Nach Kirchentag: Dortmund und Münster Spitzenreiter bei Kirchenaustritten

kirchentag_dortmund.jpg

Die Dortmunder Reinoldikirche während des Evangelischen Kirchentags 2019
Die Dortmunder Reinoldikirche während des Evangelischen Kirchentags 2019

Das hatten sich die Kirchentagsbetreiber der katholischen sowie der evangelischen Kirche wohl etwas anders vorgestellt: Im Jahre 2019 unserer Zeitrechnung traten im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen genau 120.188 Menschen aus den beiden großen Kirchen aus. 2018 hatten bereits 88.510 Menschen der katholischen und evangelischen Kirche den Rücken gekehrt. Dies entspricht einer Zunahme der Kirchenaustritte in NRW um über 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Amtsgerichte im Landesteil Westfalen haben allein schon 52.456 Kirchenaustritte im Jahre 2019 registriert. Welch Ironie, werden sich viele bei der Veröffentlichung der Kirchenaustrittszahlen des NRW-Justizministeriums gedacht haben. Denn die meisten Menschen in der Region Westfalen traten ausgerechnet in den zwei Städten aus, in denen 2018 und 2019 große religiöse Glaubensfeste dieser beiden religiösen Gesellschaften stattgefunden hatten.

Die Stadt Dortmund, mit 3.809 Austritten Spitzenreiterin, ließ sich im Jahre 2019 fünf Tage Evangelischen Kirchentag rund 3,7 Millionen Euro kosten. Zweitplatzierte mit 3.029 Austritten war die alte Bischofsstadt Münster, die den Katholischen Kirchentag im Jahre 2018 direkt und indirekt mit einer Million Euro unterstützte.

In beiden Städten kam es zu breiten öffentlichen Diskussionen in der Stadtgesellschaft über die Höhe sowie über die grundsätzliche Not, diese beiden extrem reichen religösen Gesellschaften auch noch finanziell bei ihren Glaubensfesten zu unterstützen. Sowohl in Dortmund als auch in Münster war die kirchenkritische Gruppe "11. Gebot" aktiv und sorgte mit einer überlebensgroßen Mosesstatue, die eben jenes 11. Gebot "Du sollst Deinen Kirchentag selbst bezahlen" präsentierte, für reichlich Diskussionsstoff. In Dortmund sahen sich die Kirchentagsbetreiber sogar nach dem öffentlichen Auftritt des "11. Gebots" in der Dortmunder Innenstadt genötigt, das Gespräch mit den Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Rathausparteien zu suchen, um die Kirchentagssubventionen zu sichern.

Auch wird der vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) sowie der Gruppe Religionsfrei im Revier (RiR) zeitgleich zum Kirchentag in Dortmund veranstaltete "Ketzertag" seine Wirkung auf die Kirchenaustritte nicht verfehlt haben. Mit dem Programm "Schöner Schimpfen mit Philipp Möller", "Wie der Staat die Kirche finanziert" mit Carsten Frerk, "Aktuelles zum Weltanschauungsrecht" mit Jacqueline Neumann vom Institut für Weltanschauungsrecht (ifw), "Kirchliches Arbeits-un-recht und mehr" mit Ingrid Matthäus-Maier und "Despoten. Demagogen. Diktatoren." mit dem Illustrator und Bildhauer Jacques Tilly wurde die gesamte Bandbreite der Kirchenkritik auf humorvolle bis intellektuelle Weise geboten.

Auch der dreitägige Humanistentag 2019 des Humanistischen Verbandes (HVD) in Dortmund trug zu einem Kontrastprogramm bei und erinnerte an die zentralen Werte und Prinzipien des Humanismus: vernunftorientiertes und rationales Denken, Selbstbestimmtheit, Individualität, Solidarität und Mitgefühl sowie die Gewissheit, dass alle Menschen nur ein einziges Leben besitzen.

Ebenso hielt in Dortmund die Fraktion von Linkspartei und Piraten im Stadtrat mit kritischen Anfragen und jährlichen Anträgen während der Haushaltsberatungen die Kirchentagszuschüsse auf der Tagesordnung. Während des Kirchentags deckte die Fraktion auch recht "uneigennützige" Praktiken der Kirchentagsbetreiber auf: So verlangten diese für die kostenlos von der Stadt überlassenen Unterkünfte ihrerseits von den Kirchentagsbesuchern Geld. Im Nachgang zum Kirchentag musste der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) auf Nachfrage der Linken und Piraten einräumen, dass der Kirchentag die Stadt Dortmund, in der fast jedes dritte Kind von Sozialleistungen leben muss, rund eine Million Euro mehr gekostet hatte als ursprünglich vom Rat beschlossen.

Dessen ungeachtet gehen sowohl die beiden großen Kirchen als auch deren Kritiker*innen unverdrossen davon aus, dass sich die aktuelle Austrittswelle von historischem Ausmaß auch in den kommenden Jahren weiter fortsetzen wird.

Die Menschen treten aus, weil Kirche für die private Lebensgestaltung keine Relevanz mehr hat, die Menschen von den bis heute nicht komplett aufgearbeiteten und sogar eher weiter verschleierten Missbraussskandalen angewidert und von Finanzskandalen wie denen des ehemaligen Bischofs von Limburg oder dem Verwenden des eigentlich für karitative Zwecke gedachten Peterspfennig für Immobilienspekulationen abgestoßen werden. Die Gläubigen unter den Austretenden verlassen ihre Kirche schlicht aus großer Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung über die ausbleibenden Reformen.

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa), dass die Austrittswelle sogar unabhängig von aktuellen Ereignissen erfolge: "Ohne erkennbare Skandale verliert die katholische Kirche jegliche Bindungskraft, und es wirkt so, als müsse ein Katholik eher begründen, warum er in seiner Kirche bleibt". Insbesondere Frauen, die bisher in Pfarreien engagiert mitgearbeitet hätten, zögen zunehmend die Konsequenzen aus einer fehlenden Bereitschaft zur Veränderung.

Auch wenn mit jedem Verlust eines Kirchenmitglieds in der Regel stets der Verlust von Kirchensteuereinnahmen verbunden ist, brauchen sich die evangelische und die katholische Kirche nicht grämen, verfügen beide religiöse Gesellschaften zusammen allein in Deutschland nach konservativen Berechnungen des Politikwissenschaftlers und ausgewiesenen Experten für Kirchenfinanzen, Carsten Frerk, doch über ein Gesamtvermögen von rund 400 Milliarden Euro. Eine Milliarde besteht aus 1.000 Millionen.

Unterstützen Sie uns bei Steady!