Die "Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften"

Als die Nazis Okkultisten verhafteten

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Eines der am weitesten verbreiteten Narrative über den Nationalsozialismus ist das der okkultistischen Führungsriege, die angeblich keinen Schritt tat, ohne sich vorher ein Horoskop erstellen zu lassen. Tatsächlich war es nur eine kleine Gruppe innerhalb der NS-Führung, die derartigen Ideen anhing. Ihnen gegenüber stand eine Gruppe, die Okkultismus und Esoterik strikt ablehnte.

So verwundert es nicht, dass bereits 1933 okkultistische und esoterische Vereinigungen als "staatsfeindliche Sekten" eingestuft und teilweise vom SD, dem Sicherheitsdienst der SS, überwacht wurden. Auch verhängte man gegen einige Astrologen Berufsverbote. Am 1. November 1934 wurde die Anthroposophische Gesellschaft verboten, und bis 1938 wurden von acht existierenden Waldorfschulen fünf durch Verbot oder Selbstauflösung geschlossen. Allerdings wurden die anthroposophische Heilpädagogik und biologisch-dynamische Landwirtschaft von Himmler persönlich geschützt. Am 20. Juli 1937 wurde der Befehl von Reinhard Heydrich zur "Auflösung freimaurerlogenähnlicher Organisationen" veröffentlicht.

Der England-Flug von Rudolf Heß und seine Auswirkungen

Den letztendlichen "Todesstoß" versetzte den esoterischen, okkultistischen und spiritistischen Gruppen und Bewegungen allerdings Rudolf Heß, und zwar mit seinem England-Flug.

Rudolf Heß war darüber, dass zwei "urgermanische" Völker wie England und Deutschland im Krieg lagen, schon längere Zeit beunruhigt und entwickelte gemeinsam mit Karl und Albrecht Haushofer den Plan zu einer Friedensmission, die er selbst durchführen wollte. Er plante, nach Dungavel Castle in Schottland zu fliegen und mit Douglas Douglas-Hamilton, dem 14. Duke of Hamilton, persönlich über einen Friedensschluss zu verhandeln.

Als dann sein persönlicher Astrologe Ernst Schulte Strathaus ein Horoskop für Heß erstellte, in dem für den 10. Mai 1941 ein erfolgversprechender Tag für das Unternehmen vorhergesagt wurde – und dies von der Astrologin Maria Nagengast bestätigt wurde –, startete Heß an diesem Tag um 18:10 Uhr mit einer Messerschmitt Bf 110 vom Messerschmitt-Betriebsflughafen Haunstetten bei Augsburg.

Rudolf Heß hatte vor seinem Start einen Brief an Hitler geschrieben und seinen Adjutanten Karlheinz Pintsch beauftragt, diesen zuzustellen. Hitler tobte natürlich, als er den Brief gelesen hatte, den Pintsch ihm am nächsten Tag übergab. Albert Speer spricht in seinen Memoiren von einem "unartikulierten, fast tierischen Laut", den Hitler von sich gegeben haben soll. Pintsch wiederum erklärte, Hitler hätte gefasst reagiert und sei in die Pläne eingeweiht gewesen. Auch sei der Flug mit der britischen Seite abgestimmt gewesen. Welche Version nun stimmt, werden wir heute nicht mehr endgültig klären können. Das gehört aber auch nicht hierher. Werfen wir lieber einen Blick auf die Ereignisse, die als Reaktion auf die "Friedensmission" von Rudolf Heß folgten.

Am 12. Mai 1941 verkündete der Großdeutsche Rundfunk eine Erklärung, nach der Rudolf Heß wahrscheinlich bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen sei. Er habe die Maschine selbst geflogen, gegen Hitlers Verbot und trotz "Spuren einer geistigen Zerrüttung".

Am Nachmittag des 13. Mai 1941 rief Hitler alle Reichs- und Gauleiter der NSDAP zusammen. Nach einer Aussage von Hans Frank erklärte er während dieses Treffens: "Heß ist vor allem ein Deserteur, und wenn ich ihn je erwische, büßt er für diese Tat als gemeiner Landesverräter. Im übrigen scheint mir dieser Schritt stärkstens mitveranlaßt zu sein von dem astrologischen Klüngel, den Heß um sich in Einfluß hielt. Es ist daher Zeit, mit diesem Sterndeuterunfug radikal aufzuräumen."

Joseph Goebbels bezeichnet Heß am 14. Mai in seinem Tagebuch als einen "Narren", dessen Briefe "von einem unausgegorenen Okkultismus" strotzen würden. Verantwortlich dafür sei der Einfluss von Haushofer und Heß' Frau.
Am selben Tag unterrichtete Martin Bormann Heydrich, dass Hitler wünschte, "daß mit den schärfsten Mitteln gegen Okkultisten, Astrologen, Kurpfuscher und dergl., die das Volk zur Dummheit und Aberglauben verführen, vorgegangen werde".

Den offiziellen Befehl hierzu erließ am 15. Mai Joseph Goebbels. Er schreibt dazu in seinem Tagebuch: "Ich gebe einen scharfen Erlaß gegen Okkultismus, Hellseherei etc. heraus. Dieser ganze obskure Schwindel wird nun endgültig ausgerottet. Die Wundermänner, Heß' Lieblinge, werden hinter Schloß und Riegel gesetzt. Anweisung an die Gaue, die Partei über den Tatbestand aufzuklären."

Die "Sonderaktion Heß" beginnt

Beauftragt mit der Umsetzung dieses Befehls wurde Reinhard Heydrich. Er begann am 4. Juni 1941 mit der "Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften", kurz "Sonderaktion Rudolf Heß", indem er alle Leiter der Staatspolizei, die SD-Abschnitte und die Kriminalpolizeistellen im gesamten Deutschen Reich und einigen besetzten Gebieten mit einem geheimen Schnellbrief darüber informierte, dass am 9. Juni zwischen 7 und 9 Uhr morgens diese Aktion zu starten habe.

Auf insgesamt neun Seiten und vier Seiten Anlagen wurde der Ablauf detailliert vorgegeben. Als Begründung heißt es in dem Schreiben: "Im gegenwärtigen Schicksalskampf des Deutschen Volkes ist es erforderlich, nicht nur die körperlichen, sondern auch die seelischen Kräfte des Einzelnen wie des gesamten Volkes gesund und widerstandskräftig zu erhalten. Okkulten Lehren, die vorgeben, daß das Tun und Lassen des Menschen von geheimnisvollen magischen Kräften abhängig sei, kann das deutsche Volk nicht weiter preisgegeben werden. Es ist daher gegen diese Lehren und Wissenschaften mit den schärfsten Sofortmaßnahmen vorzugehen. Eine endgültige gesetzliche Regelung ist bereits in Vorbereitung."

Koordiniert wurde diese Aktion von der Amtsgruppe "Weltanschauliche Gegner" des Reichssicherheitshauptamtes unter der Leitung von SS-Sturmbannführer Albert Hartl.

Insbesondere waren Anthroposophen, Theosophen, Ariosophen, Astrologen, Parapsychologen, Wahrsager, Wunderheiler, Runenleser und Wünschelrutengänger im Fadenkreuz der Aktion. Dabei war es egal, ob es sich um Einzelpersonen oder ganze Organisationen handelte. Der Sicherheitsdienst versorgte die Eingreiftruppen mit Listen und Berichten zu mehreren Hundert Personen.

Hunderte von Hausdurchsuchungen und Vernehmungen wurden durchgeführt, dutzende Meter Schrifttum beschlagnahmt. So wurden beispielsweise die Anthroposophen Gerhard Hardorp und Franz Dreidax, die Ariosophen Jörg Lanz von Liebenfels und Herbert Reichstein, die Wahrsagerin Caroline von Thun und der Verleger Karl Rohm festgesetzt.

Wie viele Inhaftierte es insgesamt gab, ist nicht genau bekannt, geschätzt werden 300 bis 1.000 Personen. Die Strafen reichten von polizeilichen Verwarnungen bis zur Haft in Konzentrationslagern. Emil Bock, der Anthroposoph und Mitbegründer der anthroposophisch orientierten Christengemeinschaft, wurde am 11. Juni 1941 verhaftet. Er kam zunächst für drei Wochen in das Polizeigefängnis Stuttgart Schmale Straße und wurde dann in das Schutzhaftlager Welzheim überstellt.

Am 5. Februar 1942 wurde Bock wieder aus der Haft entlassen. Zwei Tage zuvor war sein Mitstreiter Georg Moritz von Sachsen-Altenburg verhaftet worden. Er kam neuneinhalb Monate in staatspolizeiliche Schutzhaft und musste damit von allen namhaften Anthroposophen die längste Haftstrafe verbüßen. Der Astrologe Hubert Korsch wurde vermutlich im April 1942 im KZ Sachsenhausen per Genickschuss durch die SS ermordet. Sein Kollege Walter A. Koch verbrachte nach seiner Festnahme drei Jahre in Haft, die meiste Zeit davon im KZ Dachau.

Der Freimaurer und Theosoph Johannes Maria Verweyen war im Rahmen der "Aktion Heß" zur Fahndung ausgeschrieben. Am 27. August 1941 verhaftete ihn die Gestapo während einer Vortragsreise in Frankfurt am Main. Er wurde am 8. September 1941 zunächst in das Polizeipräsidium Alexanderplatz überstellt. Ohne gerichtliche Verurteilung wurde er am 23. Mai 1942 in das KZ Sachsenhausen verlegt. Am 7. Februar 1944 kam er dann ins KZ Bergen-Belsen, wo er am 21. März 1945, drei Wochen vor der Befreiung durch britische Truppen, an Fleckfieber starb.

Ernst Schulte Strathaus, der das erste Horoskop für den "Englandflug" von Heß erstellt hatte, wurde als dessen enger Vertrauter bereits am 14. Mai 1941, also vor der eigentlichen "Aktion Heß", verhaftet. Zunächst war er elf Monate im Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 in Einzelhaft. Danach war er bis zum 3. März 1943 im KZ Sachsenhausen.

Einige der Inhaftierten wurden 1942 zum Oberkommando der Kriegsmarine überstellt, um in der "Abteilung SP" mitzuarbeiten, wo sie mit Hilfe von "siderischen Pendeln" feindliche Schiffe und Geleitzüge orten sollten.

Joseph Goebbels notierte hierzu am 13. Juni 1941 in seinem Tagebuch: "Alle Astrologen, Magnetopathen, Anthroposophen etc. verhaftet und ihre gesamte Tätigkeit lahmgelegt. Damit ist diesem Schwindel endgültig ein Ende gemacht. Sonderbarerweise hat nicht ein einziger Hellseher vorausgesehen, daß er verhaftet wurde. Ein schlechtes Berufszeichen."

Weiteres Vorgehen gegen Okkultisten

Martin Bormann, der nach dem England-Flug von Heß dessen Nachfolge in der Partei-Organisation übernahm und als Reichsminister ohne Geschäftsbereich Mitglied der Regierung und des Ministerrats für die Reichsverteidigung wurde, ging auch nach Beendigung der "Sonderaktion Rudolf Heß" weiter gegen jegliche Art von Esoterik und Okkultismus vor – selbst wenn es sich nur um harmlose Bühnentricks handelte.

Ein prominentes Beispiel für dieses rigorose Vorgehen ist der Fall von Erik Jan Hanussen, einem berühmten Bühnenmagier und Hypnotiseur. Obwohl Hanussen bereits 1933 ermordet worden war, verdeutlicht sein Fall, wie stark die Nationalsozialisten jeden Verdacht auf okkulte Praktiken bekämpften, insbesondere wenn sie mit jüdischem Hintergrund in Verbindung gebracht werden konnten. Auch andere Zauberer und Hypnotiseure wurden verfolgt, selbst wenn ihre Aktivitäten keinerlei esoterische oder ideologische Grundlage hatten.

Bormanns Ziel war es, die nationalsozialistische Weltanschauung von allem zu reinigen, was als irrational, abergläubisch oder spirituell empfunden wurde. In einem Brief an die Reichsleiter schrieb er: "Im Kampf um die geistige Führung unseres Volkes kann es nicht geduldet werden, daß Einzelne oder Gruppen sich anmaßen, durch okkulte Praktiken Einfluss auf die Bevölkerung zu nehmen. Jegliche derartige Tätigkeit ist daher mit aller Entschiedenheit zu unterbinden."

Selbst in Bereichen, die auf den ersten Blick nichts mit Esoterik zu tun hatten, wurden Maßnahmen ergriffen. So führte die Gestapo Listen über sogenannte "Volksverführer", darunter Handleser, Pendler, Kartenlegerinnen und Wahrsagerinnen. Diese wurden entweder inhaftiert oder gezwungen, ihre Tätigkeit vollständig einzustellen.

Okkultismus als Feindbild des Nationalsozialismus

Die fanatische Ablehnung des Okkultismus durch Teile der NS-Führung hatte mehrere Gründe. Zum einen betrachteten sie okkulte und esoterische Bewegungen als Konkurrenz zu ihrer eigenen Ideologie, die als einzig gültige Weltanschauung etabliert werden sollte. Zum anderen galten viele dieser Bewegungen als international vernetzt, was sie in den Augen der Nationalsozialisten zu potenziellen Bedrohungen machte. Besonders die Freimaurerei wurde als Feindbild aufgebaut, da sie in den antisemitischen Verschwörungstheorien der Nationalsozialisten oft mit dem "Weltjudentum" in Verbindung gebracht wurde.

Ein weiterer Faktor war die Angst vor Unkontrollierbarkeit. Während die nationalsozialistische Propaganda und Ideologie auf Massenbeeinflussung und Rationalisierung abzielte, entzogen sich esoterische Bewegungen dieser Logik durch ihre individuelle und oftmals geheime Natur. Das machte sie in den Augen der Machthaber gefährlich und unberechenbar.

Schließlich spielte auch der persönliche Groll von Personen wie Himmler, Heydrich oder Bormann eine Rolle, die Okkultismus und Esoterik als gefährlichen Unsinn betrachteten. Diese Haltung spiegelt sich nicht nur in offiziellen Dokumenten, sondern auch in Tagebucheinträgen und internen Protokollen wider.

Das Erbe der "Aktion gegen Geheimlehren"

Nach Kriegsende setzte sich die Auseinandersetzung mit Okkultismus und Esoterik auf anderer Ebene fort. Viele der während der "Sonderaktion Rudolf Heß" beschlagnahmten Materialien wurden von den Alliierten untersucht und archiviert. Einige Historiker argumentieren, dass diese Dokumente dazu beitrugen, das Bild einer "okkultistischen NS-Führung" zu prägen – ein Bild, das bis heute in populären Darstellungen des Dritten Reiches präsent ist.

In der Forschung gilt es jedoch als weitgehend gesichert, dass die nationalsozialistische Führung in ihrer Gesamtheit keine einheitliche Haltung zum Okkultismus hatte. Während Einzelpersonen wie Rudolf Heß und Karl Haushofer sich für esoterische Ideen interessierten, war die überwältigende Mehrheit der Führungsriege bestrebt, diese Strömungen zu unterdrücken. Die "Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften" war Ausdruck dieser Bemühungen und ein Beispiel dafür, wie rigoros der Nationalsozialismus alles verfolgte, was nicht mit seiner Ideologie vereinbar war.

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