Am 23. März 1933 erließ der NS-Staat ein Verbot der Jugendweihen. Illegal oder als Familienfeier getarnt fanden aber bis Kriegsbeginn noch vereinzelt Jugendweihen statt. Herbert Diercks hat eines der wenigen Beispiele recherchiert.
Ein Beispiel für Bemühungen von Eltern und Freunden, Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung auch nach 1933, unter den Bedingungen der NS-Diktatur, zu pflegen und die Werte ihren Kindern zu vermitteln, ist ein Jugendweihekursus 1934/35 mit einer abschließenden traditionellen Jugendweihefeier am 24. März 1935. Die Staatspolizei erhielt erst im Nachhinein Kenntnis von diesem Kursus und der Feier; ansonsten hätten sie nicht stattfinden können. Die Organisationen, die in der Weimarer Republik solcherlei Kurse veranstalteten und die der Arbeiterbewegung nahestanden, waren 1933 verboten worden.
Über diesen Kursus berichtete Melanie Wulf, die Tochter von Fritz von Hacht, 1989 in einem Interview mit Beate Meyer; die Transkription befindet sich in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Ihre Erinnerungen zeigen, dass auch in der Familie von Hacht Möglichkeiten gesucht, gefunden und genutzt wurden, die Traditionen der Arbeiterbewegung weiter zu pflegen und ideelle Werte der Arbeiterbewegung an die Kinder, also an sie und ihren Bruder Fritz, zu vermitteln.
Kurz wenige Informationen über die Familie von Hacht, mit dem Hauptblick auf Fritz von Hacht, über den die meisten Informationen vorliegen.
Vater Fritz von Hacht, 1898 in Hamburg geboren, war bereits selbst in einer sozialdemokratisch orientierten Familie in Hamburg-Rothenburgsort aufgewachsen. Nach der Volksschule musste er eine Lehre als Kupferschmied beginnen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Die Lehre brach er jedoch bald ab und arbeitete in den folgenden Jahren als Bote, Hausdiener und Bauhilfsarbeiter. Als Jugendlicher schloss er sich der SPD an, eigenen Angaben zufolge war das 1912, 1924 wurde er Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Fritz von Hacht wurde Distriktleiter der SPD.
1919 heiratete er Erna Behrens, eine Kranführerin, die auch trotz der zwei Kinder, die 1920 und 1923 geboren wurden, zeitlebens berufstätig blieb. Tochter Melanie war die Erstgeborene, Sohn Fritz kam später. Die Verbundenheit der Familie mit der Arbeiterbewegung beeinflusste das Erwerbsleben der Eltern und die Freizeit. Dazu gehörte, dass die Kinder Mitglieder der Kinderfreunde und nicht getauft wurden.
Über den Jugendweihekursus von 1934/35 liegen nahezu keine Informationen vor, Hauptquelle ist das Interview mit Melanie Wulf.
Der Kursus fand in einem Volksheim in der Marschnerstraße in Hamburg-Barmbek-Süd statt. Kursleiter war Max Zelck, ehemaliges Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft für die SPD, Schulrat und Lehrer (1933 aus dem Schuldienst entlassen), der sich bereits in der Weimarer Republik für die Jugendweihe einsetzte und dessen 1927 erstmals erschienene Buch "Der Jugend geweiht" Jugendlichen anlässlich der Abschlussfeiern überreicht wurde. Der Kursus endete mit einer Jugendweihefeier in der "Schilleroper" in Hamburg-St. Pauli am 24. März 1935. Das Theater hatte 1.500 Plätze, die mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, Verwandten und Freundinnen und Freunden alle besetzt waren. Etliche Elternteile waren zu dieser Zeit inhaftiert, so auch der Vater der Zeitzeugin, Fritz von Hacht, der sich am sozialdemokratischen Widerstand beteiligt hatte.
Ein kurzes Zitat aus den Erinnerungen Melanie Wulfs über Vorsichtsmaßnahmen des Kursleiters:
"… das war so interessant, dieser Unterricht, das hat der immer so wunderschön gemacht, daß wir wirklich alle gehorcht haben. Und wir konnten auch das nächste Mal wieder erzählen, was er uns aus der Arbeiterbewegung und so [erzählt hatte]. Und dann war das … bei dem Max Zelck so, er hat dann gesagt: 'Also wir haben den-und-den Unterricht, ich erzähle euch das-und-das, und wenn hier die Türe jetzt mal aufgeht und es kommt jemand rein, dann dürft ihr euch nichts dabei denken, wenn ich ein anderes Thema anfange.'"
Das zweite Zitat verdeutlicht die Bedeutung der Jugendweihe, die von Nachbarn genutzt wurde, die Familie zu unterstützen:
"Und dann sind wir nach Hause gekommen … nachmittags zum Kaffee … und es, unsere Haustüre, unsere Klingel, er hielt überhaupt nicht auf. Erstens waren viele Leute da, die Verwandten, aber es kamen viele Leute; manche blieben an der Türe stehen, ich kannte die gar nicht, die gaben etwas ab. Ich habe so viele Geschenke gekriegt, aber auch sehr viel Geld, und das war eine Unterstützung. Das war gar nicht für mich, ein Geldgeschenk. … Also, das war eine regelrechte … Aktion, wo, wie gesagt, ich kannte die Leute gar nicht, die ich gesehen habe da ja vor der Türe, die nur abgegeben haben und sofort wieder weg."
Dazu muss man wissen, dass ihr Vater, Fritz von Hacht, im Stadtteil ein sehr bekannter und geachteter Sozialdemokrat war. Schon bald nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten hatte er an geheimen Treffen mit sozialdemokratischen Genossen teilgenommen und sich an der Herstellung und Verteilung illegaler Schriften und Flugblätter der verbotenen SPD beteiligt. Im Februar 1935 hatte die Staatspolizei ihn und seine Genossen verhaftet. Im Konzentrationslager Fuhlsbüttel wurde Fritz von Hacht mehrfach schwer misshandelt. Im August 1935 verurteilte ihn das Hanseatische Oberlandesgericht zu einer Zuchthausstrafe von eineinhalb Jahren.
Die vielen Geldgeschenke aus der Nachbarschaft und dem Wohngebiet dienten der solidarischen Unterstützung der Familie, die auf öffentliche Fürsorge angewiesen war.
Das dritte Zitat aus dem Interview zeigt, dass die Jugendweihe ein Mosaikteil einer Prägung war, die nachhaltig wirkte. Nach Kriegsende schloss sich Melanie von Hacht der SPD an und setzte sich für die Erinnerung an Widerstand und Verfolgung 1933–1945 ein.
"Diese Jugendweihe, die war so phantastisch, die war so ergreifend auch, denn das waren vielleicht überwiegend Kinder dabei, wo die Väter schon, beziehungsweise auch Mütter auch weg waren. … Das war meine Jugendweihe, die ich … mein Leben lang nicht vergessen werde."
Melanie von Hacht erinnerte sich an ein Kind eines weiteren, mit ihrem Vater verhafteten Sozialdemokraten aus Rothenburgsort, das mit ihr den Jugendweihekursus besuchte. Es ist davon auszugehen, dass auch Kinder aus kommunistisch orientierten Elternhäusern diesen Kursus besuchten. So hat auch Irma Thälmann, die Tochter des 1933 verhafteten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, 1935 in Hamburg die Jugendweihe gefeiert.
Bezeichnend ist, dass der Jugendweihekursus in einem Volksheim stattfand. Die Heime der "Gesellschaft 'Volksheim' e.V." waren bis 1933 beliebte Treffpunkte junger Menschen, die den unterschiedlichen Parteijugendorganisationen der Arbeiterbewegung angehörten und sich dort politisch austauschten. Mit einem vielfältigen Veranstaltungsangebot widmete sich der Träger der Volksheime der Aufgabe, Einigkeit unter den Mitgliedern und Anhängern der politisch zersplitterten Organisationen der Arbeiterbewegung zu stiften. Ein besonderer Wert wurde auf die Jugendarbeit gelegt. Nach 1933 beteiligten sich etliche junge Menschen, die einst Mitglieder der Volksheim-Jugend waren (sowie gleichzeitig der SAJ, des KJVD oder des SJVD), am Widerstand. Obwohl der Trägerverein 1933 "gleichgeschaltet" wurde, bot zumindest das Volksheim in der Marschnerstraße die Möglichkeit für solcherlei halblegaler oder illegaler Aktivitäten.
Fritz von Hacht konnte nicht an der Jugendweihefeier seiner Tochter teilnehmen, er war in Haft. Er machte sich große Selbstvorwürfe. Immerhin schrieben ihm seine Frau und Tochter Melanie einen Brief und berichteten von der Feier. Dieser Brief ist erhalten. Dieser hatte für Fritz von Hacht, der sich in Einzelhaft befand, schwere Misshandlungen zur Folge. Der Begriff "Jugendweihe", der für das Festhalten an Traditionen der Arbeiterbewegung stand, war bei der Zensur durch die Gestapo durchgestrichen und durch "Konfirmation" ersetzt worden.
Ein kurzes Zitat aus diesem Brief:
"Die Jugendweihe war in der Schiller Oper – es war sehr nett, die ganzen Plätze waren ausverkauft, wir wollten 15 Plätze haben und nur 4 bekommen, trotzdem jeder Platz 50 Pfennig kostete. Die Weihe war um 10 Uhr, um 1 Uhr waren wir wieder im Hause, wie gesagt, es war sehr feierlich, für mich aber auch sehr schwer, denn als erstes kam ein Lied, nach der Melodie 'Freiheit, die ich meine', da kannst du dir denken wie mir zu Mute war."
Fritz von Hach berichtete darüber in den 1980er-Jahren: "In einem Brief, den meine Frau anläßlich der Jugendweihe meiner Tochter Melanie geschickt hatte, schrieb sie von der schönsten Jugendweihe, die je in Hamburg in der Schilleroper stattgefunden hatte. Diesen Brief mußte ich einem SS-Mann (ein besonders bösartiger Kerl) vorlesen, man hatte Jugendweihe durchgestrichen und darüber Konfirmation geschrieben. Ich habe beim Vorlesen Jugendweihe gesagt, dafür habe ich eine Tracht Prügel erhalten, die für 3 Tage gereicht hätte. Glück hatte meine Frau, daß die Gestapo sie wegen provokativen Inhalts nicht abgeholt hat."
Die Rückseite des Briefes nutzte Fritz von Hacht für ein Hafttagebuch.
In seinem sehr liebevollen Antwortbrief an die Tochter "konnte" Fritz von Hacht dann auch nur noch zur "Konfirmation" gratulieren. Auf der Rückseite des Briefes findet sich eine bemerkenswerte Passage:
"Bleibt alle gesund, ich selber bin seelisch krank, meine Gedanken sind nur bei Euch, Euch, Euch. Die [jetzt kommt der schwarze Balken; die Gestapo hatte das Wort Einzelhaft geschwärzt] Einzelhaft hat mich mürbe gemacht.
Immerhin erwirkte Erna von Hacht, ihren Mann mit beiden Kindern in Fuhlsbüttel besuchen zu dürfen. Dieser Besuch hinterließ allerdings katastrophale Eindrücke, die nie vergessen wurden. Fritz von Hacht war von der Staatspolizei und der Wachmannschaft so häufig und schwer misshandelt worden, dass seine Familie ihn und er seine Familie nicht wiedererkannte. Darüber berichtet Melanie Wulf in ihren, aber auch Fritz von Hacht in seinen Erinnerungen. Fritz von Hacht:
"Nach der Einzelhaft, als ich auf dem Saal war, bekam ich nach der Jugendweihe meiner Tochter den ersten Besuch von meiner Frau und den Kindern im KZ, es war eine Qual. Im Gang, wo der Besuch stattfinden sollte, ist meine Frau mit den Kindern an mir vorübergegangen, ohne mich zu erkennen, so hatte ich mich verändert, als ich sie dann anrief, hat sie aufgeschrien."
Melanie Wulf bekam während des Krieges einen Sohn, später eine Tochter, und es gibt Enkel und vermutlich inzwischen Urenkel. Sie ist vor vielen Jahren verstorben. Ihre beiden Kinder besuchten nach 1945 Jugendweihekurse. Dazu Melanie Wulf:
"Wir gingen, kamen da rein in die Schule und dann kamen die ganzen, die Jugendweihe hatten, die Kinder, die kamen dann oben runter und dann nahm sie einer in Empfang. Wollte sie nehmen… Der kam mir entgegen. Ich habe wohl in dem Moment so laut aufgeschrieen, daß mein Vater, der packte mich nur noch, und da sage ich… 'Papa, weißt du wer uns da entgegenkommt?' … Max Zelck. Bei dem ich den Unterricht hatte und der doch in der Schilleroper verhaftet wurde. Ich bin nur hin und habe den umarmt, mir liefen die Tränen. … Ich sage: 'Herr Zelck, Sie können mich nicht kennen. Ich habe 1935' sage ich 'bei Ihnen noch den Unterricht gehabt. Also 34 ja schon. Und die letzte Jugendweihe in der Schiller. Und heute' sage ich, 'machen Sie, halten Sie die Weiherede meiner Tochter!' Ich sage: 'Das ist der schönste Tag für mich!'"
1 Kommentar
Kommentare
Manfred Isemeyer am Permanenter Link
Ein herzliches Dank dem Autor, dessen Beitrag mich sehr berührt hat. Es gibt nur wenige überlieferte Berichte ehemaliger Widerstandskämpfer und beteiligter Jugendlicher von Jugendweihen in der NS-Zeit.