Ein Erfahrungsbericht

Blumen nach Auschwitz

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Die Blumen der HVD-Lebenskundelehrerinnen an ihrem Bestimmungsort
Die Blumen an ihrem Bestimmungsort

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Myriam Kandulski und Annette Barnscheidt mit den niedergelegten Blumen
Myriam Kandulski und Annette Barnscheidt mit den niedergelegten Blumen

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg – Nazi-Deutschland war besiegt. Endlich. 80 Jahre später stehen vier Frauen – drei Lebenskundelehrerinnen und eine Dozentin der Humboldt-Universität – in Auschwitz. Unsere Autorin berichtet davon, wie die Frauen Blumen an einen Ort bringen, der für das absolute Grauen steht.

Wir bringen Blumen für Auschwitz mit, umschlungen von einem Band, auf dem steht: "HVD Lebenskunde – Nie wieder ist jetzt".

Aber wir tragen noch mehr mit uns: Beklommenheit, Angst vor dem, was uns erwartet, die ewige Auseinandersetzung – und Fragen zum Leben in einem Land wie Deutschland, das verantwortlich für so viel Leid und Mord war und ist.

Ist es möglich, einen sachlichen Artikel über einen Besuch in Auschwitz zu schreiben? Für uns, in Deutschland sozialisierte Frauen mit jeweils eigener Geschichte, ist es das nicht.

Foto: © S. Navissi
Im Stammlager sind die Gebäude mit Stacheldraht eingezäunt, Foto: © Susan Navissi

Warum wollten wir diesen Blumengruß an der Todeswand zwischen den Blöcken 10 und 11 in Auschwitz I niederlegen? Warum haben unsere Chef*innen sofort zugestimmt, uns finanziell unterstützt und ein Statement abgegeben?

Agnieszka Zyluk, Bildungsreferentin des Humanistischen Verbandes Deutschlands, schreibt dazu: "'Nie wieder' ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, sondern ein bleibender Auftrag an unsere Gegenwart. Im Humanistischen Lebenskundeunterricht befähigen wir Kinder und Jugendliche, sich mit historischen Unrechtserfahrungen auseinanderzusetzen und Gegenwartsbezüge herzustellen – mit Empathie, Urteilsvermögen und dem Mut, Verantwortung zu übernehmen. Der Blick auf Auschwitz mahnt uns, wie elementar die Achtung der Menschenwürde, das Eintreten für Gleichheit und die kritische Reflexion von Ideologien sind. Unsere Lehrkräfte arbeiten kontinuierlich an ihrer eigenen Sensibilität gegenüber Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Gerade heute, 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, bleibt unser Bildungsauftrag aktuell: Humanistische Bildung zielt auf ein solidarisches, freiheitliches Miteinander – gegen das Vergessen und gegen jede Form von Hass."

Jede von uns bringt ihre eigene Geschichte, ihre Zweifel und ihre Motivation mit, warum wir diesen Weg auf uns genommen haben.

"Ich war acht Jahre alt, als ich im Fernsehen Dokumentarfilmszenen über Leichenberge gesehen habe. Auschwitz. Auf meine Frage: Warum hast du nichts dagegen gemacht? konnte mir meine Oma keine Antwort geben. Später habe ich erfahren, dass die Väter meiner Eltern ein sehr unkritisches Verhältnis zur NS-Zeit hatten. Ich habe nie wieder ein Wort mit ihnen gesprochen. Die Fragen, warum Menschen zu solchen Grausamkeiten fähig sind, warum die Gleichwertigkeit von Menschen überhaupt infrage gestellt wird und was gegen Ungerechtigkeit getan werden kann, haben mich nie mehr losgelassen. Besonders in Zeiten wie diesen, in denen Unsicherheiten und soziale Ungleichheit zunehmen – und damit auch die Suche nach einfachen Lösungen und Sündenböcken und Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit –, bieten Lebenskunde und 'Schule mit Courage' wichtige Möglichkeiten, um mit Kindern über Gerechtigkeit und Solidarität zu sprechen", sagt Myriam Kandulski, die seit 15 Jahren als Lebenskundelehrerin arbeitet.

Foto: © S. Navissi
Die KZ-Insassen wurden mit Viehwaggons ins Vernichtungslager gebracht, Foto: © Susan Navissi

"Ich hatte Zweifel, als wir die Idee besprachen. Wir hatten alle so viel zu tun – und das würde kein leichter Weg werden. Aber die Vorstellung, sich dem Unfassbaren gemeinsam mit Freundinnen und Kolleginnen auszusetzen, nahm immer mehr Form an. Ich war schon einmal in Auschwitz. Alleine, vor vielen Jahren. Die Erinnerung dämmerte wieder herauf – und das Wissen um das, was damals an diesem Ort passierte, war erdrückend. Gleichzeitig wusste ich: Ich tue genau das, was Menschen nach Auschwitz bringen sollte – nicht zu vergessen, mich selbst zu mahnen. Ich setze mich der deutschen Geschichte aus, laufe über die Asche vieler ermordeter Menschen. Das befähigt und bestärkt mich wieder und wieder, mit meinen Schüler*innen Kinder- und Menschenrechte in ihrer ganzen Tiefe zu bearbeiten. Zu verstehen, dass wir in unserer Vielfältigkeit ein großes, aufregendes und friedliches Ganzes bilden können, ist für die Kinder und für mich immer wieder beglückend", sagt Annette Barnscheidt, die seit 1998 Lebenskundelehrerin ist.

Sandra Moßner, Dozentin für Deutschdidaktik in der Primarstufe und ehemalige Lebenskundelehrerin, beschreibt ihre Haltung zu diesem Auschwitz-Besuch so: "Ich habe schon seit Längerem das Bedürfnis, mich mit der deutschen NS-Vergangenheit zu befassen, zu verstehen, achtsam zu sein, für meine Gegenwart und Zukunft zu lernen – und das Richtige zu tun. Während meiner Schulzeit war ich zweimal in einem Konzentrationslager, habe jedoch keine Erinnerung daran. Was hat Auschwitz mit mir zu tun? Teile meiner Großeltern haben bewusst die NS-Ideologie unterstützt. Meine Oma war in meiner Kindheit eine wichtige Person. Mit zunehmendem Alter und fortschreitender Demenz wurde ihre Begeisterung fürs Mitmachen sehr deutlich. Wir haben nie wirklich über die NS-Zeit gesprochen. Sie starb, bevor ich erwachsen war. Mit diesem Widerspruch lebe ich. Was hat Auschwitz mit meiner Arbeit zu tun? Auch meine Chefin hat mein Anliegen unterstützt. Ich bilde angehende Grundschullehrkräfte aus. Das Fach Deutsch wurde in der Vergangenheit häufig benutzt, um junge Menschen strategisch-ideologisch zu manipulieren. Dabei wurden Normen von 'Deutschsein' konstruiert, Auf- und Abwertungen reproduziert, vielfältige (deutsche) Perspektiven und Lebensweisen von jungen Menschen ausgeschlossen. Mein Anliegen ist es, nicht Lebensrealitäten einer verengten Norm anzupassen oder Kindern diese aufzudrängen, sondern Normen so zu gestalten, dass alle gleichwertig teilhaben können. Dazu braucht es nicht nur diversitätskompetente Individuen mit Haltung, sondern auch professionell veränderte Strukturen in Bildungseinrichtungen."

In Zeiten wie diesen, in denen Krieg, Zerstörung und die Missachtung der mühsam erkämpften Rechte und der Würde des Einzelnen wieder spürbar werden, sind Orte wie Auschwitz eine mahnende Erinnerung an das, wozu Menschen fähig sind, wenn sie nicht gestoppt werden.

Foto: © S. Navissi
Eingang zur Gedenkstätte des KZ Auschwitz, Foto: © Susan Navissi

Im Zug nach Auschwitz – inzwischen bin ich 58 Jahre alt – wird mir bewusst: Auschwitz war für mich immer der Gipfel des Grauens. Die Verkörperung einer Grausamkeit, die mich nach wie vor sprachlos macht. Was gibt es noch zu sagen oder zu schreiben? Es ist eine Mischung aus Abscheu, Verachtung – und tiefem Respekt. Respekt vor jenen, die diese Ungeheuerlichkeiten bis zum Tod ertragen mussten, vor denen, die überlebt haben, die gewarnt haben, die gegangen sind – und jenen, die geblieben sind, um zu kämpfen.

Wir waren gemeinsam in Auschwitz. Unsere Kolleg:innen, Freund:innen und Nachbar:innen waren mit ihren Gedanken, Nachrichten und Unterstützungsangeboten bei uns. Wir haben die Blumen auch in ihrem Namen niedergelegt.

Das Wir, von dem ich schreibe, ist ein großes Wir. Es akzeptiert keine Normalisierung von Rassismus und den Ausschluss bestimmter Gruppen. Mehr als sechs Millionen jüdische Menschen und viele weitere wurden nach bestimmten Kriterien entmenschlicht, eingesperrt, gefoltert und getötet. Der 8. Mai erinnert daran, wie viel Kraft es erfordert, einmal entfesselten Hass wieder einzudämmen.

Kurz nach unserer Rückkehr stirbt Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren. Ihr Vermächtnis bleibt: "Seid Menschen!" Ein Appell, der uns begleitet hat – nach Auschwitz und zurück.

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