BERLIN. (hpd) Am 2. Januar 2016 war auf Spiegel-Online zu lesen, dass der chinesische Künstler Ai Weiwei auf Lesbos ein Denkmal für die Flüchtlinge, die auf ihrem Weg nach Europa gestorben sind, errichten möchte. Als Künstler wolle Ai Weiwei sich mehr in die Debatte darüber einmischen und “Kunstwerke mit Bezug zu der Krise schaffen, die dazu beitragen sollten, ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen”.
Die Abschottungspolitik Europas ist für die Flüchtlinge ein Desaster. Drei Milliarden Euro lässt es sich die EU kosten, damit die Türkei den Zuzug von Flüchtlingen stoppt. Türkische Sicherheitskräfte fingen im Dezember an, Flüchtlinge daran zu hindern, von der türkischen Küste auf griechische Inseln überzusetzen. Deshalb müssen sie jetzt auf Passagen ausweichen, auf denen die Bootsfahrt noch gefährlicher ist. Daher ist zu erwarten, dass immer mehr Menschen ihre Flucht mit dem Leben bezahlen. Die Werte von Humanität und Freiheit, die einem in Europa so selbstverständlich erscheinen, sind für diese Menschen offensichtlich unerreichbar.
Doch immer noch stranden Menschen in durchnässten Kleidern bei winterlichen Temperaturen an der Küste Europas. Gemeinsame Bemühungen lokaler Behörden und Initiativen, des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) und einiger Nichtstaatlicher Organisationen (NGOs) führten zu besseren Aufnahmebedingungen der Ankommenden. Auch wir können helfen, indem wir unser Projekt “Volunteers for Lesvos” fortführen.
Das Projekt wurde von der Initiative “Respekt für Griechenland” ins Leben gerufen, mit dem Ziel die lokalen Organisationen zu unterstützen, die sich seit Jahren engagieren, um die Situation für die Ankommenden erträglicher zu machen, Versorgungslücken zu schließen und sichere Räume zu schaffen. Dafür ist ein Team wechselnder Freiwilliger über einen längeren Zeitraum vor Ort. Die Arbeit selbst ist ehrenamtlich, jedoch müssen die Kosten für Anreise und Unterkunft aufgebracht werden. Außerdem sollen die Freiwilligen mit einem Fond zur spontanen und situationsabhängigen Linderung der größten Not ausgestattet sein.
Einen Eindruck von der Situation gibt der bewegende Brief von Claus Kittsteiner, der bereits im Sommer als freiwilliger Helfer auf der Insel war und seit November Teamleiter des Projektes “Volunteers for Lesvos” ist.
Liebe Freunde,
zum Jahresbeginn 2016 wünsche ich Euch Gesundheit, eine möglichst angstfreie Zeit angesichts des vielerseits herbeigeschriebenen oder realen Gefahrenpotentials und viel Energie beim Sichzeigen gegen die drohende Dominanz von Bauchgefühlen im näheren oder weiteren Umfeld. Es gibt viel zu tun für uns alle. Der Mensch ist, was er tut. Mein Tun beschränkt sich, wie im August schon, seit Anfang November bis Mitte Januar auf die Arbeit, die sich durch die Ankunft derer auf Lesbos und anderen griechischen Inseln in der Nähe der Türkei ergibt, die sich wegen Kriegen und Existenznöten auf den Weg zu uns machen. Meist aus den durch Bomben und Krieg zerstörten syrischen Städten kommend, aber auch aus Regionen und Ländern, die sich wegen interner Machtkämpfe grundlegend verändern – auch durch unseren Hunger nach Energie und die damit zusammenhängenden Kriege in den letzten Jahrzehnten und durch die Konkurrenzkämpfe um Einflusszonen in Nahost. Die Bevölkerung wurde dabei nicht gefragt, die Erträglichkeit ihrer Lebensbedingungen und ihre kulturellen Bedürfnisse gehörten nicht zu den Berechnungsfaktoren, ebenso wenig wie die Zukunftsfolgen der Kriege für die jeweilige Region.
Um das Projekt „Volunteers for Lesvos“ auch im Jahr 2016 fortführen zu können, sind wir auf Ihre Spenden angewiesen.
Spendenkonto: Respekt für Griechenland, GLS Bank, IBAN DE42 4306 0967 1175 7746 01
Als Verwendungszweck der Spende bitte angeben: “Flüchtlinge auf Lesbos”
So folgen nun viele Migranten - symbolisch aus meiner Sicht - der Spur ihres Öls, oder – von der afrikanischen Küste kommend, u.a. der Spur ihrer von den Schleppnetzen der ausländischen Fangflotten rücksichtslos und massenhaft weggefischten Lebensgrundlage. Sie machen sich auf den Weg nach Norden nach dem Motto „etwas Besseres als Hunger, Elend und Tod finde ich überall“. Mit Hilfswilligen aus aller Welt kehren wir ehrenamtlich Helfenden nun die Scherben von gescheiterter Politik zusammen, kümmern uns um die Versorgung der vor den veränderten Verhältnissen Flüchtenden. Aufgaben, um die sich Regierungen herumdrücken mit vielfachen Ausreden, auch ängstlich fixiert auf Wählerumfragen. Hin und wieder zeigt sich ein Politiker vor den Kameras, lobt die Arbeit der Freiwilligen und verschwindet nach salbungsvollen Worten ohne Folgen, wenn ihn z.B. der Bürgermeister der Hauptstadt von Lesbos fragt, warum denn die Flüchtenden mit ihren Kindern nicht sicher über die Fähren von der Türkei übersetzen dürfen in Anbetracht der vielen Ertrunkenen, darunter auch sehr viele Kinder. Humanitäre Bekundungen nicht nur im Munde zu führen, sondern sie umzusetzen an Stelle von todbringenden EU-Regeln fordert auch er damit - unbequemer Weise. Auch hier auf Lesbos sind – wie in den Jahren zuvor und, wie es heißt, auch weiterhin in den kommenden Jahren – in den ersten Tagen des neuen Jahres 2016 zahlreiche Schlauchboote aus der Türkei angekommen - bei null Grad, die Menschen durchgefroren, durchnässt, krank, nach lebensgefährlicher Überfahrt bei Wind und Wellen aufgelöst weinend, schockiert schweigend, traumatisiert. Wenn wir die Hilflosen so empfangen, mit trockener Bekleidung, Schuhen, Wasser etc. versorgen, haben wir alles andere zu tun als große Überlegungen anzustellen, über große Lösungen zu grübeln, auf dumpfe Fremdenfeindlichkeit und offenen Rassismus und Hass einzugehen. Die Menschen sind einfach da, sie stehen vor uns, ihnen muss geholfen werden, egal warum und woher sie kommen. Alles andere wäre im höchsten Maße unmenschlich! Was würden AFDler und Pegidas denn tun, wenn sie am Strand der Inseln mit dieser Situation konfrontiert würden? Was haben sie überhaupt zu bieten? Und wo bleibt die hohe Politik? Was würde geschehen ohne die freiwilligen Helfer?
Für mich hat das, was ich hier an den Küsten von Lesbos erlebe, auch einen direkten Bezug zu meiner eigenen Lebensgeschichte, das wird mir oft nachts in aller Stille beim Verarbeiten des Erlebten wieder bewusst aus den Erzählungen meiner Mutter. Das Berliner Zuhause kurz vor Kriegsende von Bomben zerstört, verzweifelte Menschen auf der Flucht, strenge Minusgrade, erfrorene Babies, auf der Flucht aus dem Osten unter dem dicken Mantel eines Möbelfahrers durch dessen Körperwärme vor dem Erfrieren bewahrt – ich hatte "Glück"!
Ein wenig von diesem Glück zurückgeben zu können, das ist mein Wunsch und mein Ziel auch für 2016.
Alles Gute für das neue Jahr und viel Kraft für mitmenschliches Tun, liebe Freunde, das wünscht Euch
Claus
In Memoriam
Ägäis, nachts. Das türkische Küstenwachboot sucht nach Illegalen. Nicht weit davon in der Finsternis versteckt: Ein mit Flüchtenden überladenes Schlauchboot, kein Licht, keine Motorgeräusche. Ein Kind beginnt laut zu weinen. Der Schlepper ergreift das Kind, zu hören ist nur der Aufschlag im Meer. Stille. Die Küstenwache dreht ab, die nächtliche Fahrt zur Festung Europa geht weiter. Geschehen nach Augenzeugenberichten im Herbst 2015.
(Claus Kittsteiner, Lesbos, 3. Januar 2016)