Paul Henri Thiry D’Holbach, ein heute weitgehend vergessener Repräsentant der Aufklärung, nahm in "Der gesunde Menschenverstand" eine radikale Kritik an der Religion vor. Endlich liegt wieder eine deutschsprachige Ausgabe des Textes von 1772 mit Erläuterungen und Kurz-Portrait vor.
Die Aufklärung kannte viele Denker, die auch heute noch - zumindest vom Namen her - breiter bekannt sind. Dies gilt nicht für Paul Henri Thiry d’Holbach (1723-1789), was wohlmöglich auch daran liegt, dass er zu den konsequentesten und radikalsten Aufklärern gehörte. Er nahm eine atheistische und materialistische Grundposition ein und unterschied sich auch dadurch von prominenten Repräsentanten wie etwa Voltaire. Während dieser zwar die Gültigkeit der Religion abstritt, sah er sie um der Moral in einer Sozialordnung willen als notwendig an. D’Holbach lehnte diese Auffassung indessen rigoros ab und deutete den Glauben als Grundlage für die Unmoral. Dies machte er auch in seinen religionskritischen Schriften immer wieder deutlich. Als eine Art inhaltliche Bilanz dieser veröffentlichte d’Holbach 1772 die Streitschrift "Der gesunde Menschenverstand", die aufgrund der fehlenden Autorenangabe bis in die Gegenwart hinein fälschlicherweise Jean Meslier zugeschrieben wird. Im Alibri-Verlag erschien nun eine deutschsprachige Neuausgabe.
Bereits in der Vorrede findet man eine Zusammenfassung: "Mit einem Wort, wer immer sich die Mühe machen will, die religiösen Meinungen mit gesundem Menschenverstand zu prüfen und ihnen dieselbe Aufmerksamkeit schenkt, mit welcher man solche Dinge prüft, die man für nützlich hält, der wird leicht wahrnehmen, dass diese Meinungen auf keiner soliden Basis beruhen, dass die ganze Religion ein Luftschloss ist, und die Gottesgelehrtheit nichts anderes als die Unkenntnis natürlicher, gesetzmäßiger Ursachen ist, eine lange Reihe von Chimären und Widersprüchen, bei allen Völkern und zu allen Zeiten gleich einem Roman unglaubwürdigen Inhalts, dessen Held selbst mit Eigenschaften ausgeschmückt ist, die sich kaum sinnvoll kombinieren lassen, dass dessen Name, der die Gemüter mit Furcht und Ehrfurcht erfüllt, nichts anderes ist als ein leeres Wort, das die Menschen stets im Munde führen, ohne imstande zu sein, damit Formen oder Eigenschaften zu verbinden, die nicht durch Tatsachen Lügen gestraften werden …" (S. 14).
Für D’Holbach widerlegten Empirie und Vernunft die Religion. Diese Auffassung durchzieht den ganzen Text. Dabei handelt es sich aber um keine Abhandlung mit Struktur. Eher hat man es mit einer Ansammlung von Thesen zu tun. Deren Ausrichtung machen einzelne Beispiele deutlich: "Unwissenheit und Furcht – dies sind die Hebel aller Religionen" (S. 26). "Jede Religion gründet sich auf das Verlangen zu herrschen" (S. 28). "Die Theologie ist nichts anderes als eine Aneinanderreihung handfester Widersprüche" (S. 64). "Es ist absurd, Gott gerecht und gütig zu nennen, der unterschiedlos Gute und Böse mit Übeln straft, Unschuldige und Schuldige …" (S. 73). "Der Gott der Deisten ist nicht weniger widersprüchlich, nicht weniger trügerisch als der Gott der Theologen" (S. 114). "Die Ehre ist ein nützlicherer und mächtigerer Zügel als die Religion" (S. 141). "Das Christentum wurde nur deshalb verbreitet, weil es gut zum Despotismus passte, dessen stärkste Stütze es ist, wie jede andere Religion auch" (S. 145). Oder: "Nur die Furcht macht Menschen gläubig" (S. 188).
D’Holbach behandelte demnach die unterschiedlichsten Aspekte: Er kritisierte Gottesbeweise und den Moralanspruch, er fragte nach den Bedürfnissen und Machtinteressen, er lieferte Alternativen und Perspektiven. Bezieht man die Aussagen aufeinander und entwickelt eine Systematik, so ergibt sich eine kritische Theorie der Religion. D’Holbach sah den Glauben auch nicht nur als bloße Manipulation an, er leitete ihn aus Befindlichkeiten wie der Furcht ab. Dies macht aus ihm einen differenzierten und modernen Denker, der obendrein einen philosophischen Materialismus vertrat. Dass er dabei zu einem Determinismus und Mechanismus neigte, erklärt sich wohl ebenso aus der Zeit, wie, dass er in aufgeklärten Fürsten die Hoffnung auf Veränderung sah. Gottfried Beyvers und Angelika Penzofer-Beyvers haben die Neuausgabe von "Der gesunde Menschenverstand" mit einer Einführung, Erläuterungen und einem Portrait versehen. Die Lebensbeschreibung hätte etwas länger sein können. Indessen liegt hier zu einem bedeutenden Aufklärer ein interessanter Zugang vor.
Paul Henri Thiry d’Holbach, Der gesunde Menschenverstand, Aschaffenburg 2016 (Alibri-Verlag), 246 S., ISBN 978-3-86569-234-4, 16,00 Euro
7 Kommentare
Kommentare
Helmut Monreal am Permanenter Link
Die oben zitierten Thesen aus der Vorrede reichten für mich schon aus, das Buch stante pede zu bestellen. Freue mich schon auf die Lektüre.
David Z am Permanenter Link
1772. Kaum zu glauben. Wenn man sich in der Welt inkl. D umschaut, könnte man meinen, wir bewegten uns rūckwärts.
In der Tat ein viel zu selten bedachter Aufklärer.
henry burchardt am Permanenter Link
Schade das herr pfahl-traughber in seiner beiläufigen rezensions-bemerkung nicht deutlich macht, ob der text von d'holbach mit dem text von mesliers (suhrkamp + hintergrundverlag) identisch ist.
Heiner Jestrabek am Permanenter Link
Das gibt es auch preisgünstiger, umfangreicher und mit ausführlicher Würdigung d'Holbachs:
Edition Spinoza
19. Juni 2016 neu erschienen:
ISBN 978-3-922589-62-4, 255 S., viele Illustrationen, 15 €
Bestellungen ohne Portoberechnung: ed.spinoza@t-online.de
Paul Thiry d’Holbach (1723-1789), Autor klandestiner atheistischer und aufklärerischer Schriften, Mäzen und Kopf von Holbachs Coterie, den konsequentesten und radikalsten Philosophen der französischen Aufklärung. Sein Pariser Salon wurde zum weltbekannten Treffpunkt der Enzyklopädisten um Denis Diderot, von Schriftstellern, Künstlern und Aufklärern. Der vorliegende Band gibt eine Einführung in Leben und Werk des deutsch-französischen Naturwissenschaftlers und Philosophen, der seine Autorenschaft von religionskritischen Werken erfolgreich verheimlichen konnte. Immerhin wurden in dieser Zeit ketzerische Gedanken durch Monarchie und Klerus noch blutig verfolgt. Der Rezeptionsgeschichte und den Gründen für die Aktualität der Holbachschen Gedanken wird nachgegangen.
Diese Edition enthält schwer zugängliche und neu bearbeitete Schriften Holbachs: Die Heilige Seuche oder natürliche Geschichte des Aberglaubens (1768) und Der gesunde Menschenverstand oder Natürliche Gedanken gegen übernatürliche Ideen nach Jean Mesliers Testament (1772). Seine radikal-religionskritischen Schriften waren in dieser Zeit in ihrer Konsequenz, Eindringlichkeit und Logik einmalig und haben bis heute keine Entsprechung gefunden. Holbach begründete zudem eine neuzeitliche Ethik des aufgeklärten weltlichen Hedonismus. Zu Unrecht ist dieser Philosoph bis heute noch viel zu wenig bekannt.
Werner Koch am Permanenter Link
Das von Heiner Jestrabek herausgegebene Buch enthält eine umfangreiche Einführung in die Zeit und erklärt die gesellschaftliche Situation und enthält eine weitere Schrift von d’Holbach: „Die Heilige Seuche“ (la contag
Paul Thiry d’Holbach war übrigens ein Deutscher, geboren in Edesheim (Rheinland-Pfalz), der nach Paris gegangen ist, um Verfolgungen zu vermeiden, die es in der Verwandtschaft bereits gegeben hatte.
Adorján Kovács am Permanenter Link
Ich kann den Jubel des Humanistischen Pressedienstes nicht ganz verstehen, denn er beruht auf einem Lektüredefizit.
Dieter Bauer am Permanenter Link
Realität widerlegt jegliches religiöse Fantasiekonstrukt. Die Namensgebung eines solchen Konstruktes kann getrost vernachlässigt werden.