Meeresforschung

Clipperton, die vergessene Insel

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Die einzige Erhebung auf Clipperton: The Rock
Die einzige Erhebung auf Clipperton: The Rock

Als ich im Hafen von San Diego unser Expeditionsschiff erblickte, ging ein langjähriger Wunsch in Erfüllung. Erst einmal zuvor, nämlich 1958, hatten Kollegen vom Smithsonian Institut in Washington DC die Unterwasserwelt um Clipperton Island im Ostpazifik erforscht, aber sie waren nur mit Netzfängen zurückgekehrt. Unsere Expedition 40 Jahre später hingegen sollte auch unter Wasser fotografieren und filmen. So wollten wir den natürlichen Lebensraum der oft endemischen Riffbewohner wie Kaiserfische und Riffbarsche dokumentieren. Das machte alles viel aufregender. Dank mehrerer Sponsoren war es einigen Wissenschaftlern in unserem 20-köpfigen Team überhaupt möglich, zu diesem einsamen Außenposten zu gelangen.

Lage der Insel vor der Küste Mexikos

Lage der Insel vor der Küste Mexikos (Screenshot Google Maps)

Für die etwa 2.500 Kilometer von San Diego nach Clipperton brauchten wir eine Woche. Haie waren das Hauptgesprächsthema: Wayne Baldwin, der Leiter der 1958er-Expedition, hatte in seinen Aufzeichnungen von rudelartigem Auftreten dieser Tiere berichtet, die sogar die Dhingis attackierten. Obwohl 40 Jahre vergangen sind, waren alle Teilnehmer unserer Expedition auf das Schlimmste vorbereitet: die tägliche Konfrontation mit Haien.

Als bei gutem Wetter dann Clipperton mit "The Rock", einem 29 m hohen vulkanischen Felsen, erkennbar wurde, war das Tauchdeck im Nu überfüllt. Wie oft als einer der Ersten im Wasser, registrierte ich die gute Sicht von 30 m und eine angenehme Wassertemperatur von 28 °C. Schulen von Großaugen- und Blauflossenmakrelen umgaben uns und riesige Schwärme schwarzer Drückerfische "standen" förmlich im freien Wasser und grüßten.

Aber wo waren die Haie? Ich sah nicht einen einzigen, als ich instinktiv in alle Richtungen schaute. Und so erging es den Tauchern die ganze Zeit: Niemand von uns sah bei späteren Tauchgängen auch nur einen einzigen Hai! Bald wurde uns der Grund dafür klar: Fischer mussten wohl die territorialen und nur langsam heranwachsenden Knorpelfische ausgerottet haben. Nach unserer Rückkehr erfuhren wir Einzelheiten dazu: Ein knappes Jahr vor unserer Reise waren sechs mexikanische Fangschiffe gezielt nach Clipperton gefahren, um Haien nachzustellen. Sie blieben drei Wochen und jedes Schiff fing etwa 100 Haie pro Woche ...

Clipperton Kaiserfisch

Clipperton Kaiserfisch Holacanthus limbaughi, Foto: © Archiv Debelius


Schwieriges Fotografieren

Doch noch ankerten wir vor Clipperton. Bei jedem Tauchgang war ich überrascht, wie verbreitet dort Korallen wuchsen. Der tropische Ostpazifik ist als korallenarm bekannt, aber das gilt wohl nicht für Clipperton. Der Riffaufbau um diese Insel ist sehr variabel, obwohl der Meeresboden jenseits der Brecherzone in tiefem Wasser verschwindet. Die Riffhänge sind mit diversen Fels- und Korallenformationen bedeckt, ein idealer Lebensraum für Fische.

Mehrere Clippertonkaiser mit Zackenbarschen

Mehrere Clippertonkaiser mit Zackenbarschen, Foto: © Archiv Debelius

Bei Tauchern sind insbesondere die Kaiserfische beliebt. Dementsprechend oft werden sie fotografiert und in der Literatur ausführlich beschrieben. Allerdings gab es bis zu unserer Reise noch eine Art, von der niemals zuvor ein Lebendfoto veröffentlicht wurde, nämlich von Holacanthus limbaughi. Vor 40 Jahren hier an diesem entlegenen Eiland entdeckt, wurde er zu wissenschaftlicher Beschreibung in Formalin eingelegt und später als Holotypus (das Tier, nach dem die Beschreibung erfolgt) im Smithsonian Institute eingelagert. Ich war glücklich, als ich bei meinen Tauchgängen erkannte, dass der Clipperton-Kaiserfisch recht häufig vorkam. Aber auch viele neue Riffbarsche, Doktor- und Soldatenfische konnten wir mit unseren Kameras dokumentieren. Dabei war das Porträtieren der Fische gewiss nicht einfach: Eine mächtige ozeanische Dünung begleitete uns täglich und machte sicheres Tauchen insbesondere im 5 m-Bereich oft unmöglich. Das Fokussieren mit dem Tele-Objektiv war noch in 20 m Tiefe schwierig. Mal drückte die Dünung gegen das Riff, mal zog sie uns weg oder gar nach unten. Mit der Tarierweste war das nicht auszugleichen.

Typischer ostpazifischer Doktorfisch Ctenochaetus marginatus

Typischer ostpazifischer Doktorfisch Ctenochaetus marginatus, Foto: © Archiv Debelius

Jeder an Bord wollte unbedingt einmal an Land, zumal es keinen ruhigen Ankerplatz gab. Aber während der ersten Woche war die See viel zu rau. Aus der Literatur wussten wir nur zu gut, wie viele Boote beim Landen auf Clipperton gesunken waren. Unser Skipper entdeckte dann zum Glück beim Surfen eine 3 m breite Passage im Riff, breit genug für unser Schlauchboot. Durch ein Mitglied der Crew markiert, landeten wir trotz der Brecher dennoch sicher auf dieser Insel mit grausiger Historie.

Welch eine Vergangenheit

10 Jahre hpd

Die Story begann im Jahr 1906, als die mexikanische Regierung auf Clipperton einen kleinen Leuchtturm errichtete. Zwei Jahre später wurde eine kleine Kaserne gebaut und zwölf Soldaten unter Captain Arnaud an diesem entlegenen Platz stationiert. Wegen der extremen Bedingungen wurde den Soldaten erlaubt, ihre Familien mitzunehmen. In den darauffolgenden Jahren brachte ein Militärboot alle paar Monate Verpflegung auf die Insel.

Aber 1914 geschah das Schreckliche: Nach einer Rebellion auf dem mexikanischen Festland vergaßen die neuen Machthaber ihren Außenposten auf Clipperton! Von den 26 Bewohnern sollten nur neun überleben. Der Proviant reichte bis Anfang 1915. Dann starben die Soldaten, einer nach dem anderen. Captain Arnaud verteilte die dort wachsenden Kokosnüsse unter den Kindern und Frauen. Im September 1915 ertranken Captain Arnaud und drei weitere Soldaten. Sein Sohn berichtete später über dieses Unglück: "Ich entdeckte vom Felsen aus ein Schiff am Horizont. Sofort stiegen Papa und die drei verbliebenen Soldaten in ein Boot, um das Schiff auf sich aufmerksam zu machen. Doch dann kenterte es in den Brechern und keiner konnte sich retten. Das Schiff der erhofften Retter war längst verschwunden."

Blick von THE ROCK auf die Clipperton-Lagune

Blick von THE ROCK auf die Clipperton-Lagune, Foto: © Archiv Debelius

Die Überlebenden auf Clipperton wurden erst im Juli 1917 gerettet, als ein amerikanisches Kanonenboot dort stoppte.

Eine weitere makabre Geschichte kam dabei heraus: In all den Jahren wurde der Leuchtturm von einem Mann namens Alvorez gewartet. Er lebte wie ein Einsiedler in einer Hütte und hatte kaum Kontakt zu den Soldaten. Als der Letzte gestorben war, kam er zu der kleinen Kaserne und machte den Frauen unmissverständlich klar, dass sie ab sofort sein Lager zu teilen und für ihn zu kochen hätten. Jeden zweiten Monat wechselte er die Frauen aus – bis auf Alicia Arnaud, die Frau des ertrunkenen Captains. Im Juli 1917 bestand er dann darauf, dass sie seine nächste Partnerin sein solle. Da beschlossen die Soldatenfrauen den Tod von Alvorez. Die Anführerin Tirza Randon begleitete Alicia Arnaud zu dessen Hütte und schlug ihn mit einem versteckten Hammer nieder. Dann erstach sie ihn mit einem Messer. Ironischerweise geschah diese Tat am Morgen des Tages, als die rettenden Amerikaner landeten. Sie fanden Alvorez Leiche bedeckt von schmatzenden gelben Krabben, den häufigsten Landtieren auf Clipperton, und überließen ihn seinem Schicksal.

Clipperton-Krabben Johngarthia planatus

Clipperton-Krabben Johngarthia planatus, Foto: © Archiv Debelius

Die Kenntnis einer solchen Vergangenheit kann man nicht verdrängen, wenn man die von dem Piraten John Clipperton 1705 entdeckte Insel erkundet. Zwei französische Fregatten sichteten die Insel 1711 und beanspruchen allerdings ihre Entdeckung. Ich fand eine Tafel der französischen Fremdenlegion mit einer zerrissenen Tricolore darüber, denn 1931 erhielt Frankreich die Insel nicht ganz freiwillig von Mexico übergeben. Die Spuren der jüngsten Vergangenheit sind alle verwischt: Tölpel, Fregattvögel und Heerscharen von gelben Krabben (Johngarthia planatus) sind nun wieder die Herrscher auf Clipperton.

Ich denke, wir haben in den zwei Wochen unseres Aufenthalts trotz widriger Umstände gute Arbeit geleistet. Besonders die Schneckenforscher kamen auf ihre Kosten, denn sie fanden völlig neue Arten. Mag sein, dass wir Fischsammler zwei oder drei versteckt lebende Meeresbewohner übersehen haben, aber mehr als 85 Fischarten gibt es um Clipperton nicht. Dafür gibt es zwei Gründe: Der erste ist die geringe Größe der Insel und der folgliche Mangel an ökologischen Nischen. Und der zweite besteht in der Schwierigkeit von Rifforganismen, diese weitab gelegene Insel aufgrund schwieriger Strömungsverhältnisse im pelagischen Larvenstadium zu erreichen. Die Fischgemeinschaft von Clipperton ist trotzdem hochinteressant, denn die Biomasse ist ähnlich intakt (bis auf die getöteten Knorpelfische wie Haie und Rochen) wie in jedem anderen tropischen Korallenriff.

Aus jedem Felsspalt schauen Muränen heraus

Aus jedem Felsspalt schauen Muränen heraus, Foto: © Archiv Debelius