Tomasello versus Chomsky

Wie Kinder sprechen lernen

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Auguste Renoir - Gabrielle und Jean
Auguste Renoir - Gabrielle und Jean

Psychologie versus Linguistik. Wie funktioniert Sprache? Liegt allen Sprachen eine Universalgrammatik zugrunde, und ist sie an einer bestimmten Stelle im Gehirn zu verorten, wie Noam Chomsky glaubt? Oder gibt es keine spezifische Fähigkeit, Sätze zu bilden, die sich von anderem Denken prinzipiell unterscheidet und nicht aus diesem hervorgeht, wie Michael Tomasello meint?

In der Publikumszeitschrift Spektrum der Wissenschaft veröffentlichen Paul Ibbertson und Michael Tomasello in diesem Monat erstmals einen Essay unter dem Titel "Wie Kinder sprechen lernen", den man nicht anders lesen kann als einen Nekrolog auf Chomskys Theorie über die universellen Strukturen, die allen etwa 6.000 menschlichen Sprachen zugrunde liegen.

Eine Trias aus dem Denken in Kategorien und dem in Analogien sowie der Gabe, die Absichten anderer Menschen als Sprecher zu erkennen, ermöglichen den kleinsten Menschenkindern, Stück für Stück den Umgang mit sprachlichen Elementen zu lernen, so Tomasello. Diese drei Vermögen selbst haben mit Sprache zunächst einmal nichts zu tun. Dabei bilden die Heranwachsenden langsam ein Wissen darüber heraus, wie Wörter und Satzelemente korrekt gebildet und eingesetzt werden. So vervollkommnen sich die Fähigkeiten im Umgang mit der Sprache mit der Erfahrung.

Dies erinnert an die Vorstellung von Ludwig Wittgenstein, nachzulesen in seinem Blauen Buch "Über Gewissheit". Nachdem er in seinen jungen Jahren versucht hat, die Regeln für eine philosophische Sprache aus möglichst einfachen Atomsätzen freizulegen, richtete er später sein Augenmerk auf den praktischen Umgang mit der Sprache. Was ein Wort oder ein Satz meint, erweist sich im Umgang mit ihm. Letzte Rekursebene für die Sprache ist das Handeln. Denn Sprechen entsteht immer aus einem Handlungsbedarf.

Aber Chomsky wird vielleicht Tomasello und Ibbertson gar nicht widersprechen, dass Sprache genau so gelernt wird, wie diese es beschreiben. Und sagen, dass dabei doch immer wieder universelle Strukturen entstehen. Weil nur durch sie Sprache funktionieren kann. Oder er wird sagen, dass es zum Wesen der Sprache gehört, Subjekt- und Verbalphrasen zu haben und eine hierarchische Struktur mit Einfügungen. Ohne die hingegen das Singen oder die Melodie zum Beispiel perfekt auskommen.

Wenn auch, laut Tomasello und Co., immer nur einige Strukturen in einigen Sprachen einander ähnlich sind. Und auch, wenn, wie sie betonen, über die Generationen nicht immer nur eine unwandelbare Sprache weitergegeben wird, sondern immer nur die Sprache einer Generation an die nächste. Der Fokus der beiden darauf, wie Kleinkinder sprechen lernen, liefert eine empirisch plausible Beantwortung der Frage danach, wie Sprache entsteht, während Chomsky fragte, wie Sprache funktioniert.

Tomasellos und Ibbertsons verkürzen in ihrem Aufsatz aber einmal mehr den Abstand zwischen Mensch und Tier, mit der Erkenntnis, dass Sprache aus der Anwendung einer Reihe nichtsprachlicher Vermögen erwuchs, die bei Tieren längst ebenso nachgewiesen worden sind. Sie führen weder notwendig zu ihr noch ist Sprache ihre Voraussetzung. Warum das unter Menschen geschah, wissen wir immer noch nicht.