Rezension

Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung

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"Was ich also anbiete, ist eine Art mentale Landkarte, die ich über mehrere Jahrzehnte von der Welt meiner Erfahrungen und meines Verstehens gezeichnet habe und noch immer zeichne…". Der renommierte Historiker und Bestseller-Autor Philipp Blom stellt sich der Herausforderung, über eine neue Aufklärung nachzudenken; in Zeiten gravierender Umbrüche und existenzieller Krisen lädt er zu selbständigem Denken über ein neues Welt- und Menschenbild und zur Wiederbelebung aufklärerischer Tugenden ein.

"Was braucht dieser seltsame Primat Homo sapiens, um relativ wenig Zerstörung zu verursachen und mit relativ wenig Angst und Aggression zu leben? Worin besteht ein gutes Leben? Ist es möglich, Wege zu finden, die durch eine angekündigte Katastrophe hindurch zu einem Florieren menschlicher Gesellschaften innerhalb ihrer ökologischen Spielräume führen?"

Die Menschheit ist in eine prekäre Situation gelangt. In sechs Hauptkapiteln ("Gerade jetzt", "Lebenslügen", "Von der Autonomie", "Rechte der Flüsse", "Die Abschaffung der Natur", "Geerdet"), denen jeweils zahlreiche Endnoten mit ergänzendem, bzw. kommentierendem Text nachgestellt sind, analysiert Philipp Blom "im Licht des luziden Nachdenkens" den gegenwärtigen Zustand der Welt mit Klimakrise, politischen Krisen und drohendem ökologischem Kollaps; bis hin zu humanen Selbsttäuschungen und Lebenslügen. Ausgehend von einem evolutionär-humanistischen Standpunkt plädiert er für eine radikal-naturalistische Sicht auf den Menschen, die zu Freiheit führt: "Wer über Aufklärung spricht, muss auch über Freiheit sprechen". "Freiheit muss geübt werden, wie der aufrechte Gang. Die Muskeln müssen stark und dehnbar werden, die Erfahrung eingeübt, der Gleichgewichtssinn geschult, gerade in einer Zeit, deren Technologien die Autonomie des Individuums effektiver kolonisieren denn je".

Cover

Freiheit bildet die Voraussetzung für Autonomie, die Blom nicht nur in philosophischem Sinne, sondern weiterführend auch als politisches Projekt auf "kognitive und existenzielle Resonanz der Menschen mit ihrer natürlichen Umgebung" sowie auf Unabhängigkeit zielend, versteht. "Ohne Autonomie des Denkens kann es kein dynamisches Bild von der Welt geben, sondern die Bilder werden in Form von Religionen, Ideologien oder Brand-Images vorgegeben". Die Menschen, nach Blom "unvernünftige Primaten", müssen den Traum der Naturbeherrschung aufgeben, zunehmend beherrscht die Natur die Menschheit. Es gilt, den damit verbundenen negativen Entwicklungen, bzw. daraus resultierenden Folgen gegenzusteuern; beispielsweise im Bereich der Klimaerwärmung, des Umweltschutzes, der Ökologie, aber auch bei technologischen Themen wie z.B. der Implementierung von künstlicher Intelligenz: "KI bestimmt und wird zunehmend bestimmen, was Menschen online sehen und wie sie die Welt um sich herum interpretieren."

Es würde den Umfang dieser Besprechung bei Weitem sprengen, auf die Vielzahl der im Buch behandelten Themen, Gedankengänge und Querverweise einzugehen. Philipp Blom spannt einen weiten Bogen philosophischer Überlegungen, verbunden mit historischen Bezügen und Zitaten großer Aufklärer und Denker, die zu einer Wiederbelebung aufklärerischer Ideale führen könnten. Mit kritischen Anmerkungen zur "klassischen" Aufklärung, der ein zu idealisiertes Weltbild und Menschenbild zugrunde liegt, fordert er neue, zeitgemäße aufklärerische Tugenden als Voraussetzung, ein gedeihliches Zusammenleben zu fördern, Kriege zu verhindern und die ökologische Zerstörung des Planeten hintanzuhalten. "Wie denkt man darüber nach, wie eine gute Gesellschaft funktionieren kann, obwohl Menschen nun einmal so eigennützig und träge sind, wie sie sind?"

"Aufklärung war von Anfang an ein Kampf gegen allzu bequeme Geschichten einer Gesellschaft". Philipp Blom beschreibt diesen Kampf, der in heutiger Zeit mit ihren umwälzend gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen (Autokratien, Internet, Social Media, KI etc.) besondere Herausforderungen beinhaltet. Er erläutert die Notwendigkeit dieses Kampfes und bietet mit klarsichtigen Analysen und praktischen Überlegungen unkonventionelle Gedanken zur Bewältigung aktueller Krisen, zur Sicherung von Freiheit, Wohlstand, Fortschritt, Frieden. Das im Design sehr attraktive Buch ist als Aufruf zu einer neuen Klarheit des Denkens zu verstehen; als Aufruf zur Verteidigung der politischen und philosophischen Errungenschaften der Aufklärung im Hinblick auf Demokratie, Menschenrechte und evidentbasiertes Denken, verbunden mit ökologischem Vernunftverhalten.

Nicht allen Ausführungen des Autors ist leicht zu folgen; metaphorisch gesehen bilden die Hauptkapitel des Buches intensives Mitdenken erfordernde einzelne Baumstämme, unter denen, weit verzweigt, Erläuterungen und Ergänzungen als Endnoten stehen, die als "sich selbst kommentierender Text" mit den Leserinnen und Lesern, aber auch mit dem Autor selbst, im Dialog stehen. Das Buch bietet neben sehr viel Wissenswertem tiefgründige Anregungen zum Nachdenken, zu kritischer Reflexion eigener Denkmuster und eigener Verhaltensweisen. Dem im Vorwort des Herausgebers Hannes Androsch genannten Auftrag der Aufklärung, "sich auf der Grundlage der Vernunft für die Gestaltung der Zukunft in Solidarität einzusetzen", wird auch die Intention des Buches voll gerecht.

Philipp Blom, Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung, © Christian Brandstätter Verlag, Wien 2023, ISBN 978-3-7106-0737-0, 224 Seiten, 22,00 Euro

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