Die Frankfurter Buchmesse 2019

Literatur grenzenlos

norwegen.jpg

Fjord in Norwegen.
Fjord in Norwegen.

In diesem Jahr ist Norwegen das "Gastland" der Frankfurter Buchmesse. Dr. Thomas Hocke berichtet über Agnar Mykle und seinen Roman "Das Lied vom Roten Rubin" sowie andere literarische Zeugnisse aus dem Norden.

Meine Zeit verlangte meinen Pass und meine Fingerabdrücke.
Ich aber hatte eine verborgene Identität.
Meine Zeit unterzog mich einer Leibesvisitation.
Doch meinen Schmerz entdeckte sie nicht.
Wird die zukünftige Jugend die Erde bestellen?
Wir sind nicht vereint in der Sehnsucht nach toten Planeten.
Wir sind vereint in der Sehnsucht nach der Innenfläche der Hände.

Seit Jahrzehnten schon – bei den jeweiligen Buchmessen in Leipzig und in Frankfurt – gibt es die Tradition, schwerpunktmäßig Literatur aus einem anderen Land besonders zu präsentieren. Ich fand das immer toll, wird man doch mit einer Literatur konfrontiert, die man mitunter nie kennengelernt hätte. So habe ich viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller getroffen, meist im jeweiligen Heimatland, ein Privileg, das ich als Literaturredakteur genossen habe. Das war natürlich immer ein selektiver Einblick in andere Gewohnheiten, andere Kulturen – das reicht sicher nicht zur Kenntnis bzw. zur Erkenntnis anderer Lebensbedingungen, aber es ist ein kleiner Einblick, der Anhaltspunkte liefert, sich weitere Phantasien zu gestatten – und das ist ja das Privileg der Literatur, weil sie ja im Kopf stattfindet, keinen geordneten Bahnen folgt, sondern eben auch mit dem eigenen sozialisierten Befund wissend zurechtkommen muss.

Mykle war, nein: ist in Norwegen ein Kultautor. Das kann man nachvollziehen, wenn man in das Buch, das in neuer Übersetzung (bei Ullstein) erschienen ist, einsteigt. Mykle ist geboren 1915 in Trondheim, gestorben 1995, ein Autor, der vergangene Zeiten beschreibt, aber so nachhaltig und vor allem so einfühlsam, dass man sich fragt, warum ein solches Werk so lange so unbekannt geblieben ist. Dabei geht es nicht nur um Skizzierungen der norwegischen Geschichte, die, obwohl sie permanent im Hintergrund präsent sind, viel zum Verständnis des Denkens in der Zeit zwischen 1935 und 1945 beitragen. Es ist die anbrechende Zeit der Besetzung Norwegens durch Deutschland, geschrieben dann (1956) aus der Perspektive der Nachkriegszeit.

"Eine elektrisch aufgeladene Atmosphäre bestimmte dieses Treffen, die Anwesenden waren heiter, aufgeräumt, aber auch nervös. Es herrschte Aufbruchsstimmung, das letzte Treffen vor den Ferien. Außerdem gab es noch diesen schwachen, fernen Druck aus Europa. Deutschland war weit weg, doch durch Radio und Zeitungen war Hitler ihnen so nahe, dass sie ihn unter der Haut spürten. Chamberlain war nach Deutschland gereist, um mit Hitler über den Frieden zu sprechen. Wäre es nicht angemessener gewesen, Hitler nach England kommen zu lassen? Was braute sich da zusammen?"

Geschichte fließt permanent ein, auch bei gefühlsmäßig anders gelagerten Vorkommnissen, Liebe, Sex oder Partys.

Es mutet fast wie ein Reigen an, oder auch wie eine Novelle, vergleicht man die erste Geschichte mit der letzten. Man ist in einem Sog, dem man sich nicht entziehen kann – und versteht auch erst zum Schluss den Hinweis, den Mykle selber gibt:

"Dieses Buch sollte zweimal gelesen werden.
Es enthält eine Botschaft, unter anderem."

Worum es geht? Es geht, wie es im Klappentext heißt, um Enttäuschungen, Schuldgefühle und das Erwachsenwerden.

"Nach seiner Zeit als Lehrer in Nordnorwegen beginnt Ask Burlefot mit Anfang 20 sein Studium an der Universität in Bergen. Er trifft viele Frauen, eine ernsthafte Beziehung kann er jedoch nicht aufbauen, ob wohl er sich nach der großen Liebe sehnt. Er ist aktiv in der Arbeiterbewegung, äußert sich aber zunehmend kritisch zu deren Ideen. Sein ständiger Begleiter ist die Angst vor dem Scheitern, besonders Frauen gegenüber ist er voller Unsicherheit."

Cover

Frauen und Arbeiterbewegung, beziehungsweise der sozialistische Studentenverband, das sind die Werte, die fortan Asks Leben bestimmen. In beide schlittert er buchstäblich hinein – man kann sich ob dieses Vergleichs heute schon amüsiert zurückziehen, in der damaligen Zeit aber war das ein Sakrileg, der folgenschwer für den Autor Mykle ausging: man klagte ihn als Autor pornografischer Inhalte an – ein Schlag, von dem er sich eigentlich nie ganz erholte, auch wenn die Anklage gegen ihn bald wieder eingestellt wurde.

Wie gesagt, heute amüsiert man sich ein wenig darüber, vor allem, weil diese im Buch beschriebenen Sexszenen so feinfühlig und behutsam – und schön beschrieben werden, dass man nicht auf den Gedanken kommen kann, dass das pornografisch sein kann. Aber die Zeit war eine andere, es kommen so viele Geschichtsprozesse drin vor, Vergleiche, Zuordnungen zu anderen verschiedenen Ebenen, die man hochaktuell verortet.

"Die Frau als Diskutant? ... Es fehlt ihnen bloß an Übung. Ja, Übung, und der Gewissheit, dass es in ihrem späteren Leben nützlich sein könnte, öffentlich zu reden. Das würde ihnen Mut machen. Wenn eine Frau erst einmal öffentlich reden kann, wird sie jedem Mann weit überlegen sein. Wie auf allen Gebieten. Wo gibt’s denn den Mann, der eine Frau auf erotischem Gebiet übertrifft ... Sogar für den ausdauerndsten Geschlechtsakrobaten der Welt findet sich eine Frau, die ihn schlägt. Wenn er sich den absolut letzten Tropfen abgewrungen hat, liegt die Frau lächelnd da und ist immer noch bei Kräften. Deshalb wollen die Christen keine weiblichen Pastoren."

Es ist ein eigenartiger Sog, dem man sich nicht zu entziehen vermag, liest man die kleinteiligen Skizzen von Gefühlen, die Mykle auf vielen Seiten mühelos beschreibt. Das ist aber nicht langweilig, denn langatmig, man versteht diese Versuche, sich auszudrücken – und dabei die Zwiespältigkeit, die hinter jedem Tun steckt. Die Widersprüche, die Kämpfe werden so schnörkellos beschrieben, dass man meint, mit dem Protagonisten selbst diskutieren zu müssen. Mykle ist ein Meister darin und fesselt einen mit scheinbar unlogisch, widersprüchlich scheinenden Sätzen:

"Warum müssen wir unbedingt jedes Mal LIEBEN, wenn wir lieben?"

Es ist nicht die Sehnsucht nach der vollkommenen Liebe, nach dem Rubin, den der Protagonist Belfort umtreibt, es ist die Suche nach einem Verständnis dafür. Er hinterfragt ständig, sich natürlich in erster Linie selbst, aber auch die anderen, zaudert ständig, bevor er sich zum Handeln entschließt, macht aber abergläubisch vor irgendwelchen Zeichen halt, die ihm Hinweise auf das mögliche Tun geben könnten: ... wenn das jetzt passiert, ... dann mache ich das ...

Er hat einen Bildungshunger, liest den halben Marx, die und die sozialistischen Bücher, er treibt exzessiv Studien – so wie er Billard exzessiv spielt. Immer ist er besessen von Schriften, Büchern und nächtelangen Diskussionen bei nächtelangen Treffen Gleichgesinnter. Und es plagt ihn ein gestörtes Verhältnis von sozialistischer Kultur und Alltagskultur. Irgendwie kommt einem das bekannt vor, wenn er von irgendwelchen Treffen mit 'Genossen' berichtet ...

"Sie meinten es gewiss nicht böse, aber sie lispelten (aus Verachtung jeglicher Konvention, sogar der gesprochenen Sprache), ihr ungekämmtes Haar hing ihnen in die Stirn, sie hatten nikotinbraune Finger mit langen, schmutzigen Nägeln und zogen ausschließlich eng sitzende Rollkragenpullover aus schwarzer Wolle an. Sie trugen die Pullover mit einem Stolz, als wäre dies eine Art Uniform des Proletariats ... Wenn diese beiden Kerle demonstrativ ungepflegt sein wollten, um gute Sozialisten zu sein, dann nahm er sich das Recht heraus, die diametral entgegengesetzte Haltung einzunehmen. Gerne hätte er um eine Erklärung gebeten, wo sich bei Marx nachlesen ließ, dass es von kapitalistischem Verhalten zeuge, seinen Körper und seine Kleidung in Ordnung zu halten ... Er hasste die Prediger und Kleriker, die ätzende Brandasche über Äpfel und Gesang, den Tanz und den Wein streuten und die aus Angst vor dem Leben den Menschen Diavorträge über das erbärmliche Surrogat des Leidens und der Armut hielten. Und aus tiefster Seele hasste er ungewaschene Jungsozialisten in schwarzen Pullovern.
Lenin sagte einst zum russischen Volk: 'Sozialismus bedeutet Arbeiterräte und Elektrifizierung'. Ask Burlefot sagte zu sich selbst: 'Sozialismus bedeutet saubere Körper und Sinfoniekonzerte in den Fabriken.'"

Agnar Mykle, selber beeinflusst von Knut Hansum, hat mit seinen Romanen auch wieder andere, uns bekannte Autoren in Norwegen beeinflusst. Er hat natürlich noch andere Werke geschrieben hat wie zum Beispiel "Liebe ist eine einsame Sache" – auch das ist bei Ullstein in neuer Übersetzung herausgegeben. Es ist wenig bekannt, zu welchen Themen er sich nach dem im Sande verlaufenden Prozess wegen angeblich pornografischer Texte noch geäußert hat. Viele andere norwegische Schriftsteller sind von dem Realismus in der Sprache beeinflusst wie Karl Ove Kanusgard (Luchterhand Verlag) Tomas Espedal (Matthes und Seitz Verlag) und Jan Kjaerstad (Septime Verlag und Kiepenheuer&Witsch Verlag). Mir fallen selber noch andere ein, zum Beispiel Knud Faldbakken, bei dem ich zu Hause vor über dreißig Jahren zum ersten Male den Namen Mykle hörte. Und, wenn ich richtig informiert bin, kommen diese Schriftsteller auch nach Frankfurt zur Buchmesse. Ob Kjell Askildsen (Luchterhand Verlag), der neunzigjährige 'Beckett des Nordens' kommt, weiß ich nicht. Es wird mal wieder ein Stelldichein bekannter wie noch bei uns unbekannter Autoren geben. So ist das mit dem jeweiligen Gastland eben.

Agnar Mykle, Das Lied vom roten Rubin, Ullstein Verlag 2019, ISBN-13 9783550050022, 26.00 Euro