Rezension

Auf einen Drink mit Hemingway in Harrys’ Bar in Venedig

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Vielleicht hätten Sie es erstmal mit Gordon’s Gin ohne Eis probiert, um dann zum Montgomery überzugehen. Dann hätte Hemingway erzählt, dass er eine Schreibhemmung habe und unter Depressionen deswegen leide, die sicherlich mit seinen vielen Kriegserlebnissen zusammenhängen würden, er leider auch ein bisschen zu viel trinke und sich erhoffe, in Venedig Gedanken zu einem neuen Buch fassen zu können. Er sei mit seiner Frau Mary hier, seiner vierten Ehefrau, die eigentlich Journalistin sei und selber mühelos Texte zusammenfassen könne. Und dann würde er noch Champagner ordern. Mit dem Barkeeper schon würde er sich ja schon mal gut verstehen, eine Voraussetzung offensichtlich ...

Ein Barkeeper wusste mehr als jeder Concierge, denn in einer Bar landeten auch jene Auskünfte, die nicht ans Tageslicht dringen sollten. Spätabends, nachts – da konnte man den Geschichtensud abschöpfen. Für die Erkundung solcher Details war er prädestiniert, denn er hatte ein gutes Gedächtnis und konnte sich Namen schon nach einmaligem Hören noch lange merken. 'Ohne ein präzise arbeitendes Hirn bist du in Kriegsangelegenheiten verloren', dachte er und musste kurz grinsen, als er sich daran erinnerte, wie er andere Menschen mit seinen Gedächtnisleistungen verblüfft hatte.

So oder so ähnlich hätte Hemingway angefangen – und Hanns-Josef Ortheil hätte alles notiert oder gespeichert. "Beobachtet alles ganz genau und dann beschreibt das so", das habe Ortheil immer wieder seinen Studenten in Hildesheim eingetrichtert, wo er Kreatives Schreiben unterrichtete, berichteten mir viele seiner Ehemaligen, die dann auch zufällig meine Studenten waren, als ich Lehrbeauftragter dort war.

Cover

Die präzise Beobachtung ist es, die Ortheils Romane ausmachen, die deshalb einfach faszinieren und die sich wegen des leisen Humors mit Freude lesen. Ich erinnere mich, da waren Ortheil, ein anderer Redakteur und ich in Prag und in Italien, um Filmaufnahmen zu machen, die zu dem Thema Mozart und der Entstehung der Oper Don Giovanni passen könnten – und Ortheil schrieb mit seiner lesbaren (und verblüffend schönen) Handschrift in eines seiner vielen Schreibbücher ganz penibel auf, was ihm zu dem Thema einfiel. Er war damals Stadtschreiber von Mainz geworden und wollte für das ZDF ein Thema filmisch aufbereiten, das war Mozart, ein häufiger Begleiter seiner Themen.

Diese vielen Genauigkeiten seiner Beobachtungen haben viele Bücher hervorgebracht, ob das die Beschreibungen beim Erlernen der Sprache (er blieb bis zum Alter von sechs Jahren stumm) oder des Klavierspielens war.

Musik, Sprache und Schreiben. Schwerpunkte Ortheils ...

Zurück zu Venedig und Hemingway, das dieser in der Tat 1948/49 besucht hatte, um einen Stoff, einen Plot für ein neues Buch zu finden und natürlich auch um die Depressionen der Kriegszeit vergessen machen zu wollen. Manches in Ortheils Buch über den sich selbst inszenierenden Hemingway erinnert anfangs noch an den heutigen Trampel in Amerika, aber das verflüchtigt sich schnell in den vielen Erlebnissen des Schriftstellers Hemingways mit den Einheimischen, deren eigene Geschichte ihn interessieren, wie seine Frau Mary der mitreisenden Übersetzerin Hemingways mitteilt:

Manchmal erzählt er von der Stadt, als wäre er schon viele Male hier gewesen. Erst als ich nochmals nachfragte, gab er zu, noch nie in Venedig gewesen zu sein ... Ernest erkennen viele Leute auf den ersten Blick, und wenn er in all seiner Größe und Breite erscheint, umgarnen sie ihn oder fallen ihm um den Hals, als wäre er der Messias. Seit Beginn unserer Reise ist das so, er zieht die Menschen an, folgen ihm, und dann sitzen wir mit wildfremden Leuten nächtelang an einem Tisch und trinken ein Glas nach dem anderen.

Er freundet sich mit Paolo Carini an, dem erst sechzehnjährigen Sohn eines Fischers, der ob der bald immer vertraulicher werdenden Aufträge und Botengänge – Champagner oder Valpolicella stehen immer auf der Einkaufsliste – nicht mehr von der Seite weicht, dessen Vater Sergio, der sich als Journalist betrachtet und über den berühmten amerikanischen Schriftsteller für Il Gazzettino schreiben will, und der ihn bald duzen darf, und seiner Schwester Marta, seiner Mutter Elena.

Hemingway ist fasziniert von den so zahlreichen Palazzi der Bewohner Venedigs, ihn interessieren die Geschichten dahinter, er durchfährt mit Paolo die Kanäle entlang und landet in Burano, einer kleinen Insel in den Lagunen. Sie landen vorher in der Wasserstraße an der Oper La Fenice, woraus sich ein Zwiegespräch über Musik erspinnt. Bizets Oper "Die Perlenfischer" wird zu einem interessanten Thema, über den Chor der Fischer wird geredet, nicht über das Duett über die Freundschaft, was naheliegen würde, aber Hemingway hielt nicht so viel von Musik wie auch von Museen, ein Bild maximal interessiert ihn, mehr nicht. Die Einsamkeit auf den vielen Inseln macht ihn an. Ein kurzer Abstecher dann nach Torcello aber, auf einer Nachbarlagune gelegen, verändert sein Leben.

Mary bemerkte sofort, dass Hemingway sich erhob und seine Kappe vom Kopf nahm. Er hielt sie wie ein Junge mit beiden Händen vor dem Bauch, als grüßte er eine ferne Eminenz. Dann bedeckte er wieder die Augen mit der Rechten ... Auch Sergio hatte sich erhoben, und so standen die beiden Männer wie zwei menschliche Säulen dicht nebeneinander, während das Boot auf Torcello zuhielt und kurz vor der Anlegestelle der Vaporetti in einen schmalen Kanal einbog. Nach der Krümmung führte er schnurgerade zu einem Landhaus, das anscheinend eine Locanda war. Es war ein schlichter zweigeschossiger Bau mit vielen Fenstern, zwei Balkonen und den üblichen grünen Holzläden.

Nun konnte Hemingway wieder schreiben. Von einem Colonel der Infanterie der amerikanischen Armee namens Cantwell, der sein Alter hat, ein Weltkriegsveteran. Und der braucht Freunde, braucht Zerstreuung während der Jagden, die früher einstmals Jagden auf Löwen waren, jetzt aber zu Jagden auf Enten geschrumpft sind. "Über den Fluss und die Wälder", angefangen in Torcello, beendet in Kuba, dann erschienen 1950.

Hanns-Josef Ortheil schafft es, gerade diese Behausung in Torcello anzumieten – nach langer Vorbereitung, wie er schreibt und kann sich selbst ein Bild davon machen, was Hemingway sieht. So entsteht ein wahrlich spannender Roman über Hemingways Zeit in Venedig. Seine genaue Beobachtungsgabe ermöglicht es ihm zudem, bestimmte Visionen, so wie sie Hemingway gehabt haben könnte, umzusetzen.

Es ist faszinierend zu lesen, was Ortheil daraus macht, angereichert natürlich durch zahlreiche Recherchen, vor und nach seiner eigenen Reise nach Venedig. In seinem eigenen Blog ist auch filmisch nachzuschauen, wie seine Sicht nach innen und außen – und auch zurück zum damaligen Zeitpunkt Hemingways selber sich ähneln, aber auch verändern ...

Hemingways Geschichte wird natürlich auch zu einer Liebesgeschichte, die er in Venedig erlebt: Er ist fast 50 Jahre alt, als er eine achtzehnjährige, wunderschöne Frau kennenlernt: Adriana Ivancich, eine Venezianerin, rein zufällig auch Englischschülerin von Marta Carini – so fügen sich die Personen in ein Korsett zufälliger Planung von Hemingway. Und der er ein Denkmal setzt in "Über den Fluss uns die Wälder", anfangs zögerlich, weil Adriana zunächst nicht sonderlich begeistert ist. Er ist wie besessen.

Diese Liebesgeschichte ist bei Ortheil von beobachtender Raffinesse beschrieben – Hemingway ist geprägt von dem Zusammensein mit Adriana, in jeglicher Planung steht sie im Mittelpunkt, vor und nach der Abreise nach Kuba, wo Hemingway während dieser Zeit auf einer großen Finca lebt, auch Adrianas Mutter Dora wird involviert, fast als wollte Hemingway sie um Adrianas Hand bitten – wozu auch nicht viel gefehlt hat, denn die Beziehung zu Mary liegt in Trümmern und ist kaum zu kitten.

An seinem Roman feilt er ständig an Veränderungen mit Bezug auf Adriana, sie steht im Mittelpunkt.

Und auch Paolo ist ein Ideengeber: "Der alte Mann und das Meer" entsteht dank der Vorstellung des Fischerjungen. Nur die Berühmtheit blieb dem jungen Paolo versagt, auch wenn Hemingway was anderes verspricht:

An unseren gemeinsamen Roman denke ich jeden Tag. Ich hebe ihn mir wie versprochen für mein nächstes Buch auf. Du hast geschrieben, dass der alte Mann am Anfang zusammen mit dem Jungen zum Fischfang aufs Meer fährt. Immer wieder, ohne Erfolg. Das wäre ein starker Anfang. Wenn ich das Venedig-Buch hinter mir habe, werde ich wie versprochen nach Venedig zurückkommen, und wir werden uns treffen und aufs Meer hinausfahren, wir beide. Niemand sonst. Dein alter Hem.

Ortheil hat nicht ohne Hinterlist seinen Roman "Der von den Löwen träumte" genannt. Es ist an vielen Stellen von Löwen die Rede, eine handelt davon, wie er und seine 'Geliebte' sich eine Löwengeschichte ausdenken und warum Hemingway mit den Löwen viel zu kämpfen hatte – und man kann fast Ortheil beim Schreiben zusehen, dass er ein Schmunzeln auf den Lippen trägt, wenn er ein Zwiegespräch zwischen Paolo und seiner Schwester ersinnt, wobei bei Ortheil wegen seiner akribischen Recherchearbeit nicht auszuschließen ist, dass diese Worte auch natürlich gefallen sind:

Hemingway jedenfalls soll ein guter Schütze sein, ich habe von ihm Geschichten über die Löwenjagden gelesen. Ich glaube, er hat auch einige Zeit in Afrika gelebt ... Um dort Löwen zu jagen? Ja, wahrscheinlich ... Löwen in freier Wildbahn? Na klar, Markuslöwen jedenfalls nicht. Die sind friedlich, lesen in Büchern und kraulen dem heiligen Markus den Rücken ...

Hanns-Josef Ortheil, Der von den Löwen träumte, Luchterhand 2019, 352 Seiten, ISBN: 978-3-630-87439-5, 22,00 Euro