Das Bundesverfassungsgericht hat die Sanktionen im SGB II für Hartz-IV-Empfänger*innen für teilweise verfassungswidrig erklärt. Das heißt: Zum Teil sind sie weiterhin möglich.
Laut §§ 31, 31a und 31b SGB II können Hartz-IV-Empfänger*innen verpflichtet werden "konkrete Schritte zur Behebung ihrer Hilfebedürftigkeit zu unternehmen". Bei Nichteinhaltung dieser Mitwirkungsanforderungen können den Leistungsberechtigten ihre Sozialleistungen gestaffelt um 30, 60 oder 100 Prozent gekürzt werden. Das Sozialgericht Gotha legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob diese Sanktionen verfassungsmäßig sind. Das Sozialgericht hielt die Leistungskürzungen für einen Verstoß gegen die Menschenwürde, weil die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Gebot aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG ist, das mit den Kürzungen unterschritten wird.
Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Regelungen staatlicher Sozialleistungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien, "soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern". Danach seien Kürzungen von 30 Prozent oder weniger geeignet, diese Mitwirkung einzufordern. Der Gesetzgeber könne von einer abschreckenden Wirkung dieser Leistungsminderung ausgehen, und es ständen zurzeit keine milderen, gleich wirksamen Mittel zu Verfügung.
Nicht verfassungsgemäß sei aber auch bei dieser Höhe der Kürzungen die starre Verhängung der Sanktionen ohne Härtefallregelung. Bei allen Kürzungen müsse die Möglichkeit bestehen, in Härtefällen von Sanktionen absehen zu können. Es müsse dann von Sanktionen abgesehen werden, wenn ihre Verhängung dem Zweck des Gesetzes widerspricht, die Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Auch die Starrheit der Regelung, Sanktionen immer für drei Monate zu verhängen, sei verfassungswidrig. Im Falle, dass die Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich "ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen", müsse von der Weiterführung der Sanktionen abgesehen werden können. Nach Erfüllung der Anforderungen dürften diese höchstens einen Monat weiterlaufen.
Kürzungen von über 30 Prozent erklärte das Bundesverfassungsgericht für unzulässig. Eine Minderung in Höhe von beispielsweise 60 Prozent des Regelbedarfs sei unzumutbar, da dies weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hineinreiche.
Geht man davon aus, dass die Gewährleistung des Existenzminimums von Art. 1 Abs. 1 GG geschützt ist, erstaunt die Entscheidung. Art. 1 Abs. 1 GG schützt absolut. Die Menschenwürde ist keiner Abwägung zugänglich. "Kürzungen des Existenzminiums als Sanktionen gegen die Verletzungen von Mitwirkungspflichten hätten deshalb insgesamt für verfassungswidrig erklärt werden müssen", erklärte Werner Koep-Kerstin, Bundesvorsitzender der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union. "Die Argumentation des Gerichts, eine 30-Prozent-Kürzung zuzulassen, überzeugt nicht. Das Gericht argumentiert selbst, dass die Menschenwürde allen zusteht und durch vermeintlich 'unwürdiges' Verhalten nicht verloren gehen kann." Um den 30-Prozent-Eingriff dennoch zu rechtfertigen, folgt es aber dem Gesetzgeber beim sogenannten Nachranggrundsatz. Dieser Grundsatz soll den Bedürftigen abverlangen können, selbst zumutbar an der Vermeidung oder Überwindung der eigenen Bedürftigkeit aktiv mitzuwirken. Der Gesetzgeber war der Meinung, dass der sogenannte Nachranggrundsatz Kürzungen bis zu 100 Prozent rechtfertigen kann. Dass der Nachranggrundsatz Kürzungen bis zu 30 Prozent rechtfertigen würde, besagt nun auch das Bundesverfassungsgericht. Das überzeugt nicht.
Will man die Mitwirkung der Leistungsempfänger*innen erreichen, muss das Verständnis des Sozialrechts, das Sanktionen ausschließlich in Form von Leistungskürzungen kennt, überwunden werden. Die Menschenwürde muss auch bei der Sicherung des Existenzminimums unabwägbar bleiben. Der Gesetzgeber bleibt deshalb aufgefordert, Sanktionen in Form von Leistungskürzungen aufzugeben.
13 Kommentare
Kommentare
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Wie hieß die erste Zeitarbeitsfirma? Es war die SS!
Sie zwang die Ausgestoßenen Deutschlands in die Arbeit und kassierte den Lohn selber. Wer nicht arbeiten wollte, der wurde sanktioniert. Was 30, 60 und 100 Prozent-Sanktionen anrichten können, konnte schon in Auschwitz beobachtet werden.
„Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, stammt nicht von Heinrich Himmler, sondern von Franz Müntefering zum Thema Hartz-IV. Nur Arbeit sollte frei machen.
Wussten unsere Politiker in den letzten 15 Jahren nicht, was sie taten?
Wo beginnt bei Sanktionen unter das Existenzminimum der Mord? Wie viele Menschen sind durch Hartz-IV gestorben? Wie viele wurden zu Tode sanktioniert? Sei es durch Selbstmord, Obdachlosigkeit oder durch Wegfall der Krankenversicherungen?
Humanisten sollten Aufklärung verlangen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Münte hatte das aus der Bibel - das sitzt ein Leben lang; da kannst du reden, bis dir der Mund fusselig wird.
H-IV weg, BGE her! Ach, was rede ich...
René am Permanenter Link
Bei diesem haarsträubenden Versuch, völlig unpassende Zusammenhänge herbei zu fantasieren, möchte ich appellieren, nochmal entspannt über das Geschriebene nachuzudenken.
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Im 3. Reich ging es darum, die Arbeitsplätze der Frontsoldaten mit Zwangsarbeitern aufzufüllen, um die Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Natürlich ohne Bezahlung, dafür mit viel Gewaltandrohung.
Bei Schröder ging es um Niedriglöhne in Standort Deutschland, um den Wettbewerb gegen Billiganbieter im Ausland führen zu können. Und da niemand für 1 Euro die Stunde freiwillig arbeitet, wurde ein Zwangssystem mit entsprechenden Sanktionen geschaffen, um die Entlassenen in diese Jobs zu zwingen. Verteiler ist das Jobcenter.
Früher hieß es „arbeitsscheu und entartet“. Heute nennt der Chef der Agentur für Arbeit die Langzeitarbeitslosen „arbeitsscheu und psychisch krank“.
„Arbeit macht frei“ wurde gegen „wer der Allgemeinheit zur Last fällt, verliert die Freizügigkeit“ ersetzt.
„Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen“ trifft es auf den Punkt. Es ist der Wunsch nach physischer Vernichtung aller, die den Machthabern widersprechen.
Im Deutschland unserer Parteien ist nicht der Staat für den Bürger da, sondern der Bürger für das System. Jeder, der an der Tafel betteln muss, ist seiner Menschenwürde beraubt. Jeder, der in seiner Wohnung oder als Obdachloser draußen erfrieren musste, ist ein Toter dieses Systems zu viel.
Daher stelle ich meine Frage noch einmal: Wie viele Menschen mussten in Deutschland bereits direkt oder indirekt durch Hartz-IV-Sanktionen sterben? Kennt jemand eine Statistik?
René am Permanenter Link
"Daher stelle ich meine Frage noch einmal: Wie viele Menschen mussten in Deutschland bereits direkt oder indirekt durch Hartz-IV-Sanktionen sterben? Kennt jemand eine Statistik?"
Man kann diese Frage ja berechtigt stellen. Den SS-/KZ-Vergleich finde ich dennoch arg überzogen.
René am Permanenter Link
Nachtrag: Ich finde den SS-/KZ-Vergleich sogar abstoßend und allzu verharmlosend im Hinblick auf die direkte maschinelle Vernichtung von Menschenmassen!
Arno Gebauer am Permanenter Link
Moin,
vielen Dank für den Artikel.
Sozialgesetze sollen das Existenzminimum sichern, was aber nicht immer der Fall zu sein scheint. Da muß der Gesetzgeber sich endlich mal bewegen!
Viele Grüße
Arno Gebauer
David See am Permanenter Link
viele in Deutschland leben im Schlaraffenland, alle die einen guten Job haben. Menschen denen das Geld einfach so zufliegt. es muss ein Minimum geben wo man einfach leben kann (weltweit).
Ernst-Günther Krause am Permanenter Link
Es widerspricht allen Erfahrungen und Erkenntnissen, dass Menschen nur mit guten Worten zu guten Taten fähig sind.
René am Permanenter Link
"Es widerspricht allen Erfahrungen und Erkenntnissen, dass Menschen nur mit guten Worten zu guten Taten fähig sind."
Aha. Woher kommt denn diese absolute Erkenntnis?
"Sanktionen sind und bleiben eine erforderliche Maßnahme, wenn anders keine zumutbare Aktivität eingefordert werden kann."
Was "zumutbare Aktivität" ist, unterliegt aber häufig genug der Willkür einzelner. Und wenn Die "Sanktionen" darin bestehen, Menschen weniger Mittel zu überlassen, als sie benötigen würden, um sich zu ernähren... naja, dann ist das eben verfassungswidrig und allein unter ethischen Gesichtspunkten extrem fragwürdig.
"Der Grundsatz der Menschenwürde gilt für alle Menschen, auch für diejenigen, die für die Existenz Hilfsbedürftiger hart arbeiten müssen."
Dieser Vergleich ist einfach nur dumm.
Sascha Larch am Permanenter Link
Endlich ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle einführen und wir hätten diese unwürdige Hartz-IV Gesetzgebung vom Tisch!
Roland Weber am Permanenter Link
Offensichtlich brachte es das BVerfG nicht über sich, die gesamten Hartz IV-Sanktionen zu kippen. Was bliebe von Hartz IV ohne Sanktionen - jetzt auch nicht mehr viel.
Die Blamage ist eigentlich viel größer als sich dies in den Medien wiederspiegelt. Es wurde auch verkannt, dass Sanktionen niemals nur die einzelne Person betreffen, sondern stets auch Ehefrau, Ehemann und ggf. vor allem auch die Kinder. Gerade wenn diese sich als ansonsten geforderte Solidargemeinschaft verstehen.
Das Wort "Existenzminimum" muss offenbar noch erklärt werden. Am Minimum fängt spätestens die Menschenwürde an, wie zu Recht in diesem Beitrag festgestellt wird.
Die Menschenwürde ist eben nicht "unantastbar", wie Art.1 GG es formuliert, sondern ist missachtbar.
Das zeigt auch die verlogene Diskussion um eine Grundrente und zeitt sich auch beim Thema Sterbehilfe. Menschenunwürdigkeit wird entgegen dem Sterbewillen der Kranken zelebriert.
Bedürftigkeit gilt es stets nur bei den Ärmsten als Grenze ins Auge zu fassen. Wo wird denn bei "beschäftigigungslosen" Erben nach Bedürftigkeit oder Vermögen gefragt?
Wo wird denn bei den nun ausgelobten Prämien für E-Autos nach "Bedürftigkeit" gefragt? Da wird auch an den Millionär ausgeschüttet. Der Sack ist laut Verkehrsminister prall gefüllt. Von 250 Millionen Euro ist dabei die Rede.
Aber wehe in Hartz IV-Bezieher lehnt eine unsinnige Fortbildungsmaßnahme ab oder versäumt sich bei einem Termin krankheitsbedingt oder aus Vergesslichkeit abzumelden. Dann "funktioniert" der Staat auf diesem Gebiet nach wie vor in bester Manier ...
Tino Kravitz am Permanenter Link
Das erinnert mich alles immer wieder an die nun schon jahrzehntelang währenden Warnungen von Noam Chomsky. Der Wohlfahrtsstaat für die Reichen funktioniert doch wunderbar,