Ein historischer Krimi kann auch lehrreich und nicht nur spannend sein. Thomas Ziebulas "Der rote Judas" ist beides. Außerdem erinnert er an das Grauen des Krieges bei den Überlebenden und an die Umbrüche in den Anfangsjahren der Weimarer Republik.
Dinant ist eine kleine Stadt in Belgien, die zur Wallonischen Region gehört. Dort ereignete sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs ein Massaker durch deutsche Soldaten. 674 Einwohner wurden von sächsischen Truppen der kaiserlichen Armee getötet, angeblich wegen "Freischärlerei". Man behauptete, dortige Stadtbewohner hätten auf deutsche Truppen geschossen. Zu den Ereignissen gab es damals und gibt es heute unterschiedliche Versionen. Die erste Auffassung behauptet, es habe Schüsse von Zivilisten gegeben, die zweite Behauptung meint, dass man aus Angst davor überreagiert habe, und die dritte Deutung läuft darauf hinaus, ein bewusstes Massaker sei durchgeführt worden. Beachtenswert ist, dass auch 92 Frauen und 15 Kinder unter fünf Jahren getötet wurden. Dies spricht weniger dafür, dass "Franctireurs" die Verantwortung trugen. Zumindest teilweise handelte es sich somit um Kriegsverbrechen. Während es in Belgien nach Kriegsende gegen mutmaßliche Täter Urteile in Abwesenheit gab, wies das Reichsgericht 1925 alle Anschuldigungen zurück.
Die gemeinten Ereignisse sind heute aus dem Gedächtnis verschwunden. Jetzt erinnert daran ausgerechnet ein Krimi. Geschrieben hat ihn Thomas Ziebula, der durch andere historische Romane von weniger inhaltlichem Interesse bekannt geworden ist. In "Der rote Judas" lässt er erstmals seinen Inspektor Paul Stainer ermitteln. Die Handlung spielt 1920 und der Kriegsheimkehrer muss gleich in seinem ersten Fall einen missglückten Einbruch und einige Morde aufklären. Dabei ist von einer "Operation Judas" die Rede, wobei sich erst im Verlauf der Handlung herausstellt, was damit eigentlich gemeint ist. Um den Lesern nicht die Spannung zu nehmen, soll dies hier auch nicht offenbart werden. Denn die Lektüre des Krimis lohnt, nicht nur wegen des bloßen Unterhaltungswerts. Der Autor beherrscht die "Cliffhanger"-Technik, wenn etwa ein Handlungsstrang in einem bestimmten Moment endet und dann der nächste Handlungsstrang beginnt und es zu einem spannungsreichen Wechsel kommt. Doch das ist bei vielen Krimis eine beliebte Schreibtechnik.
Was macht Ziebulas Erstling darüber hinaus lesenswert? Er lässt seine Hauptfigur den Krieg immer wieder neu durchleben. Nachts wacht er schreiend auf, die Erinnerung zehrt an seinen Nerven. Da man ihn jahrelang für tot hielt, hat er seine Frau an einen anderen Mann verloren. Er sehnt sich nach der Normalität der Vorkriegszeit. Dies alles wird eindringlich und nicht kitschig geschildert. Dann beschreibt der Autor auch, wie Stainer die gewandelte Gesellschaft wahrnimmt. Der bekennende Sozialdemokrat ist von reaktionären Kräften umgeben. Er muss sich orientieren und positionieren. Und einer der Mörder ist dann auch noch der Soldat, der ihm im Krieg das Leben rettete. All das wird eindringlich und spannend geschildert. Ein realistisches Zeitbild entsteht. Nur dass ein Papagei solche Sprachfähigkeit wie geschildert haben soll, dürfte mehr als nur unwahrscheinlich sein. Und dann geht es um die Erinnerung an das Massaker, was man damals als "Verrat" ansah. Am Ende wird der Fall zwar gelöst, aber Stainer ist alles andere als ein strahlender Held. Ein beeindruckendes Krimi-Debüt.
Kritik verdient aber, dass ein Nachwort fehlt. Darin hätte der Autor den historischen Hintergrund erläutern können, was auch, aber nicht nur bezogen auf die Erschießungen in Dinant nötig gewesen wäre. Selbst historisch Interessierten sind die dortigen Ereignisse heute unbekannt. Es gibt in Dinant selbst nur einen Gedenkstein, das scheint es an Erinnerungskultur aber weitgehend gewesen zu sein. Auch die damalige wie spätere Aufarbeitung – oder sollte man besser sagen Nicht-Aufarbeitung – wäre ein wichtiges Thema gewesen. Bereits in den 1920er Jahren gab es diverse juristische Auseinandersetzungen, die in gegensätzlichen belgischen und deutschen Deutungen der Ereignisse ihre Wurzel hatten. Die eigentlichen Ereignisse des Krimis sind wohl Fiktion. Aber auch dazu hätte sich Ziebula äußern können. Er plant wohl eine mehrbändige Roman-Reihe, was ein wenig an Volker Kutschers "Gereon Rath"- beziehungsweise "Babylon Berlin"-Serie erinnert. Das dürfte aber kein Abklatsch werden, wenn Ziebula das präsentierte Niveau hält.
Thomas Ziebula, Der rote Judas, Hamburg 2020 (Wunderlich-Verlag), 479 S., 20,00 Euro