1997 hat der Schach-Weltmeister Garri Kasparow seinen Wettkampf (sechs Spiele unter Turnierbedingungen) gegen den IBM-Schachcomputer Deep Blue verloren. Bereits das war eine epochale Zäsur, da erstmals eine Maschine den Menschen in seinem ureigenen Terrain schlug und somit die künstliche "Intelligenz" ihren Schöpfer übertraf – auch wenn die Schachcomputer "normalsterbliche" Spieler schon Jahre vorher hinter sich gelassen haben. (Übrigens hätte Kasparow seine Niederlage mit einem Dauerschach abwenden können, sodass die Partie und das gesamte Turnier remis ausgegangen wären. Aber Kasparow gab auf, weil er dachte, Deep Blue hätte diese Möglichkeit sicherlich in Betracht gezogen und wüsste einen Ausweg. Weil er den Computer für weniger fehlbar hielt als sich selbst, hatte er verloren.)
1997 war auch das Jahr, in dem ich das Spiel Go zu lernen begann. Seither sind nicht viele Tage vergangen, an denen ich nicht an das Spiel gedacht oder einige Steinchen auf ein Holz- oder Computerbrett gelegt hätte. Ich bin ein lausiger Spieler geblieben, und das wird sich nicht ändern. Dennoch war ich um die Jahrtausendwende besser als jedes damalige Go-Programm. Was natürlich wenig über mich, doch viel über die damaligen Programme aussagt. Sie waren schlicht zu schwach, um mit der Komplexität des Spiels zurande zu kommen.
Die Verzweigung der algorithmischen Suchbäume – die Zunahme der möglichen weiteren Spielzüge nach jedem Zug – wuchs einfach zu stark, die Zahl der potenziellen Züge ist gigantisch. Ohne Heuristiken waren die Computerprogramme daher rasch verloren; während selbst ein mittelmäßiger Spieler aufgrund von Erfahrung, Bauchgefühl, Intuition und Vorwissen die meisten Züge erst gar nicht in Betracht zu ziehen brauchte – und somit besser zurecht kam, ohne wirklich "weiter" oder "tiefer" zu denken. Es ist dieser holistische Zugang, eine Art von Mustererkennung, zu der biologische Systeme im Allgemeinen viel effektiver fähig sind als die pure digitale Rechenkraft. Daher waren die meisten Experten der Auffassung, dass Computer-Programme noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinter guten Amateurspielern und erst recht Profis zurückbleiben würden. Sie hatten sich alle geirrt.
Und nun?
Natürlich wird das (un)menschliche Hauen und Stechen weltweit weitergehen, als sei nichts geschehen. Menschen schlagen sich im Allgemeinen ja lieber die Köpfe ein oder beuten sich gegenseitig aus oder versuchen sich mit wahnsinnigen Ideologien wechselseitig zu bekehren, als dass sie sich der Kreativität und Erkenntnis widmen oder spielerisch austauschen. Insofern wird Lee Sedols Niederlage nichts ändern. Dennoch hat jetzt eine neue Epoche begonnen. Deren Konturen werden erst künftige Historiker, wenn es sie gibt, klar sehen können. Doch deren Linien zeichnen sich bereits ab. Und man könnte jetzt damit beginnen, einen Nachruf auf die menschliche Intelligenz zu schreiben.
Der Mensch hat ein Programm geschaffen, das ihm in der letzten großen, symbolischen Bastion des Denkens überlegen wurde. Es ist "intelligenter" als selbst der beste Go-Spieler, obwohl es gleichsam blind rechnet und lernt. Die Monte-Carlo-Zufallsalgorithmen haben ihre Schöpfer ausgebootet. Insofern ist das Spiel vorbei. Der Mensch kann abdanken.
Selbstverständlich kann AlphaGo weder Bilder malen noch Tischfußball spielen oder Rockmusik komponieren. Das Programm vermag nicht zu lieben und zu lachen und keine Ehrfurcht empfinden – nicht einmal vor Go. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht auch nicht darum, einen Untergang zu beschwören oder deprimiert zu sein angesichts einer weiteren "Kränkung des Menschen" (von denen es bereits viele gab).
Eine neue Epoche
Manche Menschen hätten "das unnachahmliche Talent, die spannendsten Entwicklungen als Untergang zu deuten", kommentierte der Software-Entwickler André Spiegel, Autor des Buchs "Die Befreiung der Information". "Und vorher sind wir besiegt worden, als das erste Mal ein Rad schneller rollte, als ein Mensch laufen konnte, ein Rakete höher flog, als ein Mensch springen konnte, und eine Schriftrolle mehr aufnahm, als in ein Gedächtnis passte."
Das ist vollkommen richtig. Der Mensch ist zwar erneut "besiegt" – besiegt durch seine eigene Schöpfung und damit sich selbst. Aber diese Niederlage ist kein Untergang, auch wenn mancher Vertreter des Homo sapiens sich nun in seiner Eitelkeit, in seinem Dünkel und seinem anthropozentrischen Mittelpunktswahn beleidigt fühlt. Lee Sedols verlorene Partien markieren keinen Untergang, sondern einen Übergang. Und AlphaGos Triumph könnte durchaus auch als eine Art letzter Erfolg des menschlichen Denkens vor seiner Selbstüberwindung interpretiert werden.
"Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist", schrieb Nietzsche. Wohin der Übergang führt, wenn er weitergeht, bleibt ungewiss. Doch es erscheint gut möglich, dass der Mensch jetzt, im März 2016, die Fackel weitergegeben hat. Das Schilfrohrdenken ist nicht mehr seine prominente Auszeichnung, er sollte sich nicht allzu viel darauf einbilden. Jetzt hat das Zeitalter des Transhumanismus begonnen.
12 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Stirbt der Mensch wirklich aus?
Ist er ausgestorben, als das Pferd ihn schneller durch die Savanne oder das Auto ihn noch schneller über die Autobahn beförderte? Oder als er sich mit Mikroskopen oder Teleskopen besser Augen in unbekannte Gefilde schuf? Nein! Nicht mal, als Computer dank seiner Programmierkunst schneller und komplexer rechnen lernten, starb er aus.
Alle Techniken, die der Mensch erfand, sind mehr oder weniger sinnvolle Ergänzungen seiner biologischen Unzulänglichkeiten. Ist uns kalt, stellen wir die Heizung an, wollen wir etwas über die Welt lernen, stellen wir den Fernseher an oder steigen in Zug oder Flugzeug. Selbst den Weltraum oder die Tiefsee erobern wir, weil wir - im Gegensatz zu Maschinen - neugierig sind.
Egal, wie perfekt Computer Go spielen können, sie werden es nie aus eigenem Antrieb machen, weil sie keinen eigenen Antrieb haben. Warum sollten sie Computer reproduzieren? Wenn, dann nur, weil Menschen - ihre Erfinder - ihnen dies einprogrammiert haben. Ansonsten ist einer Maschine ihre eigene Existenz egal.
Mir geht es hier nicht um den Sinn des Lebens - den hat Leben ganz und gar nicht -, sondern um die Lust des Lebens. Viele Tiere und auch der Mensch haben Lust zu leben. Natürlich ist diese z.T. hormongesteuert, entspringt evolutionären Vorgaben. Vorgaben, die man theoretisch Computern auch einprogrammieren könnte. Doch wozu? Als Experiment, ob der Mensch "Gott" spielen kann?
Computer, auch Go-spielende, sind sinnvoll. Als Prothesen menschlicher Unzulänglichkeit. So, wie ich Autofahre, um schneller voranzukommen. Doch wäre ein Auto, dass von sich aus in eine andere Stadt fährt, letztlich vollkommen sinnlos. Warum wäre Wissenschaft, Kunst oder Philosophie ohne den Homo ludens wichtig?
Computer sind im Grunde dumm. Sie können nur alles besser und schneller, als Menschen. Solange sie dies im Sinne des Erfinders machen, ist die Welt in Ordnung. Nur würde ich nie gegen einen perfekten Computer Go spielen wollen. Der Spaß beim Spiel besteht doch darin, auch gewinnen zu KÖNNEN. Stünde von vorneherein fest, dass man immer verlieren wird, hört der Spaß auf und jedes weitere Spiel ist so sinnlos, wie das Spiel selbst. Auch Lotto spielt der Mensch nur wegen der winzigen Chance, zu gewinnen.
Natürlich ist meine Sichtweise die eines Menschen. Aber der bin ich nun mal. Warum sollte mich die Sichtweise eines Computers interessieren? Der interessiert sich ja nicht einmal für seine eigene, geschweige denn für die menschliche Sicht der Dinge...
Dieter Bauer am Permanenter Link
Vieles, Interessantes und weniger Interessantes, ist über den Untergang der menschlichen Spezies verbreitet. Das ruft Erinnerungen wach an ein kleines Wortspiel: "...
pavlovic am Permanenter Link
Sehr schön ist die Bemerkung in der Presse zu lesen gewesen, dass der Weltmeister des Go auch wegen seines Status eine Ausstrahlung hat die freilich einen Computer überhaupt nicht beeindrucken kann.
Denkakustiker am Permanenter Link
Maschinen haben kein lebensräumlich all umfassendes Befindlichkeits-Spektrum und damit keine evolutionäre Anpassungsgrundlage, um bewusst selbsterhaltend zwischen energetischem Eindruck und Ausdruck steuern zu können.
So haben sie auch keine körperlich unbewusst erneuerbaren Selbsterhaltungsfähigkeiten und bestehen dazu auch aus ungeeigneten Materialien.
Und das ist auch gut so !!!
Und was die sogenannten Algorithmen angeht, so bleibt in der Folge ernsthaft zu hoffen, das jene nicht die mathematische Vollkommenheit erreichen, bevor der Mensch durch geistige Effektivität zu seiner sehnsüchtig begehrte Intelligenz findet.
Beste Grüße aus Magdeburg
Denkakustiker
Petra Pausch am Permanenter Link
Lieber Denkakustiker (was immer auch das bedeuten soll) - was soll denn dieses Geschwurbel bedeuten, dass Sie hier immer und immer wieder verbreiten?
Entschuldigen Sie, aber ich finde Ihre halbwissenschaftlichen Kommentare sehr mekrwürdig.
Denkakustiker am Permanenter Link
Liebe Petra Pausch, ich selbst finde mein Verhalten auch merkwürdig, denn ich bin tatsächlich kein kulturgesellschaftlich protegierter Wissenschaftler.
Um so mehr ehrt es mich, das sie meinen Kommentaren, eine erkennbare Halbwissenschaftlichkeit beimessen. Auch wenn sie ihnen merkwürdig erscheinen, so lesen sie diese offensichtlich immer und immer wieder.
Warum ?
Ich gehe mal davon aus, das sie meine Kommentare für - würdig - befinden, um sie sich zu - merken -. Oder ? :-)
Nun unsere facettenreichen und unüberschaubaren Wissenschaften führen keineswegs zu einem erkennbaren Ganzen, in dem wir treffsicher und nachvollziehbar zwischen richtig und falsch unterscheiden können.
Derzeit führt uns die Wissenschaft ad absurdum und hält uns so in einer Glaubensschwebe, was an der individuell vielfältigen und gegensätzlich wirkenden Meinungsvielfalt, für jeden ablesbar ist.
Damit ist individuell kein richtiges Verhalten möglich und ich möchte mich richtig verhalten können, um Schaden an mir und anderen vermeiden und Wertschöpfung gestalten und erhalten zu können. Deshalb möchte ich verstehen.
Es ist also ein Grundprinzip meiner Selbsterhaltung und die eigenwillige Erkenntnis, das die Wahrheit eben gerade nicht zwischen dem Glauben und dem Wissen zu finden ist, sondern zwischen dem Glauben und dem Verstehen, denn das erfahrbare Wissen bedient beides.
Es ist also eine Frage des geistigen Aufwandes, dem Wissen glaubend zu folgen, bis wir verstehen (wann, wie, warum, weshalb, wieso).
In den letzten Jahren bestärkt mich das Gefühl, das unsere Selbsterhaltung zunehmend perfide und nachhaltig fremdbestimmt wird. Und das nicht durch einen Gott, sondern durch symptomatisch anmaßende Menschen.
So wird der Mensch unverkennbar Opfer seiner selbst und dagegen wehrt sich nun meine natürliche Selbsterhaltung, also aus zwingendem Grund.
"lebensräumlich all umfassendes Befindlichkeits-Spektrum"
Unser sogenanntes Denken ist eindeutig erkennbar geistige Gefühlssache. Wir denken warmherzig und kaltblütig, logisch und unlogisch, ungezwungen und gezwungen und in weit mehr unterscheidbaren Befindlichkeitsstufen, als sich mit unserer Sprache vermitteln lässt.
Genauso unvollkommen lässt sich die Vielfalt der Befindlichkeiten in unseren Wahrnehmungen beschreiben.
Was glauben sie also selbst, was ein Befindlichkeits-Spektrum sein könnte, bzw. was ich damit zum Ausdruck bringen möchte ?
Oder was könnten sie dagegen vorbringen ?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Trans-"Anthropozän"? Das fehlte jetzt noch. ;-)
malte am Permanenter Link
"Der Mensch hat ein Programm geschaffen, das ihm in der letzten großen, symbolischen Bastion des Denkens überlegen wurde."
Finde ich ziemlich dick aufgetragen. Musik, Kunst, Literatur - es gibt jede Menge, was Computer nicht nur schlechter als der Mensch, sondern gar nicht können.
Gerd am Permanenter Link
Auch Mathematik können Computer nicht gut. Sie können zwar rechnen aber ich habe noch kein Programm gesehen, das einen Satz vermuten und nach Beweisen suchen kann (Beweisassistenten sind kein Gegenbeispiel!)
Denkakustiker am Permanenter Link
So ein Schmarren, um das ausdrucksstarke Bayrische mal zu bemühen !!!
Nur weil ein Computerprogramm einen Menschen in einer geistig unbedeutenden Denkdisziplin besiegt hat, ist es in keiner Weise dem Menschen ebenbürtig und schon gar nicht überlegen.
Sind wir hier in der Psychiatrie ?
Wenn dem so währe, müssten alle Maschinen, welche der Mensch inzwischen geschaffen hat, ihn selbst im Lebensraum bedrängen bzw. schon längst verdrängt haben.
Haben sie aber nicht !
Nur weil sich Maschinen gegen den Menschen tatsächlich vernichtend auf dem Arbeitsmarkt auswirken, sind sie dem Menschen noch lange nicht überlegen und schon gar nicht auf der geistigen Ebene. Es sind immer noch Menschen, die Maschinen gegen Menschen einsetzen.
In Wirklichkeit kommt hier der noch einzige natürliche Feind des Menschen zum Ausdruck, nämlich die Wahnhaftigkeit einer kritischen Masse des geistigen ÜberschussVermögens, durch eine übersynergetische Industriegesellschaft, die uns schon seit der Mitte des 18.Jh zunehmend den Verstand raubt.
Mit besorgten Grüßen aus Magdeburg
Denkakustiker
Michael Paschko am Permanenter Link
"Jetzt hat das Zeitalter des Transhumanismus begonnen."
Eine seltsame Schlussfolgerung. Jedenfalls keine Glanzleistung menschlichen Denkens. Denn wäre sie richtig, dann wäre doch das Zeitalter des Transhumanismus schon mit der Erfindung des Autos angebrochen gewesen, denn ein Auto kann sich viel schneller fortbewegen als ein Mensch. Nicht nur dass: Schon lange vor der Entstehung des Menschen wäre dann das Zeitalter des Transhumanismus angebrochen, denn die Dinosaurier waren nicht nur viel größer als Menschen es sein können, sie legten auch Eier, wobei Menschen ebenfalls klägklich versagen.
Aus welchem Grund sollte sich ein Mensch mit einem Go-Programm vergleichen? Er vergleicht sich doch auch nicht mit einem Schraubenzieher, ein weiteres Beispiel für Pseudo-Transhumanismus, was jeder nachvollziehen kann, der schon einmal versucht hat, eine Schraube mit dem Daumennagel zu lösen.
Rüdiger Vaas am Permanenter Link
Heute (15. März) ging das Turnier in Seoul zu Ende.