Säkulares im neuen Grundsatzprogramm der Grünen

sonnenblume.jpg

Nach 20 Jahren brauchte die Grüne Partei dringend ein neues Grundsatzprogramm. Am vergangenen Wochenende konnte dieser Prozess erfolgreich abgeschlossen werden. Der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) ging ein höchst aufwendiger Prozess voraus, an dem viele Gliederungen der Partei über Jahre engagiert mitgearbeitet haben. Die nunmehr beschlossenen neuen Leitlinien sollen für die nächsten 20 Jahre gelten.

Wegen Corona war eine Präsenzveranstaltung nicht möglich. Die BDK musste in digitaler Form vorbereitet und durchgeführt werden. Die Partei bearbeite so ihr gesamtes Programm mit über 1.200 Änderungsanträgen. Die CDU schafft es dem gegenüber nicht einmal, ihren Vorstand ohne Verschiebungen und große Verwerfungen zu wählen. Wer ist da zukunftsfähig und wer eher nicht?

Bei aller Freude über das Gelingen: Wie viele Mittel unser Land noch in seine digitale Infrastruktur investieren muss, zeigt der Verlauf der Bundesdelegiertenkonferenz selbst. Es holperte und knirschte technisch an vielen Ecken. Wir haben live lernen müssen, was noch passieren muss, bis beispielsweise die Videokommunikation in Bild und Ton so selbstverständlich abläuft wie ein Telefonat. Das ist aber noch nicht alles. Big Data, Datenschutz und Künstliche Intelligenz sind längst keine Herausforderungen mehr für eine ferne Zukunft. Die Regierung Merkel hat auf diesem Gebiet vieles versäumt; hier hat die nächste Bundesregierung eine Menge Arbeit vor sich. Die Zeit der gemächlichen Wiedervorlagen ist vorbei.

Klimawandel, Bürgerbeteiligung, Soziale Sicherung und die Überwindung von Agrarromantik durch den Einsatz von Gentechnik waren die hervorstechenden Themen der BDK. Unsere von Annalena Baerbock und Robert Habeck umsichtig und zielstrebig geführte Partei will aber mehr. Ein Grundsatzprogramm muss einen umfassenden Entwurf grüner Politik bieten. Dazu gehört auch die komplexe Gesellschaftspolitik, die bei den Vorbereitungen eine wichtige Rolle spielte. Viele Bereiche der Partei waren daran beteiligt, auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne.

Oftmals entsteht nach außen der Eindruck, als ob die Oberen der Partei allzu kirchenfromm agieren und uns ausbremsen. Die Behandlung unserer zahlreichen Anträge auf der BDK verlief indes korrekt und fair.

Faire Verfahren bedeuten aber längst keine Harmonieveranstaltung; darauf waren wir gut vorbereitet. Selbstverständlich prallen in den Verhandlungen unterschiedliche Positionen aufeinander. Insbesondere mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen gab es scharfe Auseinandersetzungen. Schade, dass sich diese BAG mehr und mehr als Lobby der Amtskirchen aufführt. Die Kolleginnen und Kollegen waren vor Jahren schon einmal zukunftsfähiger unterwegs.

Unter dem Strich können wir Säkulare eine positive Bilanz des Programmprozesses ziehen. In wesentlichen Punkten konnten wir eigene Akzente setzen oder wenigstens die Weichen in eine richtige Richtung stellen.

Ganz besonders am Herzen gelegen war uns eine verbindliche Beschlusslage zum assistierten Suizid. Die Partei hat endlich zu der Einsicht gefunden, dass zu einem Leben in Würde auch ein Sterben in Würde gehört. Fehlte in der Programmvorlage noch eine solche Aussage, konnten wir die Partei schließlich davon überzeugen, diese Lücke zu schließen. Nunmehr heißt es: "Das Recht auf selbstbestimmtes Leben schließt – nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – selbstbestimmtes Sterben frei von Druck ein". Diese Formulierung, über die wir lange verhandelt haben, wurde mit 648 Ja- gegen lediglich 38 Neinstimmen beschlossen. Das ist ein großer Konsens. Darüber hinaus haben wir die Zusage bekommen, dass die Partei den Gesetzgebungsprozess im Bundestag kritisch begleiten kann. Es ist endlich Schluss damit, dass wir mit dem Hinweis auf die Gewissensfreiheit der Abgeordneten auf Parteitagen abgebügelt werden.

Durchsetzen konnten wir in den Verhandlungen, dass im neuen Grundsatzprogramm nicht immer nur die Angehörigen der abrahamitischen Religionen erwähnt werden. Grüne haben nach langem Zureden verstanden, dass über ein Drittel Religionsfreie im Lande leben. Die am Ende gefundene Formulierung ist ein wenig schwächlich, aber wenigstens wird jede Benachteiligung untersagt. Klar aber auch, dass wir Säkulare dafür sorgen müssen, diese allgemeine Aussage in konkretes Handeln umzusetzen. Der Ort dafür ist das anstehende Programm für die Bundestagswahlen im September 2021, das alsbald geschrieben wird.

Erfreulich ist, dass auch in kirchlichen Betrieben Koalitionsfreiheit, Streikrecht, betriebliche Mitbestimmung, Tarifverhandlungen und das umfassende Prüfungsrecht durch Arbeitsgerichte als soziale Grundrechte gelten sollen. Bei Grüns ist der "besondere kirchliche Weg" künftig wegen Baufälligkeit gesperrt!

Verständigt hat sich die Partei auch darauf, dass sich der säkulare Staat am Neutralitätsprinzip ausrichten muss. Das geht – Säkulare sagen das seit Jahr und Tag - nicht ohne eine grundlegende Reform des "Staatskirchenrechts", dieser 100jährigen Mumie aus der Weimarer Reichsverfassung. Bündnis 90/Die Grünen bekennt sich zu einem "pluralen" Religionsverfassungsrecht. Das hatte die Partei auch schon so in ihrem Grundsatzbeschluss von Münster 2016 vorgegeben. Hier müssen wir künftig noch konkreter werden.

Die deutsche Gesellschaft ist religiös und weltanschaulich plural, für Säkulare eine Nachricht mit geringem Neuigkeitswert. Eine plurale Gesellschaft braucht den friedensorientierten Dialog. Dabei geht es auch um die Freiheit, nach anderen als religiösen Vorstellungen zu leben. Eine säkulare Selbstverständlichkeit, im politischen Berlin und den Regierungssitzen der Länder aber immer noch äußerst schwere Kost.

Wenigstens hat sich die Partei von einer "politisch korrekt" verordneten Pflicht zur Selbstverblödung im Gewand multikultureller Einfalt verabschiedet und ihre kritische Sicht auf das Treiben islamistisch-religiöser Verbände verstärkt. Das hatten wir bereits vor Jahren in der "Religionskommission" des Bundesvorstands und später im Grundsatzbeschluss der Partei von Münster 2016 so festgehalten. Aber es gibt immer wieder Hemmnisse und sogar Rückschläge in der praktischen Politik. Insofern ist es wichtig, dass die Partei einhellig ihre Haltung bekräftigt hat.

Wer als Organisation künftig mit dem Staat zusammenarbeiten will, hat künftig gefälligst die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes ohne Wenn und Aber anzuerkennen und sich aus der Abhängigkeit von autokratischen Regimen zu lösen. Die Religionsfreiheit ist ein Grundrecht neben anderen, aber kein Obergrundrecht. Die Grundrechte sind keine Verfügungsmasse für Religionen, gerade in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und der Behandlung von LGBTIQ.

Dass Moscheen und muslimische Gemeinden vor Bedrohungen und Angriffen geschützt werden und die Sicherheit von Muslim*innen zu gewährleisten ist, sollte auch für Säkulare eine Selbstverständlichkeit sein. Menschen anpöbeln und ihnen Gewalt anzutun, ist stets ein verwerflicher Akt der Menschenfeindlichkeit. Es ist uns Säkularen aber gelungen, den islamistischen Kampfbegriff des "antimuslimischen Rassismus" aus dem Programm zu verbannen. Mit unserer Zustimmung heißt es nun richtigerweise "Muslim*innenfeindlichkeit zu bekämpfen ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft". Das ist die richtige Balance zwischen kritischer Distanz zu jeder Form des Islamismus und dem Schutz von Menschen, die ihr Grundrecht auf freie Religionsausübung in Anspruch nehmen.

Dass die komplette Digitalisierung eines Parteitags auch ihre Tücken hat, haben wir bei der Diskussion über die Gleichstellung des Islam mit anderen Religionen erlebt. Die BAG Säkulare Grüne wollte die Staatsverträge als Terminus technicus nicht im Programm haben. Leider hatten wir drei verschieden Änderungen in einem Satz untergebracht, in trauter Eintracht mit dem vermaledeiten "antimuslimischen Rassismus". Technisch ließen sich die drei Punkte nicht mehr auseinandernehmen. Um aber das Fass in seiner Gesamtheit nicht nochmal aufzumachen, haben wie vorgelegte Formulierung zu den "Staatsverträgen" mal so hingenommen. Die sind aber nicht als positives Beispiel in Erz gegossen. Sie bilden lediglich die normative "Messlatte" insbesondere für Islamverbände, die als Körperschaften anerkannt werden wollen. So wie die Dinge liegen, überspringen sie diese Marke noch lange nicht – sie gleiten noch lange wie wenig elegante Limbotänzer unter ihr hinweg.

Einen ordentlichen Krach gab es zum Schulfach "Ethik-Philosophie-Religionskunde". Auf unseren Formulierungsvorschlag entgegneten die Christen mit heiligem Zorn und querulatorischer Renitenz. Sie hatten große Angst davor, dass ein gemeinsamer "inklusiver" Unterricht in öffentlicher Trägerschaft für alle Kinder und Jugendlichen vom ersten Schuljahr an den Einfluss der Kirchen auf den Unterricht mindern würde. Schließlich leidet der kirchliche Religionsunterricht an akuter Schwindsucht. Um ihn vor einer weiteren Auszehrung zu bewahren, wurde eine Verständigung mit dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit unseres Modells blockiert. Dieser Vorwurf fällt allerdings auf deren Modell nach Hamburger Vorbild selbst zurück. Die Kirchen sollen danach den Unterricht für alle maßgeblich gestalten dürfen. Der Kölner Kardinal Woelki als oberster Vertuscher des Kindesmissbrauchs in seiner Kirche hätte dann für die Schulen des Landes NRW das letzte Wort. Eine derart unzulässige Klerikalisierung der Schulen durch die Hintertür ist mit den Säkularen Grünen in keiner Weise zu machen.

Nach dem Scheitern der Konsenssuche will der Vorstand auf unsere Anregung hin bis zum Bundestagswahlprogramm eine Schlichtung durchführen. Leider steht deshalb nichts zum Thema im Grundsatzprogramm. Aber unser Vorschlag ist beileibe nicht vom Tisch. Die Auseinandersetzung geht weiter.

Ein offenes Wort an alle Säkularen: Parteien ticken anders als gesellschaftliche Organisationen, die sich um ein bestimmtes Thema herum bilden. Trotzdem zeigen die Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monate, dass es sich lohnt, mit einer guten Portion Frustrationstoleranz für säkulare Positionen zu kämpfen. Unerlässlich ist jedoch, dass diese innerparteilichen Debatten begleitet werden von einem breiten gesellschaftlichen Druck von außen. Um in den Parteien etwas zu bewegen ist diese gesellschaftlich „kritische Masse“ stets vonnöten. Mit diesem Rückenwind führen innerparteiliche Entscheidungsprozesse deutlich schneller und erfolgreicher zum Ziel.

Unterstützen Sie uns bei Steady!