Humanismus - Reformation - Aufklärung

WEIMAR. (hpd) “Die Debatte ist längst überfällig”, schreibt Herausgeber Frieder Otto Wolf in seinem Vorspruch zur Broschüre ‘Humanismus – Reformation – Aufklärung’ des Humanistischen Verbandes (HVD) Berlin-Brandenburg, denn im “Rahmen der großzügig staatlich geförderten Luther-Dekade wird eine auf religiöse (d.h. hier protestantische) Perspektive verengte Geschichtsbetrachtung bisher weitgehend unwidersprochen betrieben – allerdings wohl auch unter ziemlich geringer öffentlicher Aufmerksamkeit.” (S. 4)

Dem ist zuzustimmen, denn das Interesse breitester Bevölkerungskreise an der Luther-Dekade – einschließlich der angeblichen Kernländer der Reformation Sachsen-Anhalt und Thüringen – hält sich doch sehr in Grenzen. Ganz im Gegensatz zur eifernden Begeisterung bei politisierenden Theologen, kirchenfreundlichen Landesregierungen, in der Bundespolitik und den Feuilletonredaktionen der Mainstream-Medien.

Widerspruch kommt in der veröffentlichten Meinung meist nicht vor. Warum wohl? Diese Frage möge sich ein jeder nachdenkbereiter Mensch selbst beantworten. Dennoch, Widerspruch ist auch medial präsent. Ein prägnantes Beispiel für hochqualitativen und zugleich lesbarem Widerspruch stellt die, in zwei Teile gegliederte, vorliegende Wortmeldung des HVD dar.

In ihrem ersten Teil setzt sie sich mit geschichtspolitischen Ansprüchen, die im Rahmen der Luther-Dekade erhoben werden, auseinander. Die Autoren der einzelnen Artikel bleiben aber nicht bei kritischen Urteilen stehen, vielmehr noch “skizzieren sie alternative Perspektiven eines humanistischen Blicks auf die Neuzeit”, so der Herausgeber. Dem ist nach der Lektüre voll zuzustimmen.

Zunächst geht Horst Groschopp, der Ende Mai emeritierte Direktor der Humanistischen Akademien Deutschland und Berlin-Brandenburg, kommentierend auf die Fragestellung “Lutherehrung 2017 – und der Humanismus”. Gegenstand seiner Betrachtung ist die politische und finanzielle “Förderung des Lutherjahres 2017”.

Groschopp erwähnt eingangs die große Kultur-Enquete des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 2007, in dem der Begriff “Humanismus” nicht ein einziges Mal vorgekommen ist. Vier Jahre später beschloß der Bundestag einstimmig (!) die Förderung der sogenannten Luther-Dekade mit dem Höhepunkt 2017 – mit je sechs Millionen Euro jährlich…

Sein Kommentar: “An diesem Beschluß ist erstens interessant und durchaus eine politische wie juristische Neuheit, daß der Bundesstaat Deutschland beabsichtigt, eine besondere Religion und eine einzelne Kirche zu unterstützen, über die besagten sechs Millionen hinaus.” (S. 6) Groschopp weist ferner auf Luthers bis in die Neuzeit nachwirkende Einstellungen wider den Humanismus, aufbegehrende leibeigene Bauern oder die Juden hin.

Der Religionssoziologe Richard Faber schreibt anschließend “Gegen Personenkult, Refomationsmonopol und weltschauliche Exklusivität”. Er geht darin u.a. auf den angeblichen Luther’schen Thesenanschlag ein und verweist darauf, daß die Reformation keine “einfach lutherische” gewesen sei, sondern daß es neben Luther viele weitere nachwirkende Reformatoren gegeben habe. Und so fragt er, warum sich nicht wenigstens die sich auf Zwingli und Calvin berufenden heutigen EKD-Mitgliedskirchen dem heute Luther entgegebrachten Personenkult entzogen haben.

Faber nimmt kein Blatt vor dem Mund, wenn er feststellt: “Daß sich protestantische Gruppierungen und (Landes-)Kirchen in der späteren Neuzeit früher und (wesentlich) weitergehend als der Katholizismus Toleranz und Vernunft geöffnet haben, ist unbestritten, doch eben nicht wegen, sondern trotz Luthers. (…) ‘Gegen Liberalismus, Demokratie und Kommunismus’ wird das protestantische Ideal eines harmonisierten Gemeinwesens im Sinne einer konservativen gesellschaftlichen Revolution” (S. 18–19) in Stellung gebracht. Und das nicht nur nach 1848 und 1918 (so Faber), sondern auch nach 1989! Warum wohl heuer und dazu noch mit aller geballten Macht?

Eingehend widmet sich dann Hubert Cancik dem “Mythos Reformation”. Zu Programm und Ziel der Lutherdekade 2008 – 2017 schreibt er u.a.: “Das Protestantische ist demnach [für die Träger dieser Dekade; SRK] Ursache, Basis, Grundlage für alle Errungenschaften der neuzeitlichen Kultur: für Allgemeinbildung und allgemeine Schulpflicht, die Vorstellungen für Personalität, Individualität, Freiheit, von Toleranz, Gleichheit und Demokratie…” (S. 24) Cancik dazu kurz und bündig: “Keine dieser Aussagen ist ein unumstrittener, eindeutiger, vollständiger, geschichtlicher Befund.” (S. 25) Aber warum werden dann solche ahistorischen Ansprüche lauthals und mit frommen Augenaufschlag verkündet? Weil damit der Anspruch des Klerus verkündet wird, “auch künftig der Kultur, der Kunst, den Wissenschaften und gesellschaftlichen Strukturen eine ‘protestantische Signatur’ einzuprägen.” (S. 25).

Cancik weist prononciert eine ganze Reihe weiterer geschichtsklitternder Anmaßungen der klerikalen Luther-Epigonen zurück. Seiner Feststellung, “daß auch das Lutherjubiläum im Jahre 2017 in hohem Maße politisiert ist” (S. 27) kann der objektive Beobachter des Geschehens ohne Wenn und Aber zustimmen.

Cancik ist Wissenschaftler und widerspricht daher der Verengung des Geschichtsbildes, die nur zu sakraler Verklärung und konfessioneller Vereinnahmung führt. Seine objektive Geschichtsbetrachtung führt zu dieser Feststellung: “Ohne Renaissance keine Reformation, ohne Humanismus kein Luther.” (S. 29) und geht diesbezüglich auch kurz auf Luthers humanistisches Erbe ein. Dennoch, die nicht nur von Luther postulierte “…christliche Gleichheit ‘im Herrn’ diente dagegen gerade dazu, einen jeden in seinem Stande festzuhalten: Der Sklave bleibt Sklave, der Herr bleibt Herr.” (S. 32) Und wohl auch deshalb wird gerade heute angesichts zunehmender globaler Krisen der Kern dieser “christlichen Gleichheit” für die ökonomisch und politische Herrschenden immer wichtiger: Damit die da unten nicht gegen die da oben aufbegehren…

Sehr hervorhebenswert ist der Artikel von Herausgeber Frieder Otto Wolf “Geschichtspolitik ohne Geschichtswissenschaft”. Diese 3-Wort-Überschrift spricht so sehr für sich, so daß auf die Inhalte von Wolfs “Einwände zur Konzeption der Luther-Dekade” gar nicht im Detail eingegangen werden braucht.

Daher sollen nur einige Fragen und Thesen des Autors angeschnitten werden. So heißt es gleich eingangs zur Konzeption dieser staatlich überaus freigiebig geförderten kirchlichen Veranstaltung, daß diese geschichtswissenschaftlich unzureichend und geschichtspolitisch verkürzt sei: “Schon dem allereinfachsten Anspruch an eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung, nämlich darzustellen, ‘wie es gewesen ist’, kann in einer derart angelegten Geschichtsinszenierung nicht mehr angemessen entsprochen werden. (…) Eine derartig oberflächliche Ereignis- und Personengeschichte, die weder auf Strukturen und Mechanismen, noch auf Prozesse von langer Dauer eingeht, kann heute nur als wissenschaftlich regressiv gelten.” (S. 37 – 38)

An anderer Stelle formuliert Wolf, daß diese Konzeption aus humanistischer Perspektive einseitig und geradezu geschichtsblind sei: Aus dieser Perspektive stelle sich “die Luther-Dekade im doppelten Sinne als ein im schlechten Sinne klerikales Projekt dar: Es übersieht oder verdrängt die säkulare Dimension des Übergangs zur europäischen Neuzeit und rückt stattdessen die Fragen der religiösen Doktrinen und der kirchlichen Organisation in den Vordergrund.” Das führe “zu einer ausschließlichen, völlig übermäßigen Fokussierung des zu beachtenden historischen Geschehens auf innerkirchliche und religiöse Vorgänge” (S. 45) und klammere dazu auch noch andere Dimensionen der europäischen Kulturgeschichte voll aus.

Warum dies? Wolf bietet folgende plausible und nachvollziehbare Antwort an: “Damit stellt sich die Luther-Dekade in ihrer gegenwärtigen Konzeption als eine geschichtspolitische Erweiterung des Versuchs dar, allein die [christliche; SRK] Religion zur hinreichenden Quelle öffentlicher und privater moralischer Haltungen zu erklären – wie dies in Berlin in der Initiative ‘pro Reli’ aktiv betrieben worden ist. Diesem Versuch liegt die empirisch falsche und normative inakzeptable These von der ‘Rückkehr des Christentums’ zu Grunde.” (S. 46 - 47)

Schwach allerdings ist Wolf Fazit mit seiner Forderung nach einer radikalen Überarbeitung der Lutherdekaden-Konzeption. Sie mutet naiv an (er gibt allerdings zu, daß eine solche Korrektur mehr als unwahrscheinlich ist). Denn an wen könnte sich seine Forderung richten? An die Damen und Herren Bischöfe der evangelischen Kirchen? Die wollen doch nur ihre klerikale Weltsicht propagieren und durchsetzen! An den sogenannten wissenschaftlichen Beirat der Luther-Dekade? Nun, der setzt sich fast ausschließlich aus Theologen zusammen! An die Politik in Bund in Ländern? Nun in Parlamenten und Regierungen dominieren Politiker, die ihren Amtseid mit einem “So wahr mir Gott helfe” ablegen…