Das neue Buch von Andreas Altmann, "Gebrauchsanweisung für Heimat", wurde im hpd bereits besprochen. Das Buch endet mit einer kleinen Geschichte, die der hpd mit Einwilligung des Autors hier veröffentlicht.
Ich habe eine 87-jährige Freundin, Marceline, und das kam so: Es war wieder ein Tag, an dem ich dachte, dass ich mich nur mit mir beschäftige. Meinem Leben, meiner Karriere, meinem Wohlbefinden. Ich beschloss, ein wenig von meiner Energie für jemanden herzugeben, der mir nicht von Nutzen ist, den ich nicht begehre, von dem kein Silberlöffel Belohnung zu erwarten ist, ja, mit dem ich eine Nähe herstelle, die – so sagen sie in Frankreich – "desinteressé" ist, desinteressiert, sprich, ohne jeden Hintergedanken, welchen auch immer.
Zufällig erfuhr ich von Marceline durch Samir, meinen Obsthändler, zu dem sie gelegentlich als Kundin kam. Sie wohne allein, sie sei fragil, mit schwachen Augen und unübersehbar einsam. Der Algerier fragte sie – diskret, auf meine Bitte hin – nach ihrer Adresse, und eines Nachmittags läutete ich bei der alten Dame. Es dauerte, und sie öffnete nur so weit, wie es die kleine Kette zuließ. Das wurden seltsame Minuten. Sie sah einen wildfremden Kerl vor sich, der nun drauflosredete, einen Radiobericht erwähnte von wegen ältere Menschen, die ohne Kontakte in der großen Stadt lebten, verwies auf die Appelle zu ein bisschen Solidarität, und dass mir Samir von ihr erzählt habe, und ob sie einverstanden sei, dass ich ihr bisweilen Gesellschaft leistete. Ich redete ohne Punkt und Komma, natürlich war ich nervös, natürlich hatte ich Angst, sie zu verschrecken. Doch Marceline stand ganz still, lächelte scheu, musterte mich, entsperrte das Schloss und sagte glatt: "Soyez le bienvenu", seien Sie willkommen. Entweder war sie tollkühn oder so verdammt vereinsamt, dass sie sogar einen vollkommen Unbekannten einließ. Seitdem sind Marceline und ich "des camarades", Kameraden, so bezeichnet sie uns. Ein Wort aus längst vergangenen Tagen. Gleich am ersten Tag machte sie Tee, und ich hatte vorsorglich Gebäck mitgebracht. Ach, ihre Wohnung voller Bommeln und gehäkelter Deckchen, ach, der Nippes für drei Hochhäuser, ach, die Schränke, jeder so eichenschwer wie ein dicker Baum. Und an den Wänden die tausend Fotos, ihr Leben.
Sie erzählte und beschwerte sich nie über meine Neugier. Bald entwickelten wir eine solide Routine: Tee und Kuchen, meine Fragen und Marcelines Antworten, hinterher las ich ihr laut vor, immer aus Le Parisien, der beliebtesten Zeitung der Stadt. Wir fingen mit "les faits divers" an, den Lokalnachrichten, zuerst ein bisschen Mord, ein bisschen Totschlag, ein bisschen Raub, dann "culture", dann "people". Ergab es sich, so kommentierten wir – oder lästerten über – die Gauner, die Berühmten und Wichtigtuer.
Manchmal schlief Marceline ein, dann räumte ich ab, spülte das Geschirr und verschwand leise. Meist mit einem kleinen Zettel in der Hand, auf dem stand, was ich ihr bitte das nächste Mal mitbringen sollte. Ich bestand darauf, dass ich für sie die Besorgungen erledigte, sie bestand darauf, dass sie alle Einkäufe bezahlte.
Hier ist kein Platz, um das Leben dieser Französin zu erzählen. Einmal meinte sie, sich noch gut an die Gestapo zu erinnern, als die Nazis 1940 hier einfielen. Sie wusste, dass ich Deutscher bin, und sagte es ohne unterschwelligen Tadel, hätte es gewiss nicht angesprochen, hätte ich nicht ausdrücklich danach gefragt.
Schon nach Wochen, so vermute ich, freute ich mich mehr als die zarte Greisin auf unser nächstes Rendezvous (im Französischen kann man das Wort ganz ohne jeden sinnlichen Unterton gebrauchen). Irgendwann, mitten in ihrem Wohnzimmer, war mir klar, warum: Ich war vollkommen entspannt, so leicht in ihrer Gegenwart, und ich war das, weil ich mich in keiner Sekunde um mich kümmerte, tatsächlich imstande war, nur da zu sein, nur die Anwesenheit dieser warmen Frau zu genießen.
Als Kind habe ich oft in den Nachthimmel gestarrt, fasziniert von den blitzenden Sternen. Später gab ich ihnen die Namen von Menschen, die mir zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Heimat waren. Oder noch immer sind. Heimat als Synonym für Swing und gedankenlose Freude. Jetzt gibt es einen Stern Marceline.
Aus: Altmann, Andreas. Gebrauchsanweisung für Heimat (German Edition), Piper ebooks. Kindle-Version.
3 Kommentare
Kommentare
G.B. am Permanenter Link
Sehr schöne kleine Geschichte, macht Lust auf mehr, kann man auch als Gebrauchsanweisung für Empathie verstehen.
Dieter am Permanenter Link
Welch wunderbares Ehrenamt. Auch die Zuwendungen in der Kindheit sind schön, wenn dich die Eltern umarmen und behüten.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Jetzt gibt es einen Stern Marceline" - menno, das macht mir feuchte Augen.