Rudolf Heß bekleidete im Dritten Reich die Position des "Stellvertreters des Führers". Er dürfte eine der undurchsichtigsten Figuren der damaligen Führungsriege sein: einerseits überzeugter Nationalsozialist und Judenhasser, andererseits tief verhaftet in Okkultismus, Spiritualität und Esoterik. Eben jenes Interesse am Okkultismus und seine Auswirkungen auf sein Tun im Dritten Reich sollen in diesem Artikel näher beleuchtet werden.
Geboren wurde Rudolf Heß am 26. April 1894 im ägyptischen Ibrahimieh, einem Vorort von Alexandria, als erstes Kind des Kaufmanns Fritz Heß und seiner Frau Clara, geborene Münch. 1897 kam sein Bruder Alfred zur Welt, der ebenfalls Parteifunktionär in der NSDAP wurde. Von der ägyptischen Kultur bekam Rudolf Heß hier allerdings nicht viel mit, da sich die Familie hauptsächlich in der deutschsprachigen Gemeinde aufhielt. Nach Schule in Deutschland und Abitur in der Schweiz begann Heß eine Kaufmannslehre in Hamburg, die vom Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde. Bei Kriegsende war er Leutnant der Reserve bei der bayerischen Fliegertruppe.
Ob Heß sich bereits vor 1918 für okkultistische oder esoterische Themen interessierte, ist unklar, aber spätestens mit der Aufnahme seines Studiums in München geriet er in okkultistische und esoterische Kreise.
Studium und erste Kontakte zur NSDAP
Das Jahr 1919 war für Rudolf Heß richtungsweisend. Nicht nur, dass er sich dem Freikorps des Ritters von Epp anschloss und gegen die Münchner Räterepublik kämpfte, in dessen Kreisen er später auch Adolf Hitler kennenlernen sollte, er nahm an der Universität München auch ein Studium der Staatswissenschaften auf. Ein ehemaliger Frontkamerad stellte Heß dann Professor Karl Haushofer vor, bei dem er Vorlesungen in Geopolitik hörte. Hieraus entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen Heß und Haushofer, der zu einem Mentor für Heß wurde und ihn in die Welt der Geopolitik und nationalistischen Ideologien einführte. Heß, der nach den Erfahrungen des Kriegsendes (er war ein Anhänger der sogenannten "Dolchstoßlegende") auf der Suche nach höheren, übergeordneten Prinzipien für die Weltpolitik war, sprach Haushofers Denken, das oft geopolitische und spirituelle Aspekte verband, an. So vertrat Haushofer die Idee des "Lebensraums", also der territorialen Expansion Deutschlands, um dessen Überleben und Aufstieg als Weltmacht zu sichern. Diese Konzepte wurden später zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Haushofer und seine Kreise waren unter anderem durch die Thule-Gesellschaft geprägt, die als okkult-esoterische Organisation gilt und sich stark mit nordischer Mythologie, ariosophischen Ideen und Verschwörungstheorien befasste.
Dazu beschäftigte sich Heß intensiv mit Astrologie, Anthroposophie und "alternativen" Heilmethoden wie der Homöopathie, die auf esoterischen Praktiken beruhen. Im deutschen Ableger des Hermetic Order of the Golden Dawn, dem unter anderem auch der Okkultist Aleister Crowley angehörte, studierte Heß die Kabbala, Astrologie und andere esoterisch-okkulte Lehren.
Rudolf Heß trat zu dieser Zeit auch der Thule-Gesellschaft und als ehemaliger Freikorps-Kämpfer auch der "Eisernen Faust" bei, einer informellen Vereinigung völkisch-nationalistischer Reichswehroffiziere, über die er Kontakt zu Ernst Röhm und letztendlich auch Adolf Hitler bekam. Später wurde Heß dann noch Mitglied beim Bund Artaman, einem radikal-völkischen Siedlungsbund, dem auch spätere NS-Größen wie Heinrich Himmler, Baldur von Schirach oder Alfred Rosenberg angehörten.
Dort lernte er auch Adolf Hitler kennen, mit dem ihn bald eine intensive und innige Beziehung verband. Schon bald stieg Heß zu dessen Privatsekretär auf, der sogar sein Privatvermögen verwaltete.
Im Zentrum der Macht
Rudolf Heß selbst war zwar ohne persönlichen Ehrgeiz, durch seine persönliche Nähe zu Hitler und besonders nach Ernennung zu dessen Stellvertreter, zog er einiges an Neid und Missgunst der anderen NS-Granden auf sich. Durch seinen Hang zum Okkultismus und die dauernde Konsultation von Astrologen und anderen "Gurus" machte er sich hier angreifbar. Innerhalb des NS-Führungszirkels, der geprägt war von dauernden Machtkämpfen und Intrigen, wirkte sein Verhalten mehr als exzentrisch und bisweilen lächerlich.
Insbesondere Joseph Goebbels, Propagandaleiter der NSDAP und Reichsminister für Propaganda und Volksaufklärung, hatte es auf Heß abgesehen. Goebbels nannte Heß gerne den "Jogi aus Alexandria", womit er natürlich auf dessen Interesse für Okkultismus und Esoterik anspielte. Der Propagandaleiter war ja bekannt für seine spitze Zunge und seinen scharfen Witz über Rivalen und Mitstreiter. Der Spitzname "Jogi aus Alexandria" war eine Mischung aus Ironie und Geringschätzung, die sowohl auf eben jene spirituelle Seite von Heß, als auch auf dessen manchmal eigenartige, exaltierte Persönlichkeit anspielte. Für Goebbels war der Name eine Möglichkeit, Heß subtil lächerlich zu machen und sich selbst als überlegenen Machtstrategen darzustellen.
![Rudolf Heß (1935) Rudolf Heß (1935)](/sites/hpd.de/files/media/2025/r_hess_bundesarchiv_bild_183-1987-0313-507_rudolf_hess.jpg)
Bundesarchiv, Bild 183-1987-0313-507, Lizenz: CC-BY-SA 3.0
Durch seine spiritistischen Neigungen und seine Art isolierte sich Heß im Führungszirkel zunehmend. Neben Goebbels war es vor allem Heß' eigener Stabschef Martin Bormann, der gegen ihn agierte und versuchte, ihn zu verdrängen. Gemeinsam mit Joseph Goebbels und Reinhard Heydrich bildete Bormann den Flügel der NS-Führung, die alles Okkulte, Esoterische oder Spiritistische ablehnten.
Auch offizielle NS-Schriften wandten sich gegen alles Esoterische. So hieß es in einem Aufsatz vom 4. Januar 1936 in den Nationalsozialistischen Monatsheften zur Astrologie, die es Heß ja besonders angetan hatte: "Die Astrologie ist orientalischer Herkunft und mit keinen Mitteln zu germanisieren. Sie widerspricht grundlegend allen unseren Anschauungen und gehört zu den volksschädlichen Einrichtungen, mit denen wir so schnell wie möglich aufzuräumen haben. Wir können keine Lehre brauchen, die die Volksseele vergiftet und unseren Volksgenossen den eigenen Willen raubt. Wir können keine Mitläufer brauchen, die am Gängelband des Sterndeuters gehen, sondern nur Menschen mit offenem Blick und zielbewußtem Handeln, die auf des Führers Wort hören."
"Brauner Wellensittich entflogen – abzugeben in der Reichskanzlei"
Am 10. Mai 1941 gegen 18 Uhr bestieg Rudolf Heß in Haunstetten eine Messerschmitt Bf 110 E-1/N und startete zu einem Flug nach Schottland, um mit Douglas Douglas-Hamilton, dem 14. Duke of Hamilton, über einen Sturz Churchills und einen Frieden mit Deutschland zu verhandeln. In der Nähe von Dungavel Castle, dem Familiensitz Hamiltons, sprang Heß ab und ließ seine Maschine abstürzen. Hitler tobte.
Bei dieser Angelegenheit spielte vor allem Heß' Hang zur Astrologie eine Rolle, denn sein Stabsmitarbeiter Ernst Schulte Strathaus beschaffte ihm ein Horoskop, das den 10. Mai als "erfolgversprechendsten Tag für eine Reise im Interesse des Friedens" bezeichnete. Dieses Horoskop soll von Karl Ernst Krafft, einem aus der Schweiz stammenden Astrologen, angefertigt worden sein. Obwohl es keine direkten Beweise gibt, dass Krafft Heß konkret zu seinem Flug nach England riet, wurde später spekuliert, dass seine astrologischen Analysen Heß in seiner Überzeugung bestärkt haben könnten, dass der Zeitpunkt günstig war.
Am 12. Mai 1941 um 21 Uhr verkündete der Großdeutsche Rundfunk folgende Erklärung:
"Parteigenosse Heß, dem es auf Grund einer seit Jahren fortschreitenden Krankheit vom Führer strengstens verboten war, sich noch weiter fliegerisch zu betätigen, hat, entgegen diesem vorliegenden Befehl, es vermocht, sich in letzter Zeit wieder in den Besitz eines Flugzeugs zu bringen. Am Samstag, dem 10. Mai, gegen 18 Uhr, startete Parteigenosse Heß in Augsburg wieder zu einem Flug, von dem er bis zum heutigen Tag nicht zurückgekehrt ist. Ein zurückgelassener Brief zeigte in seiner Verworrenheit leider die Spuren einer geistigen Zerrüttung, die befürchten läßt, daß Parteigenosse Heß das Opfer von Wahnvorstellungen wurde […]. Unter diesen Umständen muß also leider die nationalsozialistische Bewegung damit rechnen, daß Parteigenosse Heß auf seinem Flug irgendwo abgestürzt bzw. verunglückt ist."
Und am Nachmittag des 13. Mai 1941 rief Hitler alle Reichs- und Gauleiter der NSDAP zu sich. Nach einer Aussage von Hans Frank erklärte er während dieses Treffens: "Heß ist vor allem ein Deserteur, und wenn ich ihn je erwische, büßt er für diese Tat als gemeiner Landesverräter. Im Übrigen scheint mir dieser Schritt stärkstens mitveranlaßt zu sein von dem astrologischen Klüngel, den Heß um sich in Einfluß hielt. Es ist daher Zeit, mit diesem Sterndeuterunfug radikal aufzuräumen."
Goebbels schrieb dazu in seinem Tagebuch:
"Es ist zu blödsinnig. So ein Narr war der nächste Mann nach dem Führer. Es ist kaum auszudenken. Seine Briefe strotzen von einem unausgegorenen Okkultismus. Prof. Haushofer und seine Frau, die alte Heß, sind dabei die bösen Geister gewesen. Sie haben ihren 'Großen' künstlich in diese Rolle hineingesteigert. Er hat auch Gesichte gehabt, sich Horoskop stellen lassen u. ä. Schwindel. Sowas regiert Deutschland. Das Ganze ist aus der Atmosphäre seines Gesundlebens und seiner Grasfresserei erklärbar. Eine durchaus pathologische Angelegenheit. Man möchte seine Frau, seine Adjutanten und seine Ärzte windelweich prügeln. Das Communique am Abend vorher war nötig. Die Sache mußte auf Wahnvorstellungen zurückgeführt werden. Wie will man das sonst erklären? Vor allem unseren Achsenfreunden gegenüber, die sonst an unserer Bündnistreue zu zweifeln beginnen. Daß das eine tolle Extratour von Heß ist, glaubt uns ja kein Mensch. Von Heß ist es eine verrückte Disziplinlosigkeit. Beim Führer ist er erledigt. Der ist ganz erschüttert. Es bleibt ihm auch nichts erspart. Er spricht sich in härtesten Worten über ihn aus, billigt ihm aber Idealismus zu. Wir geben für die Öffentlichkeit ein neues Communique heraus, das die Hintergründe etwas aufhellt. Im Volk herrscht eine maßlose Unruhe. Man fragt mit Recht, wie ein Narr der zweite Mann nach dem Führer sein konnte. Ein Herostrat und danebengelungener Messias. Er hat offenbar die Nerven verloren. Das alles ist so skurril und absurd, daß man es kaum glauben kann."
Wobei das Volk schon bald auf seine eigene Weise mit der Sache umging. Die offizielle Erklärung, dass Rudolf Heß unter Halluzinationen und Wahnsinn gelitten hätte, wurde mit dem folgenden Spottvers kommentiert: "Es geht ein Lied im ganzen Land: / Wir fahren gegen Engelland. / Doch wenn dann wirklich einer fährt, / So wird er für verrückt erklärt."
Als direkte Folge des Fluges wurde am 9. Juni 1941 die "Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften" durchgeführt. Hier wurden bis zu 1.000 Personen wie Hellseher, Astrologen oder Magnetiseure verhaftet. Treibende Kraft hinter dieser Aktion war wieder Joseph Goebbels, der bereits am 16. Mai 1941 in seinem Tagebuch dazu notierte: "Ich gebe einen scharfen Erlaß gegen Okkultismus, Hellseherei etc. heraus. Dieser ganze obskure Schwindel wird nun endgültig ausgerottet. Die Wundermänner, Heß' Lieblinge, werden hinter Schloß und Riegel gesetzt. Anweisung an die Gaue, die Partei über den Tatbestand aufzuklären. Damit haben wir nun wenigstens etwas Boden unter den Füßen."
In Gefangenschaft
Rudolf Heß selbst wurde festgesetzt und blieb auch in Gefangenschaft ein "komischer Kauz". Nachdem der damalige britische Premierminister Winston Churchill mit ihm gesprochen hatte, meinte er, mit einem "mental retardierten Kind" gesprochen zu haben.
Auch nach seiner Überstellung an den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und während des Prozesses und seiner lebenslangen Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis hielt Heß nicht nur an seiner nationalsozialistischen Gesinnung, sondern auch an seinem Interesse an esoterischen, später eher spirituellen, Dingen fest.
Heß selbst charakterisierte sich in seinem Schlusswort am 31. August 1946 vor dem Militärgerichtshof zu seinem Verhältnis zur Spiritualität: "Ich bin kein kirchlicher Mensch; ich habe kein inneres Verhältnis zu den Kirchen, aber ich bin ein tief religiöser Mensch. Ich bin überzeugt, daß mein Gottglaube stärker ist, als der der meisten anderen Menschen."
Und er schloss mit: "Ich bin glücklich, zu wissen, daß ich meine Pflicht getan habe meinem Volk gegenüber, meine Pflicht als Deutscher, als Nationalsozialist, als treuer Gefolgsmann meines Führers. Ich bereue nichts. Stünde ich wieder am Anfang, würde ich wieder handeln, wie ich handelte, auch wenn ich wüßte, daß am Ende ein Scheiterhaufen für meinen Flammentod brennt. Gleichgültig was Menschen tun, dereinst stehe ich vor dem Richterstuhl des Ewigen. Ihm werde ich mich verantworten, und ich weiß, er spricht mich frei."
Fazit
Gemeinsam mit Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg war Rudolf Heß für das Bild der okkultistischen Nazis verantwortlich, das noch heute häufig kolportiert wird. Allerdings war dieser "Flügel" in der NS-Führung eine Minderheit. Joseph Goebbels oder Reinhard Heydrich lehnten jeden Okkultismus oder Esoterik strikt ab. Der Großteil der Führungsclique allerdings stand dem Thema Okkultismus und Esoterik eher gleichgültig gegenüber und nutzte etwaige pathetische Inszenierungen zur Sicherung des Machterhalts.
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1 Kommentar
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Kommentare
Bernie am Permanenter Link
Interessanter Kommentar dem hoffentlich bald einer über des Neuheidentum der heutigen Zeit folgt - eine Abirrung, die sich nicht nur im längst untergegangenen Nationalsozialismus wieder findet sondern heute queerbeet
Gruß
Bernie