In vielen muslimischen Ländern organisieren sich zunehmend Atheisten – im Verborgenen. Am Beispiel Irak wird deutlich, wie gefährlich es für Atheisten sein kann, sich öffentlich zu ihrer Areligiosität zu bekennen. Zwar schützt die irakische Verfassung offiziell die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Meinungs- und Kunstfreiheit. Diese Rechte werden jedoch in der Praxis häufig missachtet.
Solange jemand seinen nicht vorhandenen Glauben stillschweigend im Privaten lebt, hat er womöglich nicht viel zu befürchten, da im Irak staatlicherseits nicht festgelegt ist, in welchem Ausmaß man sich religiös zu betätigen habe. Wer sich allerdings öffentlich als Atheist zu erkennen gibt, womöglich darüber auch noch eine Diskussion anstoßen möchte, der braucht Mut.
Das gilt zum Teil auch für die als vergleichsweise tolerant bekannte Autonome Region Kurdistan im Nordirak mit einer eigenen Regionalregierung in Erbil. Sie beansprucht für sich eine noch weitergehend säkularere Ausrichtung, als sie offiziell im übrigen Irak gilt. Und in der Tat werden dort Islam-kritische Diskussionen weniger rigide unterdrückt als anderswo. Religiöse Minderheiten können sich in Kurdistan außerdem erheblich sicherer fühlen als im übrigen Irak und suchen dort auch gezielt Schutz vor dem IS.
Gleichzeitig ist besonders in Erbil die Gesellschaft nach wie vor sehr konservativ und erwartet, dass islamische Normen von allen respektiert werden. Auch in den kurdischen Autonomiegebieten ist es daher nicht überall ratsam, sich offen als Atheist zu bekennen.
Nach inoffiziellen Schätzungen sind etwa 95 % der Irakis Muslime (Sunniten und Schiiten). Unter den religiösen Minderheiten befinden sich unter anderem Aleviten, Baha’i, Christen, Jesiden und Juden.
Wie viele Atheisten im Irak leben, ist nicht bekannt und wäre durch behördliche Befragungen auch nicht zu ermitteln. Zwar ist es gesetzlich nicht verboten, Atheist zu sein, dennoch würden sich "Ungläubige" bei offiziellen Befragungen vermutlich nicht als solche zu erkennen geben, aus Angst vor Anfeindungen. In den vom IS besetzten Gebieten käme es einem selbst unterzeichneten Todesurteil gleich.
Einen möglichen Hinweis auf den prozentualen Anteil von Atheisten im Irak liefert eine ebenfalls inoffizielle Umfrage aus dem Jahr 2011. Damals fragte die kurdische Nachrichtenagentur AKnews ihre Leserinnen und Leser, ob sie an Gott glauben. Das Ergebnis überraschte auch die Agentur. Nur 67 % antworteten mit "ja", 21% mit "eher ja", 4% mit "eher nein", und 7% mit einem klaren "nein". Atheisten in der Region gehen davon aus, dass eine aktuellere Umfrage vermutlich noch höhere Prozentzahlen für Atheisten und Agnostiker ergäbe.
Das Mindeste, mit dem Atheisten im Irak rechnen müssen, ist Unverständnis. Für viele gläubige Muslime ist es schlicht nicht vorstellbar, dass jemand nicht an Gott glauben kann. Hinter der zunehmenden Zahl von Atheisten vermuten einige daher gar ausländische Mächte am Werk, die die religiös-moralische Integrität des Staates zersetzen wollen. Atheisten stehen unter dem Verdacht, "unmoralisch" zu sein, ihnen drohen soziale Ächtung und der Verlust des Arbeitsplatzes. Auch Morddrohungen sind nicht selten, wenn auch seltener als gegenüber Kovertiten zu anderen Glaubensrichtungen.
Streng gläubige irakische Muslime halten Atheismus für strafrechtlich relevant und berufen sich hierbei auf § 372 des irakischen Strafgesetzbuches, in dem das Thema Blasphemie behandelt wird. Unter den aufgelisteten strafbaren Handlungen werden Apostasie und Atheismus zwar an keiner Stelle erwähnt. Ungeachtet dessen ist es für streng gläubige Muslime bereits Gotteslästerung, wenn jemand nicht an Allah glaubt. Schließlich ist der Abfall vom Glauben laut Hadithen und Idschmāʿ islamrechtlich mit der Todesstrafe zu ahnden.
Zwar unterscheiden einige islamische Gelehrte hier zwischen einem "rein privaten" Abfall vom Glauben und öffentlich gezeigter Apostasie, mit der aktiv die Glaubensgemeinschaft bekämpft werde. Nach deren Ansicht wäre nur letztere nach islamischem Recht mit dem Tode zu bestrafen. Derartige Feinheiten interessieren streng gläubige Muslime allerdings eher nicht, zumal sich jedes Bekenntnis zur Areligiosität als öffentliche Provokation deuten lässt.
Dass sich im Irak die staatliche Rechtsordnung weder an der Scharia orientiert noch Atheismus unter Strafe gestellt ist, hält auch Polizeivertreter und Richter vereinzelt nicht davon ab, Atheismus als Blasphemie zu deuten. Ein Atheist, der Feindseligkeiten seiner Umgebung ausgesetzt ist, wird daher zögern, sich damit an die Polizei zu wenden. Denn es könnte ihm ergehen wie Yousef Muhammad Ali aus der Region Darbandikhan in Irakisch-Kurdistan. Der erstattete 2014 bei der Polizei Anzeige gegen mehrere Personen, die ihn aufgrund seiner atheistischen und Islam-kritischen Äußerungen mit dem Tode bedroht hatten. Statt die Täter juristisch zu belangen, fand er selber sich plötzlich wegen Blasphemie auf der Anklagebank wieder.
Die meisten Atheisten teilen ihre Ungläubigkeit daher nur im engsten Familien- oder Freundeskreis mit. Und selbst das kann bereits negative Folgen haben. Einige Passagen des Korans, speziell jene, die Gewalt rechtfertigen, als "unangemessen" zu bezeichnen, kann dazu führen, den kompletten Freundeskreis zu verlieren.
Manche Eltern möchten zwar von ihren atheistischen Kindern nicht hören, es gäbe keinen Gott, tolerieren gleichzeitig aber deren Areligiosität. In anderen Familien ist man da rigoroser, wie der Fall Ahmad Sherwan aus Erbil zeigt, der 2014 durch die Medien ging. Nachdem der damals 15jährige seinem Vater in einer privaten Religionsstunde mitgeteilt hatte, er glaube nicht an Gott, benachrichtigte dieser die Polizei, die seinen Sohn in Einzelhaft nahm und tagelang folterte. Nach 13 Tagen wurde er wieder freigelassen.
Sherwans Familie war entsetzt. Sein Onkel ließ die Medienvertreter wissen, man habe Ahmet nur deshalb der Polizei gemeldet, damit diese eine "gesunde Veränderung seiner Ideen" vornähme. Es sei keinesfalls die Absicht der Familie gewesen, dass die Polizei Ahmed foltere. - Mit welchen Methoden die "gesunde Veränderung seiner Ideen" hätte stattdessen erfolgen sollen, und wieso die Polizei dafür zuständig sein sollte, ließ der Onkel allerdings offen.
Wenn Atheisten im Irak sich untereinander austauschen und vernetzen wollen, müssen sie also sehr vorsichtig sein. Im realen Leben treffen sie sich an unauffälligen Orten wie z.B. Buchhandlungen, darüber hinaus sind sie im Internet gut vernetzt - allerdings meist geheim. Nur wenige Gruppen sind öffentlich einsehbar und dann in der Regel eher auf Außenwirkung angelegt als für den internen Austausch. Zu diesen öffentlichen Gruppen gehören beispielsweise die Facebook-Seiten "Iraq’s Atheists", "Iraqi Atheists and Irreligious Society", "Iraqi atheist" oder "Iraqi Atheist Youth".
Diese Seiten sind für streng gläubige Muslime ein nicht hinnehmbares Sakrileg, wird hier doch offen "Gotteslästerung" betrieben. Es werden provokante Meme und Cartoons gepostet, die den Islam der Lächerlichkeit preisgeben, der Prophet Mohammed wird mit größter Selbstverständlichkeit karikiert und der koranische Gott als geistesgestört gezeichnet:
"Der islamische Gott ist ein kranker und narzisstischer Gott. Er verlangt, dass Muslime ihn anbeten, ihm gehorchen und ihn Tag und Nacht ununterbrochen in ihrem Bewusstsein haben… (Man stelle sich vor, du träfest auf einen Menschen mit dem Charakter Gottes. Man stelle sich vor, dieser Mensch würde sehr ärgerlich, weil du deine Zeit mit anderen verbringst oder ihn ab und zu mal vergisst. Man stelle sich vor, dieser Mensch würde seinen Verstand verlieren und von dir verlangen, jene zu quälen, die nicht das tun, was er sagt?)
Welchen Eindruck hättest du wohl von diesem Menschen? Würdest du dich von ihm fernhalten? Vielleicht sogar die Polizei rufen, um ihnen die Bedenklichkeit dieser Person zu erklären, und sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, diese Person in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen? Oder würdest du dich auf seine pathologischen und perversen Launen und eine wahnsinnige Liebe aus Dominanz und Kontrolle einlassen?" (Quelle)