Tagebuch einer Ungläubigen – "Kirchentag Dortmund 2019" – Tag 2

Eine Frage des Privilegs

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Nach langen Diskussionen wird endlich aufgebaut.
Nach langen Diskussionen wird endlich aufgebaut.

In Dortmund geht der Kirchentag weiter – und ebenso der säkulare Protest. Doch in der Behandlung von Säkularen und Religiösen seitens der Ordnungskräfte zeichnen sich Unterschiede ab.

Zu meiner großen Freude gibt es heute kein Verkehrschaos in Dortmund. Auch im sonst immer proppenvollen Innenstadt-Parkhaus Kuckelke gibt es jede Menge freie Plätze. Das dürfte daran liegen, dass heute in Nordrhein-Westfalen Feiertag ist. Fronleichnam. Die Geschäfte haben geschlossen. "Normale Menschen" bleiben heute also der Innenstadt eher fern. Und dass Dortmund angeblich durch die Menschenmassen des Kirchentags aus den Nähten platzt, davon ist heute nichts zu merken. Die Polizei sprach gestern von 200.000 erwarteten Besuchern.

Eines von vielen christlichen Bläserkonzerten, Foto: © Daniela Wakonigg
Eines von vielen christlichen Bläserkonzerten, Foto: © Daniela Wakonigg

Der Kirchentagsveranstalter selbst war im Vorfeld des Events von 100.000 Dauerteilnehmern ausgegangen. Doch wie RP online meldet, gibt es diesmal nur rund 80.000 Dauerkartenbesitzer – inklusive der Zigtausenden Mitwirkenden und Helfer. Am gestrigen Eröffnungsgottesdienst sollen sogar nur 40.000 Menschen teilgenommen haben. Mein subjektives Gefühl, dass es beim Eröffnungsgottesdienst am Ostentor und Hansaplatz gestern relativ leer war, scheint also nicht getrogen zu haben. Beim Eröffnungsgottesdienst des Evangelischen Kirchentags in Berlin 2017 hatten immerhin 70.000 Menschen teilgenommen, in Stuttgart 2015 80.000 und in Hamburg 2013 84.000. Sollten sich diese Zahlen am Ende des christlichen Events tatsächlich bestätigen, so wäre dies ein gewaltiger Einbruch der Teilnehmerzahlen des Kirchentags.

Mein Tag beginnt heute mit einer Veranstaltung der "Säkularen Sozis", dem inoffiziellen Arbeitskreis säkularer SPD-Mitglieder, der von der Parteiführung nicht als offizieller Arbeitskreis anerkannt wird – während die Führungsspitze mit der Anerkennung von christlichen und muslimischen Arbeitskreisen in der SPD keine Probleme hat. Um den Hintergrund genau dieses fragwürdigen Gebarens der aktuellen SPD-Führung geht es in der Veranstaltung "Von Bebel bis Benedikt": Ein Blick in die Geschichte des Verhältnisses zwischen der Sozialdemokratie und den Religionen und Kirchen.

Dr. Klaus Gebauer, Foto: © Daniela Wakonigg
Dr. Klaus Gebauer, Foto: © Daniela Wakonigg

Der Bonner Historiker Dr. Klaus Gebauer, Mitglied im Sprecherkollegium der Säkularen Sozis, zeichnet in seinem Vortrag die Entwicklung dieses Verhältnisses anhand der Lektüre vielfältiger Quellen kenntnisreich nach. Die SPD war seit ihrer Gründung bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine dezidiert säkulare Partei, die bei den Beratungen zur Weimarer Reichsverfassung und zum Bonner Grundgesetz gegen die klerikalen Kräfte in Zentrum und später CDU eine klarere Trennung von Staat und Kirche durchsetzen wollte, erläutert Gebauer. Mit dem Godesberger Programm 1959 öffnete sich die SPD jedoch für die Kirchen, erst für die evangelische, dann für die katholische, später für Muslime. Im Hamburger Programm von 2007 erreichte die religions- und kirchenfreundliche Programmatik ihren Höhepunkt und die säkulare Tradition der Partei wurde vernachlässigt. Auch auf dem aktuellen Kirchentag in Dortmund seien Vertreterinnen und Vertreter der SPD auf den Podien sehr umfangreich vertreten, so Gebauer.

Jesus im Fluchtweg, Foto: © Daniela Wakonigg
Jesus im Fluchtweg, Foto: © Daniela Wakonigg

Noch während ich der interessanten Lehrstunde über die Vereinnahmung der SPD durch die Religion folge, erreicht mich die Nachricht, dass es wenige Meter entfernt eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem "11ten Gebot" und der Polizei gibt. Selbstverständlich hat das Aktionsteam im Vorfeld eine Genehmigung beantragt und erhalten. Für den Willy-Brandt-Platz/Ecke Westenhellweg in unmittelbarer Nähe der Reinoldikirche. Doch über den genauen Standort entscheidet die Polizei vor Ort. Und diese vertritt die Auffassung, dass jener Platz, der gestern noch mit den Kirchentagszelten für den Abend der Begegnung zugebaut war, ein unbedingt freizuhaltender Fluchtweg sei. Die Figuren von Moses und dem nackten Luther würden diesen Fluchtweg jedoch versperren, obwohl sie jederzeit problemlos zu bewegen sind. Die sich heute in eben diesem Fluchtweg regelmäßig zusammenrottenden Laienchöre und Trompetengruppen sowie die unbeweglichen Zelte des Kirchentags gestern Abend versperrten diesen Fluchtweg zwar auch, doch für Religiöse gelten in Dortmund offenbar Sonderregeln. Dass dem tatsächlich so ist, zeigt sich kurz darauf, als sich einige Christen mit Jesus-Bollerwagen in dem Fluchtweg aufbauen, der dem "11ten Gebot" verwehrt bleibt. Auf Nachfrage der säkularen Aktionsgruppe erklärt die Jesus-Bollerwagen-Crew, dass sie für ihr Gefährt und ihren Auftritt in der Innenstadt keine Genehmigung habe. Ein auf die Situation aufmerksam gemachter Polizist vor Ort erklärt, dass dies auch nicht nötig sei, da laut Satzung der Stadt Dortmund Vereinigungen mit religiösem oder politischem Hintergrund keine Sondernutzungserlaubnis für Aktionen in der Stadt benötigten. Für Vereinigungen mit weltanschaulichem Hintergrund gelte das nicht, wie der Polizist auf Nachfrage der Säkularen erklärt. Spannend, denke ich mir, denn das wäre ein glatter Verstoß gegen die Verfassung, nach der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichberechtigt zu behandeln sind. Aus diesem Grund würde ich den Text dieser städtischen Satzung gern nachlesen, doch der Polizist kann mir nicht sagen, wie genau diese Verordnung heißt und wo sie zu finden ist. Doch ich werde diesbezüglich nicht lockerlassen und der Sache noch nachspüren.

Moses, Luther und der Geldhamster, Foto: © Daniela Wakonigg
Moses, Luther und der Geldhamster, Foto: © Daniela Wakonigg

Nach langen Diskussionen und mit anwaltlicher Hilfe wird für die säkulare Aktionsgruppe vom "11ten Gebot" endlich eine Lösung gefunden. Samt Moses und nacktem Luther darf das "11te Gebot" in die Nähe des Infostands von RiR, IBKA und gbs ziehen, an dem auch heute wieder mit viel Man- und Womanpower, einem umfangreichen Arsenal von Informationsschriften, bischöflichem Geldhamster und bekleidetem Luther Aufklärungsarbeit betrieben wird. Heute ist das Laufpublikum allerdings deutlich kritischer gegenüber dieser Aufklärungsarbeit als gestern. Kein Wunder. Während die säkularen Aktivisten gestern in der Einkaufsstraße hauptsächlich auf kirchentagsgenervte Einheimische trafen, besteht das Laufpublikum heute hauptsächlich aus Kirchentagsbesuchern, da die Einheimischen der Innenstadt aufgrund des Feiertags eher fernbleiben. Umso mehr, als sich gegen Nachmittag der Himmel trübt und es zu regnen beginnt. Petrus scheint heute noch früher als gestern missgelaunt zu sein gegenüber dem Kirchentag.

Gottlos glückliche Standbetreuung, Foto: © Daniela Wakonigg
Gottlos glückliche Standbetreuung, Foto: © Daniela Wakonigg

Am Abend geht es wieder zum Ketzertag in der Schaubühne. Der heutige Abend steht unter dem Motto "Geld und Privilegien". Wie passend, denke ich mir, nach den heutigen Erlebnissen rund um das "11te Gebot" und den Fluchtweg, der zwar religiös aber nicht säkular verstopft werden darf. Den ersten Vortrag des Abends hält der Politologe und Kirchenfinanzexperte Carsten Frerk. Er klärt das Publikum auf über die weitreichenden "Finanzräume" der Kirchen, die eben nicht nur die "verfasste Kirche", sondern beispielsweise auch Caritas und Diakonie sowie kirchliche Wirtschaftsunternehmungen umfasst. Frerk betont, wie schwierig und zeitraubend es ist, zuverlässige Zahlen hinsichtlich der Kirchenfinanzen zu ermitteln, da das kirchliche Finanznetzwerk weit verzweigt ist und nicht selten relevante Zahlen gut verborgen seien. Auch die massive staatliche Förderung der Kirchen zeigt Frerk auf und stellt die Frage, inwieweit diese angesichts des enormen Vermögens der beiden christlichen Großkirchen in Deutschland überhaupt zu legitimieren seien.

Carsten Frerk, Foto: © Daniela Wakonigg
Carsten Frerk, Foto: © Daniela Wakonigg

Zweite Referentin des Abends ist die Juristin Jacqueline Neumann. Sie ist Mitgründern und wissenschaftliche Koordinatorin des 2017 gegründeten Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), über dessen Arbeit Neumann berichtet. Ziel des Instituts ist es, sich für die weltanschauliche Neutralität auf juristischer Ebene einzusetzen und so auch nicht-religiösen Menschen und nicht-religiösen Weltanschauungsgemeinschaften zur Gleichbehandlung mit den derzeit noch privilegiert behandelten Religionsgemeinschaften zu verhelfen. Das ifw leistet hierbei in Zusammenarbeit mit namhaften Experten juristische Grundlagenarbeit, begleitet aber auch Rechtsstreitigkeiten, die möglicherweise zu juristischen Grundsatzentscheidungen führen können. Ein vom ifw behandelter Bereich unter vielen ist hierbei der Themenkomplex religiöse Symbole in Schulen und die Diskussion rund um entsprechende Neutralitätsgesetze. Doch auch an der Diskussion um die aktuell heiß diskutierten Paragrafen 217 StGB, durch den Sterbehilfe und damit selbstbestimmtes Sterben verhindert wird, sowie den Paragrafen 219a, der Ärztinnen und Ärzten das öffentliche Zurverfügungstellen von Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbietet, ist das ifw aktiv beteiligt.

Jacqueline Neumann, Foto: © Daniela Wakonigg
Jacqueline Neumann, Foto: © Daniela Wakonigg

Trotz der nicht gerade leichten Kost rund um Finanzen und Juristerei sowie dem zunehmend schwindenden Sauerstoffgehalt im Großen Saal der Schauburg ist das Ketzertagspublikum äußerst interessiert bei der Sache und löchert die Vortragenden mit zahlreichen Fragen. Wie schade, denke ich mir, dass sich keine Kirchentagsbesucher ins Publikum verirrt haben. Diese Vorträge hätten für ihre Hirnwindungen sicherlich reichhaltigere Kost geboten als Abendandachten und Hallelujah-Singen.