Die Natur des Menschgemachten

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Der Mensch schafft sich Götter nach seinem Bilde - hier der indische Gott Hanuman nach dem Brustmuskeltraining
Der Mensch schafft sich Götter nach seinem Bilde - hier der indische  Gott Hanuman nach dem Brustmuskeltraining

Es gibt einen Satz, den Verleger ihren Romanautoren für eine packende Story mit auf den Weg geben: Beginne mit einem Erdbeben, und dann steigere dich. Es soll langatmige Geschichten verhindern, in denen nur geschieht, was in jedermanns Leben geschieht. Eine packende Geschichte soll uns den Atem nehmen und muss daher spannender sein als das Frühstück des Titelhelden. Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass fast alle großen Religionen mit einer wunderlichen Geburt ihres Protagonisten beginnen.

Buddha soll im Leib seiner Mutter wie ein Edelstein geleuchtet haben. Der chinesische Halbgott Houji, der den Menschen die Hirse gebracht haben soll, wurde empfangen, als seine ansonsten unfruchtbare Mutter in die Fußstapfen des Gottes Shangdi trat. Die ägyptische Göttin Isis empfing ihren Sohn Horus, nachdem ihr toter Gatte Osiris kurzzeitig und nur zu Paarungszwecken wiederbelebt worden war. Der griechische Held Perseus wurde von seiner Mutter Danae in Gefangenschaft empfangen, als Zeus in Form eines Goldregens über sie kam. Im Hinduismus betritt Wischnu die Gebärmutter von Devaki und wird als Krishna geboren. Genauso verfährt er mit der Königsfrau Kausalya, von der er sich als Rama zur Welt bringen lässt. Der aztekische Gott Huitzilopochtli wurde von seiner Mutter Koatlikue empfangen, als sie Federn auf dem Boden fand und an sich nahm. Der ebenfalls aztekische Gott Quetzalcoatl wurde von seiner jungfräulichen Mutter Chimalman entweder im Traum empfangen oder gemäß einer alternativen Geschichte dadurch, dass sie einen Edelstein verschluckte.

Diese Geschichten sollen in uns den Eindruck erwecken, dass die Protagonisten so anders sind, wie sie nur sein können. Schon bei ihrer Geburt werden die Naturgesetze verletzt und ich kann mir wirklich nichts Besseres vorstellen, um in eine Geschichte ganz groß einzusteigen.

Bei der Geburt des Geliebten Führers Kim Jong Il soll eine Schwalbe seine Geburt angekündigt haben, ein Stern erleuchtete den Himmel und ein doppelter Regenbogen erschien. Wie Sie vielleicht wissen, wurde Anakin Skywalkers Mutter Shmi in Star Wars von den endosymbiontisch lebenden Midi-Chlorianern geschwängert, was ebenfalls einer Jungfrauengeburt gleichkommt. Und auch Paul Atreides aus Frank Herberts Der Wüstenplanet entstammt einem Zuchtprogramm der Bene Gesserit, einer religiösen Vereinigung, der seine Mutter angehört und deren Ziel die Erschaffung des messiasähnlichen Kwisatz Haderach ist, eines Übermenschen, der an mehreren Orten gleichzeitig sein kann. Frank Herbert sagte im Jahre 1979: "Die Grundaussage von Der Wüstenplanet ist: Hüte dich vor Helden. Verlasse dich lieber auf dein eigenes Urteil und deine eigenen Fehler."

Gewöhnlich gehen die Geschichten dann mit einem Problem weiter: das Böse muss bekämpft, etwas Verlorenes muss wiedergefunden werden. Im Christentum sind wir durch die Erbsünde belastet und müssen Jesus annehmen, um ins Paradies zu gelangen und der Hölle zu entgehen. Im Islam haben wir die konstante Gefahr der Hölle, doch können wir ihr durch das minutiöse Befolgen von Regeln entgehen, die der Schöpfer diktiert hat. Solange es die USA gibt, wird das Kim-Regime in Nordkorea sein Volk glauben lassen, das Böse stünde vor der Tür und wolle sie alle vernichten. Eine Gefahr schweißt Mitglieder einer Gemeinschaft zusammen und isoliert sie nach außen, was der Festigung des Glaubens durchaus förderlich ist. Johannes 3:16 spricht zwar davon, dass Jesus sein Leben für unsere Sünden gab, aber der Trick an der Sache ist, dass er dann von den Toten auferstand und wir trotzdem immer noch Sünder sind und seiner bedürfen.

Warum das Ganze? Sonst gibt es keine Story, wie der Journalist sagt. Wir würden uns zur Gegenprobe folgende theologische Lehre vorstellen müssen: Es gab ein Problem, aber nun ist alles klar, das Problem wurde beseitigt, ihr könnt weitermachen wie bisher. Damit bekommt man in der Welt des Glaubens kein Bein auf die Erde. Der Zuhörer würde sich für das Entertainment bedanken und dem Erzähler der Geschichte bestenfalls ein Trinkgeld geben – jeder Kinofilm funktioniert so. Vielleicht gab es einmal Religionen, die eine solche abgeschlossene Geschichte gepredigt haben und keinen Handlungsimperativ für künftige Generationen übrig ließen, gepaart mit Strafen für das Nichtbeachten des Imperativs. Solche Rohrkrepierer haben die Eigenschaft, in der Geschichte nur wenig Spuren zu hinterlassen, und so können wir über ihre Zahl, ihre Verbreitung und die Frage, ob es sie überhaupt gegeben hat, nur mutmaßen. In Anbetracht des evolutionären Prinzips der Selektion des Überlebensfähigen und der universellen Einsetzbarkeit dieses Prinzips halte ich es aber für wahrscheinlich, dass es sie gegeben hat.

Das Prinzip von Mutation und Selektion, das die Evolution des Lebens auszeichnet, lässt sich ohne Weiteres auch auf die Religion anwenden. In der Biologie entsteht Artenvielfalt durch Mutationen in den Erbanlagen. Der Birkenspanner Biston betularia ist eine Motte, die in der Vergangenheit hauptsächlich weiße Flügel besaß und daher auf Birkenstämmen schlecht zu sehen war, so dass sie Fressfeinden wie Vögeln und Fledermäusen entging und überlebte – die wenigen dunklen Exemplare der Spezies hatten schlechtere Karten. Das heißt nicht, dass ihr genetisches Merkmal aus dem Genpool der Spezies vollständig verschwand, es wurde lediglich ein Nischendasein, dunkle Flügel zu besitzen. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution in England wurden von Eisenbahnen und Fabrikschloten große Mengen Ruß freigesetzt, der die Birkenstämme schwärzte. Nun waren weiße Motten auf den Birkenstämmen hervorragend zu sehen und wurden in größerer Zahl gefressen als die dunklen Exemplare. Jetzt hatten die dunklen Exemplare einen Selektionsvorteil, so dass sie nach wenigen Jahren das Bild ihrer Spezies dominierten. "Der" Birkenspanner hatte nun typischerweise dunkle Flügel. Der ganze Prozess wurde in etwa 70 verschiedenen Spezies beobachtet und heißt Industriemelanismus.

Um das Beispiel vollständig zu machen, beobachtet man seit den 1960er Jahren wieder eine Zunahme der weißen Sorte Birkenspanner, da elektrisch angetriebene Eisenbahnen und moderne Abgasreinigung die Verrußung der Umwelt Geschichte werden ließen. Eine gängige Fehlannahme ist, dass die Verrußung sich direkt auf die Gene der Spezies auswirken würde. Das aber tut sie nicht. Mutationen des Erbgutes geschehen laufend und ununterbrochen – es sind die Umweltbedingungen, an denen sich entscheidet, welches genetische Merkmal die Oberhand gewinnt. Das ist die natürliche Selektion, die zweite große Kraft der Evolution. Mutation bewirkt Vielfalt der Möglichkeiten und die natürliche Selektion bestimmt, welche Merkmale sich mit welcher Wahrscheinlichkeit durchsetzen.

Und nun können wir das Ganze auf Religionen anwenden. Was in der Evolution die Mutation ist, sind in den Religionen Ideen und Dogmen, die von Gehirn zu Gehirn springen. Was in der Evolution die natürliche Selektion ist, ist in den Religionen ebenfalls natürliche Selektion – obwohl eine religiöse Idee gewaltig an Fahrt gewinnen und das Prinzip der natürlichen Selektion verletzen kann, wenn ein Herrscher wie Theodosius I. im Jahre 380 das Christentum zur Staatsreligion eines Imperiums macht.

Wenn jemand eine christliche Strömung entwickeln würde, deren zentrale Aussage darin besteht, man dürfe keinen Nachwuchs haben, da man damit nur die Summe an Sündern auf der Welt erhöht, dann würde diese Strömung sich per Selbstdefinition nur schlecht verbreiten können. Gibt es dann gleichzeitig eine andere christliche Strömung mit zentralen Aussagen wie "Du sollst Dir die Erde Untertan machen" und "Die Frau ist dazu da, Dir Kinder zu gebären", dann ist klar, welche der beiden Religionen wir einige Generationen später in der Gesellschaft noch sehen werden.

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Wichtig dabei ist auch zu wissen, dass der ganze Prozess aus Mutation und Selektion in der Natur nicht danach strebt, das Leben des Individuums zu verbessern. Es geht nur um das Überleben und die Weitergabe von Erbinformationen, egal auf welchem Zufriedenheitsniveau.

Und ist das bei den Religionen nicht genauso? Die dramatischen Zustände der Spätantike und des Mittelalters mit allgegenwärtiger Gewalt, Seuchen und Hungersnöten haben nicht dazu geführt, dass man sich vom Christentum abgewendet hätte, denn hier kommt noch eine psychologische Komponente hinzu, die in der Evolutionslehre nichts Entsprechendes hat. In der Evolution des Lebens geschehen Mutationen durch chemische oder radioaktive Einflüsse auf das Erbmaterial, in der Evolution der Religion können das nur die Gedanken und Taten von Menschen sein, und die sind den Naturgesetzen weniger streng unterworfen als die Beeinflussung eines DNA-Moleküls – es grenzt eher an Beliebigkeit. Der Tod einer geliebten Person kann bewirken, dass das Individuum sich in die Religion flüchtet und sich einredet, es sei vielleicht nicht gläubig genug gewesen; er kann aber auch bewirken, dass das Individuum sich von Gott enttäuscht abwendet. Besitzt die Religion allerdings entsprechende Passagen, denen zufolge einen Abwendung von der Religion die gesellschaftliche Ausgrenzung oder eine Todesstrafe zur Folge hat, so demonstriert die Religion damit einmal mehr ihre Überlebensfähigkeit – sie hat verbreitungsfähige Informationen.

Das Wohlbefinden des Individuums spielt auch hier weiterhin keine Rolle, und auch der (mangelnde) Wahrheitsgehalt einer Religion hatte nie Einfluss auf den Verbreitungserfolg.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Ausgeglaubt! Warum Atheisten für die Gesellschaft wertvoll sind" von Burger Voss. Das Buch erscheint am 29.10.2018 im Tectum Verlag. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.