Tagebuch einer Ungläubigen – "Kirchentag Dortmund 2019" – Tag 4

Furioses säkulares Finale

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Der Höhepunkt des Ketzertags Dortmund 2019 – Streitgespräch zwischen dem Theologen Klaus von Stosch und Michael Schmidt-Salomon.

Kurz vor Ende des Kirchentags bieten die Ungläubigen Dortmunds noch einmal alles auf, was sie haben. Am heutigen Samstag jagt eine säkulare Alternativveranstaltung die nächste.

Das enorme Aufgebot an säkularen Gegen- und Alternativveranstaltungen zum Dortmunder Kirchentag bringt mich heute ziemlich aus der Puste. Meine erste Anlaufstelle wie an jedem Vormittag die "säkulare Meile" an der Reinoldikirche. Am vierten Tag in Folge leisten hier die Aktionsgruppe "Das 11. Gebot" mit den Skulpturen von Moses und nacktem Luther sowie die Aktiven von Religionsfrei im Revier (RiR), dem Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) sowie der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) mit Infostand und bischöflichem Geldhamster unermüdliche Aufklärungsarbeit. Die Stadt ist für einen Samstag moderat gefüllt. Auch heute hatte ich übrigens wieder kein Problem, einen Parkplatz mitten in der Innenstadt zu finden. Im zentralen Parkhaus Kuckelke waren auf jedem der fünf Parkdecks genügend Plätze frei.  

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Lale Akgün beim HVD-Fest. © Daniela Wakonigg

Gegen 13 Uhr düse ich in den Süden der Innenstadt. In der Küpferstraße setzt der Landesverband NRW des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD) sein dreitägiges Straßenfest zum Welthumanistentag fort. Hier gibt es Workshops, Informationen rund um humanistische Themen und das charmante Zelt der Begegnung "Meet a Humanist" – eine Möglichkeit für Interessierte, mit Humanisten in Kontakt zu kommen und zu fragen, was sie über Humanisten schon immer wissen wollten. Zum Beispiel, wie man ohne Gott gut sein oder überhaupt leben kann. Vor allem aber stehen im Zentrum des Festes Lesungen und Diskussionen rund um wichtige gesellschaftliche Themen aus humanistischer Perspektive.

BeispielbildHumanistisches Zelt der Begegnung. © Daniela Wakonigg

Das Programm beginnt mit einem Vortrag der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten und aktuellen Vorsitzenden der Säkularen Sozis Lale Akgün zur Frage, ob Religion ein Integrationshemmnis ist. Weitere Vorträge und Diskussionsrunden behandeln Alternativen zum Religionsunterricht an Grundschulen sowie die Themen Werte ohne Gott, Organspende oder die Selbstbestimmung am Lebensende. Gegen Abend wird das Straßenfest mit Improvisationstheater und Live-Musik ausklingen. Doch so weit ist es noch lange nicht.

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Podiumsdiskussion der Säkularen Grünen zur Abschaffung der Staatsleistungen. © Werner Hager

Bereits um 14 Uhr geht es in der Innenstadt weiter mit einer Veranstaltung der Säkularen Grünen zum Thema Staatsleistungen in den Räumlichkeiten des grünen Kreisverbands, der amüsanterweise an der Wallstraße Ecke "Gnadenort" liegt. Die Podiumsdiskussion trägt den Titel "100 Jahre Staatsleistungen an die Kirchen – 100 Jahre Missachtung der Verfassung – was kann NRW tun?". Während diese Frage von Jacqueline Neumann (Institut für Weltanschauungsrecht – ifw), Diana Siebert (Säkulare Grüne NRW, Bündnis altrechtliche Staatsleistungen abschaffen – Basta), Thomas Oppermann (Humanistischer Verband Deutschlands – HVD NRW) und Ansgar Hense (Institut für Staatskirchen­recht der Diözesen Deutschlands) diskutiert wird, sammeln sich wenige Meter weiter vor dem Kino Schauburg bereits die Anhänger der Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters.

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Pastafari-Prozession durch die Dortmunder Innenstadt. © Daniela Wakonigg

Die Anhänger der Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters, kurz "Pastafari" genannt, beeindrucken die erstaunten Passanten – mit und ohne Kirchentagsschal – zunächst vor allem durch ihre Piratenkleidung. Pastafari betrachten das Tragen dieser Kleidung sowohl als religiöses Gebot als auch als Beitrag zur Bekämpfung der Erderwärmung. Die Begründung hierfür ist ebenso vernünftig hergeleitet wie religiöse Regeln anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften: In eben jenem Maß wie die Zahl der Piraten im Laufe der Geschichte abnahm, nahm die Erderwärmung zu. Darum gibt es für Pastafari nur ein sinnvolles Mittel im Kampf gegen die Erderwärmung: die Zahl der Piraten muss steigen.

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Die mssionarischen Angebote der Pastafari. © Daniela Wakonigg

Um für die "einzig wissenschaftliche Religion" des Pastafarianismus – die übrigens von einigen Menschen tatsächlich als Religionsparodie betrachtet wird – zu missionieren, veranstalten die Anhänger der Kirche des Fliegenden Spaghettimonsters heute eine Prozession durch die Dortmunder Innenstadt. Sie bieten den interessierten Passanten neben 'monströsem Gebäck' kostenfreie ambulante Enttaufungen an. Das alles mit 30-Tage-Gott-zurück-Garantie: Sollte die neue Religion nicht gefallen, so wird der alte Gott den frisch Enttauften innerhalb dieser Frist unter Garantie zurücknehmen.

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Ambulante Enttaufung per Fön. © Daniela Wakonigg

Die meisten Einheimischen und erstaunlicherweise auch viele Kirchentagsbesucher sind von der Pastafari-Prozession begeistert. Viele zücken ihre Handys und filmen oder machen Selfies von sich und den Piraten. Und tatsächlich gehen auch einige auf das Enttaufungsangebot ein – darunter jedoch bedauerlicherweise niemand mit Kirchentagsschal. Allerdings gibt es auch einige merkwürdige Reaktionen. Eine Kirchentagsmutti, die ihren kleinen Jungen christliche Flugblätter verteilen lässt, schlägt dem Kind einen Pastafari-Aufkleber aus der Hand – mit dem Hinweis, dass das alles Bekloppte seien. Wer soviel Angst vor einer Infektion mit kritischem Denken hat, muss große Furcht um seinen Glauben haben. Ein weiterer Kirchentagsbesucher wählt eine andere Strategie. Er wirft sich mitten auf dem Bürgersteig vor der Prozession der Pastafari auf die Knie und beginnt, für die armen fehlgeleiteten Seelen zu beten. Die Polizisten, die die Prozession begleiten, fordern ihn auf, sich zu erheben. Er weigert sich mit dem Hinweis, dass er überall beten dürfe, wo er wolle. Die Polizei belehrt ihn darüber, dass das nicht für die Mitte des Bürgersteigs zur Behinderung einer angemeldeten Demonstration gelte und entfernt ihn unsanft. Schön zu sehen, dass die Polizei in Dortmund Gläubigen doch nicht alles durchgehen lässt.

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Die Pastafari-Prozession auf dem wieder mal leeren Friedensplatz mit Kirchentagsbühne. © Daniela Wakonigg

Während die Pastafari zum Abschluss der Prozession eine Nudelmesse feiern, muss ich mich bereits wieder auf den Weg zum nächsten Termin machen. Diesmal nutze ich die U-Bahn, denn ich muss zum zentralen Veranstaltungsort des Kirchentags, dem Dortmunder Messegelände "Westfalenhallen". In den Medien war mehrfach zu lesen, dass die U-Bahnen in Dortmund überfüllt seien. Das stimmt. Aber nur zum Teil. Die U-Bahnlinien, die Richtung Westfalenhallen fahren, sind in der Tat ziemlich gut gefüllt – mehrheitlich mit Grünschalträgern. Doch dieser Füllstand wird wahrscheinlich nur von Dortmundern als ungewöhnlich empfunden, während er für andere Großstädter in Deutschland völlig normal wäre. Ich selbst habe an stinknormalen Tagen bereits weitaus vollere U-Bahnen und Bahnsteige im Berufsverkehr von München oder Berlin erlebt. Die Bahnlinien, die nicht zwischen der Dortmunder Innenstadt und den Westfallenhallen verkehren, sind nach meiner Beobachtung übrigens eher leer.

Als ich an der Station "Westfalenhallen" aussteige, lauert im Bahnhof bereits ein Chor, der die Fahrgäste mit christlichen Liedern beschallt. Die musikalische Vergewaltigung der Stadt durch den Kirchentag ist das, was mir inzwischen am meisten auf den Keks geht. Überall in der Stadt bauen sich regelmäßig Gesangs- und Gebläse-Gruppen auf und setzen weithin hörbare musikalische Kirchentags-Duftmarken. Übrigens machen diese Gruppen das nicht spontan. Wie ich belauschten Gesprächen entnehme, haben sie regelrechte Einsatzpläne, wann sie wo singen oder blasen sollen.

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Die einzige für Säkulare interessante Veranstaltung auf dem diesjährigen Kirchentag. © Daniela Wakonigg

Doch weiter zum Kirchentagsgelände in den Westfalenhallen. Was mich hierher treibt, ist die sage und schreibe einzige von – nach Auskunft des Kirchentags – knapp 2.400 Veranstaltungen des Events, die sich mit einer säkularen Thematik beschäftigt. Bei früheren Kirchen- und Katholikentagen gab es eigentlich immer verschiedene Veranstaltungen, die sich in irgendeiner Weise mit Atheismus, Gottlosigkeit oder Konfessionsfreiheit auseinandersetzten. Man brauchte sie schon deshalb, weil Kirchentagsveranstalter immer wieder betonen, dass ihr Event für alle gesellschaftlichen Gruppen interessant und relevant sei, um so die massive öffentliche Mitfinanzierung des Kirchentags zu rechtfertigen. Doch auf dem 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dortmund gibt es nur eine einzige Veranstaltung dieser Art. Ihr Titel: "Abschaffung der Staatsleistungen an die Kirchen jetzt?", organisiert von der Bundsarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen der Grünen. Pikanterweise hat es diese einzige Veranstaltung des Kirchentags, die auch für nicht-gläubige Menschen interessant sein könnte, nicht ins gedruckte Kirchentagsprogramm geschafft. Es muss daran liegen, dass die Veranstaltung erst nach der Drucklegung ins Programm aufgenommen wurde, anders ist das kaum zu erklären. Auch dass im Online-Programm, wo die Veranstaltung aufgeführt ist, ein falscher Ort genannt wird, ist sicher nur ein Zufall. Die Angelegenheit erinnert ein wenig an Arthur Dent, den Protagonisten des Buchs "Per Anhalter durch die Galaxis", und sein Erlebnis mit wichtigen städtischen Plänen, die öffentlich ausliegen – ganz zuunterst, in einem verschlossenen Aktenschrank, in einem unbenutzten Klo, an dessen Tür steht: Vorsicht, bissiger Leopard!

BeispielbildDas Kirchentagspublikum ist nur mäßig am Thema "Abschaffung der Staatsleistungen" interessiert. © Daniela Wakonigg

Wie viele Menschen deshalb mit Absicht der Podiumsdiskussion über die Abschaffung der Staatsleistungen beiwohnen oder nur zufällig die Sitzgelegenheit vor der Bühne nutzen, um ihre Füße vom Tag auf dem Messegelände auszuruhen, darüber darf spekuliert werden. Die meisten Diskutanten haben sich bereits heute Nachmittag bei der Veranstaltung der Säkularen Grünen kennengelernt. Jacqueline Neumann (Institut für Weltanschauungsrecht – ifw), Diana Siebert (Säkulare Grüne NRW, Bündnis altrechtliche Staatsleistungen abschaffen – Basta) und Ansgar Hense (Institut für Staatskirchen­recht der Diözesen Deutschlands). Neu hinzugekommen ist lediglich Friedel Battenberg von der Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei den Grünen. Das Erstaunliche an der Diskussion: Grundsätzlich sind sich alle Beteiligten – auch der Kirchenvertreter – einig darin, dass die Staatsleistungen an die Kirchen abzuschaffen sind. Uneinigkeit herrscht lediglich hinsichtlich der Modalitäten und des zeitlichen Ablaufs. Soll eine Einmalzahlung als Ablösesumme gezahlt werden oder nicht? Wenn ja, wie hoch soll sie sein? Soll die Angelegenheit einvernehmlich mit den Kirchen geregelt oder zur Not von den Bundesländern auch ohne kirchliches Placet gelöst werden? Während in diesen Punkten unterschiedliche Meinungen herrschen, sind sich alle Beteiligten in einem weiteren Punkt wieder einig: Aktuell sind es vor allem die Regierungsparteien, die die Abschaffung der Staatsleistungen blockieren, obwohl selbst die Kirchen mit dieser Abschaffung einverstanden wären.

Auf zum Endspurt: Vom Messegelände mache ich mich auf den Weg zur Schauburg, wo heute Abend der viertägige Ketzertag von RiR, IBKA und gbs zu Ende gehen wird. Als Highlight für den letzten Abend haben sich die Veranstalter einen besonderen Leckerbissen ausgedacht. Das religiös-atheistische Streitgespräch "Vernünftig glauben – ein hölzernes Eisen?" zwischen dem Katholiken Klaus von Stosch, Professor für Systematische Theologie an der Universität Paderborn, und Michael Schmidt-Salomon, gottlos glücklicher Philosoph, Bestsellerautor und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, moderiert vom evangelischen Pfarrer Friedrich Laker aus Dortmund. Eine Veranstaltung, die offenbar auch Kirchentagsbesucher anspricht, denn heute ist der erste Abend, an dem im Ketzertags-Publikum auch Grünschalträger zu sehen sind. Die rund 150 Sitzplätze im Großen Saal der Schauburg reichen für das rege Interesse bedauerlicherweise nicht aus, so dass nicht wenige Interessierte vor den Toren des Kinosaals bleiben müssen.

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Die letzte Veranstaltung auf der Bühne des diesjährigen Ketzertags. © Daniela Wakonigg

In einem kurzen Eingangsstatement stellen beide Kontrahenten ihre Antwort auf die Frage vor, ob Glauben vernünftig sein könne oder nicht. Statements, die unterschiedlicher nicht sein könnten – ebenso wie auch die Beiträge der Diskutanten im anschließenden Streitgespräch. Während von Stoschs Argumente durchweg in sehr hohen geistig-philosophischen Sphären schweben, versucht Schmidt-Salomon die Diskussion auf den Boden der Empirie zu führen. Während von Stosch versucht, pragmatische Gründe für Glauben anzuführen, macht Schmidt-Salomon darauf aufmerksam, dass sein Kontrahent keinen einzigen empirischen Beleg für den Glauben benennen kann, sondern seinen Glaubenswunsch als Argument für den Glauben nutzt. Im Laufe der Diskussion gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass beide Kontrahenten in ihrem Denken auf unterschiedlichen Planeten leben. Und nicht nur mir scheint es so zu gehen. An den Reaktionen und Fragen des Publikums ist deutlich zu erkennen, dass der Großteil der anwesenden Ketzer den Planeten mit Michael Schmidt-Salomon teilt, die anwesenden Kirchentagsbesucher hingegen auf dem Planten von Klaus von Stosch leben. Ob das Streitgespräch eine der beiden Gruppen für eine Expedition auf den jeweils anderen Planeten hat begeistern können, wage ich zu bezweifeln, doch ein spannender und unterhaltsamer Abend ist es auf jeden Fall.

Für mich ist nun nicht nur das Ende des sehr gelungenen "Ketzertags Dortmund 2019" gekommen, sondern auch das Ende meiner diesjährigen Kirchentagsberichterstattung. Zum morgigen Abschlussgottesdienst werde ich nicht mehr nach Dortmund reisen, obwohl auch der HVD parallel den Abschluss seines dreitägigen Straßenfestes zum Welthumanistentag feiert. Muss ich auch gar nicht, denn schließlich wird der Großgottesdienst unter Aufbietung einer Menge öffentlich-rechtlicher Gelder live im Fernsehen übertragen. Im nächsten Jahr habe ich dann frei, denn es findet ausnahmsweise kein Kirchentag statt, über den ich berichten könnte – und müsste. Beide christlichen Konfessionen sammeln vereint ihre Kräfte für den Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt 2021. Bleibt zu hoffen, dass es auch dort ein so massives säkulares Gegenprogramm geben wird wie in diesem Jahr in Dortmund.