, nos et mutantur in illis, um ein geflügeltes Wort zu strapazieren, aber das zeigt sich eben augenfällig an der bunten Szene in den Hallen. Zugegeben, ich hatte mich damals immer vornehmlich um belletristische Literatur im ZDF gekümmert, die Science-Fiction-Szene war mir aber nicht fremd, weil wir damals mit Anthony Burgess und Stanislaw Lem bei einer aspekte-Sendung live Vertreter dieser so phantasievollen Kunst eingeladen hatten, die auch von den Entstehungsprozessen ihrer Literatur erzählten – die Werke "Clockwork Orange" und "Solaris" dürften vielen Lesern oder Cineasten ein Begriff sein.

Wenn man wie in diesem Jahr unverhofft wieder mit der neuen futuristischen Szene, Science-Fiction oder Magie konfrontiert wird, stellt man verblüfft fest, was sich da alles an Möglichkeiten im Ausdruck getan hat. Fast fühlt man sich grinsend angesprochen vom Zombiemädchen aus dem Kapitel "Amygdala" aus Julia Dessalles "Rubinsplitter": "... heutzutage macht schon das Altersheim einen Ausflug auf das Monsterrockfestival".

Nicht, um Burgess oder Lem heranzuziehen, aber die Kombination von vielen Ausdrucksmöglichkeiten ähnelt sehr den Biografien der beiden Autoren: Beide sind sozusagen Multitalente. Der eine Komponist und Schriftsteller, der andere Arzt und Schriftsteller – nur um einige Fähigkeiten zu nennen, die man bei der jungen Autorin Julia Dessalles wiederfindet. Sie hat ihre Fangemeinde bisher mit drei Büchern ("Rubinsplitter") in Bann genommen. "Wenn Drachen fliegen" soll nicht unterschlagen werden, der Andrang beim Drachenmond-Verlag auf der Buchmesse war erstaunlich groß – und es waren wirklich nicht nur die jungen Leser.

Julia Dessalles, Foto: © Thomas Hocke
Julia Dessalles, Foto: © Thomas Hocke

Der Begriff Multitalent trifft auf sie genau zu. Auch sie, von Beruf Kinderärztin, Musikerin, Komponistin, an der französischen Grenze lebend, multilingual wie auch die beiden anderen erwähnten Autoren, sprüht von Energie, auch wenn sie manchmal fast zerbrechlich wirkt.

Wenn man sie fragt, weshalb sie schreibe, sagt sie lakonisch, es müsse einfach nur alles raus. So erklärt sich das Phänomen der auf vielen Ebenen agierenden Autorin, die offenbar mühelos die Ebenen (und Sprachen) wechseln kann. So erklärt sich auch das Eintauchen in die Phantasie, die Magie, wenn man diese Ebenen miteinander vermischen kann – auch das Biografische scheint ab und an aufzutauchen, wenn man sie persönlich fragt, so die Fassungslosigkeit ob des Verhaltens von Müttern, die beziehungslos, fast ablehnend zu den eigenen neugeborenen Kindern stehen. Die Wut, nichts dagegen machen zu können. Machtlos als Kinderärztin. Vielleicht ist das Unverständnis darüber auch eingegangen in die Zeichnung der Charaktere böser Protaganisten. A propos Zeichnung: Sie malt auch selbst, hoch professionell, so wie sie auch selbst komponiert, und die Beispiele auf ihrer Homepage sind erstaunlich musikalisch eingängig, die Texte allerdings dann wieder "futuristisch".

Wenn Julia Dessalles ihre Texte von magischen Elementen her komponiert und dann das Realistische einwebt, so macht das der Autor, der routinemäßig Bestseller schreibt, von der Struktur her völlig anders. Man braucht nicht unbedingt die Romane von Sebastian Fitzek zu nennen – die sind alle bekannt, auch von den Verfilmungen her und den auf der Bühne adaptierten Fassungen.

Interessant ist das Schreiben, ein "Übergang in die nichtmagische Welt", um noch ein Zitat von Julia Dessalles anzuführen: Wie strukturiert man einen Text, wie komprimiert man die verschiedenen Ebenen. Fragen an Sebastian Fitzek am Rande: Ausgangspunkt ist meist ein authentischer Fall, Vorfall wie zu Beispiel beim "Paket", das zufällig entstanden ist durch einen Paketzusteller, den Fitzek kennengelernt hat. Von da ab ergeben sich dann allerdings Zufälle, die er fiktional der Realität anpasst. Und darin liegt auch das Phänomen, so viel Erfolg zu haben: Die Leser erfahren in den Texten Gemeinsamkeiten, die auch ihnen widerfahren sind, vermischt mit so vielen Puzzleteilen, die man nicht erahnt hat. Dass man hinterher völlig verblüfft sagt, ach ja, das gehört zum Konzept – das geschickte Taktieren mit der Realität ist sein Geheimnis.

Wie denn das mit Kinderbüchern sei, konnte ich ihn auf der Buchmesse fragen. Angefangen habe auch das rein zufällig, weil er nämlich auf einer Reise Kinderbücher vergessen hatte, musste er, wie er das offensichtlich immer mit seinen Kindern zu Hause macht, schnell Geschichten erfinden. Dass ihm auch das gelungen ist, ist nachzulesen.

Zum Schluss der Anfang der Buchmesse für mich: Wolf Biermann und Uschi Brüning in der Leipziger Konzerthalle. Ein Fest für über 1.000 Menschen – die einen wollten ihn sehen, die anderen sie: Uschi Brüning ist eine – mehr in der DDR bekannte – Jazz- und Soulsängerin, Wolf Biermann – mehr im Westen bekannt als im Osten, behaupte ich – ein Liedermacher. Auch da verschwimmen heute ein wenig die Realitäten, wie ich im Gespräch mit Ur-Leipzigern erfuhr. Was daran noch Fiktion von heute ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

Als Jugendlicher in "Westberlin" (so übrigens schrieben immer die Offiziellen im Osten) habe ich selbst fast alle Biermann-Lieder gekannt, gespielt im Radio RIAS von Olaf Leitner, an den mich Biermann im Gespräch nach einer seiner Lesungen auf der Messe erinnerte, was ich nach vierzig Jahren wieder vergessen hatte.

Zunächst: ein voller Erfolg für die beiden, das "Konzert" am Abend, natürlich auch für den Ullstein-Verlag, hat er doch die Biografien der beiden zum selben Zeitpunkt zur Leipziger Buchmesse herausgegeben. Die Schlangen der für Signaturen anstehenden Besucher waren unendlich lang – wer von beiden mehr signieren musste, weiß ich nicht – es kamen ja noch die vielen Besucher der Buchmesse hinzu, auch die Zuschauer vom "Blauen Sofa" beim ZDF, das zu einem Besuchermagneten, zu einer Institution geworden ist, dem sich keine Autorin, kein Autor zu entziehen vermag.

Ja, da sind also zwei Alphamenschen, die vom Verlag gebeten wurden, aufeinanderzutreffen. Sie haben natürlich schon damals Kontakt gehabt, inwiefern, ist an dem Abend immer etwas schleierhaft geblieben ("ach Wolf", "ach Uschi").

Zusammengehalten wurde dieser Abend durch ein Gespräch beider mit dem Verleger – umgekehrt müsste man sagen, wenn man von der eigentlichen Planung dazu erfährt, "improvisierend" also. Das aktualisierte Konzept nun ergab den Abend: Nach einem kurzen Gespräch der Drei las also zuerst Uschi Brüning aus ihrem Buch, dann Wolf Biermann, der erst erzählte, dann seinen Ziehsohn aus seinem Buch vorlesen ließ.

Zwischengespräche gab es auch, dann sangen sie beide zusammen, offensichtlich auch zum ersten Mal. Die Qualitäten der beiden Protagonisten ist hier nicht infrage zu stellen: Sie, die Sängerin, die mit unglaublicher Stimmgewalt den Zuschauerraum in Bann zog, er, der politische Liedermacher, voll Sprachgewalt, hier sicherlich unter Wert verkauft, weil die politischen Texte nicht auf dem Programm standen – der Auftritt beider zusammen stand im Vordergrund.

hpd-Autor Thomas Hocke spricht mit Wolf Biermann
hpd-Autor Thomas Hocke (links) spricht mit Wolf Biermann

Natürlich wären noch weitere Begebenheiten zu erwähnen, etwa die berühmte Fete bei Josef Haslinger, der immer am vorletzten Tag der Leipziger Buchmesse viele Autorinnen und Autoren zu sich nach Hause einlädt. Haslinger, als Autor vom "Opernball" sicherlich vielen bekannt – auch wenn er sich vor langer Zeit von seinem eigenen Roman distanzierte –, deutscher PEN-Präsident bis vor zwei Jahren, Direktor des bekannten Leipziger Literatur-Instituts und so weiter (PEN ist eine Schriftstellerorganisation, die sich für die Freiheit des Wortes einsetzt, Anm. d. Red.). Verlagsvertreter, Schriftsteller, Pressevertreter waren also da. Neues musste man nicht erwarten von dem Treffen, aber das ist auch gut so. Die Verbindung von Menschen und Literatur ergibt immer allein was Neues.

Soweit zu den Menschen, die durch Literatur Menschen bewegen, in die Fiktion oder Realität einzutauchen – eine flüchtige Beobachtung. Ach ja, das Islandpferd "Pittur" aus der Überschrift sei noch erwähnt, das steht bei der biografischen Angabe von Julia Dessalles an dritter Stelle, nach ihrem französischen Mann und ihrem deutsch-französischen Kind.