Stephen Hawking zum 75. Geburtstag

"Wissenschaft wird gewinnen, weil sie funktioniert"

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Stephen Hawking
Stephen Hawking

Am 8. Januar 2017 feiert Stephen Hawking seinen 75. Geburtstag. Das ist zugleich ein medizinischer Rekord, weil ihm Ärzte 1963 eine Lebenserwartung von lediglich zwei Jahren prognostizierten. Doch der britische Physiker und Bestsellerautor ist noch immer sehr aktiv – auch als Religionskritiker. Der hpd gratuliert dem britischen Wissenschaftler und veröffentlicht hier Auszüge aus den Büchern Hawkings Kosmos und Einfach Hawking! von Rüdiger Vaas. Der Wissenschaftsjournalist, Astronomie-Redakteur des Monatsmagazins bild der wissenschaft und Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung hat Hawking mehrfach persönlich gesprochen und vier populärwissenschaftliche Bücher über dessen Leben und faszinierenden Forschungen veröffentlicht.

Happy Birthday, Stephen Hawking!

"Mein Ziel ist einfach: das vollständige Verständnis des Universums – warum es ist, wie es ist, und warum es überhaupt existiert", sagte Stephen Hawking einmal. Der berühmteste Wissenschaftler der Gegenwart hat die ganz großen Fragen nie gescheut. Er gehört allerdings auch zu den wenigen, die dazu beitragen, Antworten näher zu kommen.

In Fachkreisen fanden Hawkings Forschungen schon Ende der 1960er-Jahre Beachtung und sorgten Mitte der 1970er für Aufregung. Seit seinem Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Zeit von 1988 ist er auch einem Millionenpublikum bekannt; weitere populärwissenschaftliche Bücher setzen diesen Erfolg bis heute fort.

Das alles ist eine kaum zu ermessende Leistung. Denn bereits 1963, kurz nach seinem 21. Geburtstag, diagnostizierten Ärzte bei Hawking Amyotrophe Lateralsklerose und prophezeiten ihm eine Lebenserwartung von nur noch wenigen Jahren. Bei dieser schrecklichen Erkrankung sterben nach und nach die Nervenzellen zu den Muskeln, was zur vollständigen Lähmung führt.

Trotzdem konnte Hawking sein Studium sowie eine Promotion abschließen und Spitzenforschung vollbringen. 1979 wurde er, längst im Rollstuhl, sogar auf den Lucasischen Lehrstuhl der University of Cambridge berufen, den vor 300 Jahren Isaac Newton inne hatte.

Aufgrund eines Luftröhrenschnitts kann sich Hawking seit 1985 nur noch mit einem Sprachcomputer verständigen. Er bedient ihn buchstäblich mit seinem letzten Zucken, indem er mit Bewegungen der Augen oder rechten Wange mühsam Buchstabe für Buchstabe in das Programm eingibt – bestenfalls zwei bis drei Wörter pro Minute.

Genialer Geist im Gefängnis

Mit diesem tragischen Schicksal passt Hawking perfekt zum Klischee des im regungslosen Körper gefangenen genialen Geistes, der die Grenzen der Erkenntnis zu sprengen trachtet – handeln seine Forschungen doch von den abstraktesten, entlegensten und kompliziertesten Themen: Schwarzen Löchern, Urknall, Zeitreisen, Relativitätstheorie, Quantenphysik und der Suche nach einer Weltformel, die alle Teilchen und Kräfte erklärt. Kein Zufall, dass er zum Medienstar wurde! Hawking selbst sieht es ähnlich: "Ich bin sicher, dass meine Behinderung eine Rolle spielt, warum ich so bekannt bin. Die Menschen sind fasziniert von dem Kontrast zwischen meinen sehr eingeschränkten physischen Kräften und der gewaltigen Natur des Universums, mit der ich mich beschäftige. Ich bin der Archetypus des behinderten Genies. Doch ob ich ein Genie bin, kann bezweifelt werden."

Die Kombination von kosmologischer Größe und gravierender Krankheit machte aus Hawking sogar eine Art Filmheld. 2004 erschien ein TV-Spielfilm über seine Jugend bis zur Dissertation, 2014 sogar ein Kinofilm, für den der Hawking-Darsteller Eddie Redmayne einen Oscar bekam; bereits 1991 lief im Kino ein Dokumentation über Hawkings Forschungen mit vielen Interviews seiner Weggefährten. Hinzu kommen mehrere Wissenschaftsfilme von, mit und über Hawking im Fernsehen.

Hawking ist auch ein Teil der Popkultur: Er hatte Gastauftritte in den TV-Serien Raumschiff Enterprise und The Big Bang Theory sowie als Zeichentrickfigur bei den Simpsons und in der Science-Fiction-Serie Futurama; seine Computerstimme kommt im Song Keep Talking von Pink Floyd vor; und es gibt Hawking sogar als Lego-Figur.

Nach wie vor stellt Hawking mit jedem Tag einen neuen erstaunlichen medizinischen Rekord auf – was sicherlich nicht nur seinem Überlebenswillen, seinem Humor und der guten medizinischen Versorgung zu verdanken ist. "Meine Behinderung hat meine wissenschaftliche Arbeit nicht wesentlich beeinträchtigt. Tatsächlich war sie in mancherlei Hinsicht eher von Vorteil: Ich brauchte keine Vorlesungen zu halten, und ich musste nicht an langweiligen und zeitraubenden Institutssitzungen teilnehmen. Auf diese Weise konnte ich mich uneingeschränkt meiner Forschung hingeben."

Ende Oktober 2009 wurde Hawking emeritiert, was bei seinem Antritt keiner gedacht hatte. Von Ruhestand kann freilich keine Rede sein. Hawking hat eine große Familie (drei Kinder und drei Enkel; mit seiner Tochter Lucy schrieb er bereits fünf Kinderbücher). Wenn sein Gesundheitszustand es erlaubt, hält er Vorträge, tritt im Fernsehen und Radio auf. Und er forscht mit seinen Kollegen weiter. So veröffentlichte er in den letzten Jahren mehrere umfangreiche Beiträge zu diffizilen Fragen der Kosmologie und zu den mysteriösen Schwarzen Löchern.

Hawking führt also keine vergeistigte oder weltabgewandte Existenz. Er sorgt sich sehr um die Zukunft der Menschheit und versucht sie mit seinen bescheidenen Mitteln mitzugestalten. Aber er weiß auch, das kleine Erdenleben zu genießen. Seine Lebenseinstellung hatte er einmal so zusammengefasst: "Dies sind die wichtigsten Ratschläge, die ich meinen Kindern auf den Weg gegeben habe: Erstens, vergesst nicht, empor zu den Sternen zu blicken, anstatt hinab auf eure Füße. Zweitens, gebt niemals auf mit eurer Arbeit, denn sie schenkt euch Sinn, ohne den das Leben leer ist. Drittens, wenn Ihr glücklich genug seid, Liebe zu finden, dann denkt daran, dass dies selten ist, und werft sie nicht weg."

Kein Raum für einen Schöpfer?

"Es ist nicht nötig, Gott als den ersten Beweger zu bemühen, der das Licht entzündet und das Universum in Gang gesetzt hat", schließt Hawking aus den quantenkosmologischen Hypothesen zum Verständnis des Urknalls. Mit anderen Worten: Der schon von Aristoteles behauptete Erste Beweger als göttliche Ursache von allem, zugleich Ziel des späteren sogenannten kosmologischen Gottesbeweises, ist Hawking zufolge eine unnötige und sogar unhaltbare Annahme.

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Bereits in Eine kurze Geschichte der Zeit fragte er rhetorisch, wo denn "noch Raum für einen Schöpfer" der Welt wäre, wenn diese physikalisch weitgehend verstanden sei. Zwar endete das Buch beinahe mystifizierend, aber auch publikumswirksam, dass eine vollständige Erklärung des Universums, "der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft" wäre, "denn dann würden wir Gottes Plan kennen" – eine Bemerkung, die Hawking beinahe gestrichen hätte ("dann wären vielleicht nur halb so viele Exemplare verkauft worden"). Aber "Plan" war irreführend übersetzt, im Original stand "mind" ("Geist"). Gäbe es einen "Plan", würde das bedeuten, dass eine Absicht dahinter steckt und somit jemand, der diese hat. "Geist" ist dagegen ein dehnbarer Begriff und kann ganz abstrakt eine rationale – oder rational beschreibbare – Struktur meinen, was auch für die Naturgesetze gelten mag. Tatsächlich hatte Hawking immer wieder deutlich gemacht, dass er unter "Gott" nur die unpersönlichen Naturgesetze verstanden hat – wie schon Albert Einstein in mehreren, oft falsch interpretierten Aussagen. So sagte Hawking 2001 auf einer Pressekonferenz in München: "Den Geist Gottes zu kennen heißt also, die Naturgesetze zu kennen."

Ein Märchen und die Handschrift Gottes

Die scheinbare Ordnung der Welt gilt vielen Gläubigen als Hinweis auf einen universalen Gesetzgeber. Aber die Regelmäßigkeiten der Natur können auch ganz anders erklärt werden. Warum es sie überhaupt gibt und weshalb sie so sind, wie sie sind, bleibt aber offen. Wenn sie mit dem Urknall entstanden sind, so verschiebt sich die Frage nur: Wie kam es zum Urknall, und warum brachte er das Universum hervor, das wir beobachten?

"Die meisten Menschen sind zu der Überzeugung gelangt, Gott habe dem Universum gestattet, sich nach einer Reihe von Gesetzen zu entwickeln, und er enthalte sich jedes Eingriffs, um diese Gesetze nicht außer Kraft zu setzen. Gott sei aber immer noch nötig gewesen, um das Uhrwerk aufzuziehen und über den Anfang zu entscheiden. Solange das Universum einen Anfang hat, können wir annehmen, dass es auch einen Schöpfer gibt", schrieb Hawking bereits in seiner Kurzen Geschichte der Zeit. "Doch wenn das Universum wirklich völlig in sich selbst abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende: Es würde einfach sein. Wo wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?"

Diese Frage sorgte für viele Diskussionen. Gott ist im Verständnis der meisten Gläubigen freilich nicht auf einen "Designer" reduzierbar, der die Naturgesetze erlässt, die physikalischen Konstanten einstellt oder den Urknall zündet. Auch Theologen weigern sich, Gott auf die Rolle eines "Ersten Bewegers" zu reduzieren, mithin bloß als physikalische Anfangsbedingung zu interpretieren. Gott gilt den Gläubigen nicht nur als Erschaffer der Welt, sondern er erhält sie auch und vernichtet sie wieder, diktiert Wertordnungen, erhört Gebete und greift in den Weltlauf ein. Wie das physikalisch vonstatten gehen soll, bleibt allerdings ein Rätsel (oder Wunder). Aber mit diversen metaphysischen Annahmen oder Behauptungen lässt sich so etwas immer irgendwie begründen oder auf die unergründlichen Ratschlüsse Gottes abwälzen. Insofern kann die Physik Gott sicherlich nicht aus dem Universum vertreiben. Auch nicht mit Hawkings Modell.

"Die Frage, ob Gott das Universum erschaffen hat, steht in keiner direkten Beziehung zu der Frage, ob das Universum einen Rand hat, auch wenn das viele Menschen glauben. In Wirklichkeit hat das eine wenig mit dem anderen zu tun", widerspricht beispielsweise Hawkings früherer Mitarbeiter Don Page, ein gläubiger Christ, seinem ehemaligen Dissertationsgutachter. Auch George Ellis, Co-Autor von Hawkings erstem Buch, ist religiös, ein Quäker, aber er hält sich mit kosmisch-theologischen Spekulationen zurück. Und wie Page betrachten viele Theologen Gott sowieso nicht bloß als Schöpfer, sondern auch als Erhalter der Welt. In diesem Sinn hätte er nicht nur den Urknall gezündet oder aus dem Nichts geschaffen ("creatio ex nihilo") oder aus dem Quantenvakuum, sondern er würde gleichsam die Welt ständig neu schaffen ("creatio continua") beziehungsweise in ihrer Existenz bewahren. Etwa so, als hielte er sie in einer imaginären Hand, weil sie sonst ins Nichts fiele. Dieser Welterhalt könnte zum Beispiel dadurch erfolgen, dass Gott für die Gültigkeit der Naturgesetze sorgt oder dass die materielle Realität in Wirklichkeit nur sein Gedanke (oder Traum?) ist.

Ein solcher Glaube – oder frommer Wunsch – kann physikalisch nicht widerlegt, aber sehr wohl philosophisch kritisiert werden. Und eigentlich tut Hawking genau das, indem er argumentiert, dass Gott in der modernen Kosmologie nicht mehr denknotwendig ist.

Das sahen viele Physiker, darunter Isaac Newton, früher durchaus anders. Und noch immer interpretieren manche Kosmologen und theologisch orientierte Philosophen die Urknall-Singularität als eine Erklärungslücke, die gleichsam durch Gott gestopft werden muss. Ein solcher "Lückenbüßer-Gott" hat zwar selbst bei den meisten Theologen längst abgedankt. Aber wer ihn als Schöpfer und Erhalter der Welt begreift, kann diese letztlich nicht radikal autonom denken. Und so predigte beispielsweise Josef Ratzinger alias Papst Benedikt XVI. Anfang 2011 im Petersdom: "Das Universum ist kein Ergebnis eines Zufalls", auch hinter den wissenschaftlichen Theorien über den Urknall stecke der Plan Gottes; das Universum trage "die Handschrift Gottes", die der Mensch dechiffrieren könne. Demzufolge wäre das Universum letztlich nur im Hinblick auf die Existenz einer transzendenten Wesenheit zu verstehen.

Doch dagegen wendet sich Hawking. Das heißt nicht, dass er religionsfeindlich ist, auch wenn sein Atheismus mit ein Grund gewesen sein mag, dass seine Ehe mit der gläubigen Jane Hawking zerbrach. Im Gegenteil, Hawking hatte im Kalten Krieg in seinem Rollstuhl angeblich Bibeln nach Russland geschmuggelt, um dort Baptisten zu unterstützen. Und er half der jüdisch-orthodoxen L'Chaim-Gesellschaft, sich in Cambridge zu etablieren, auch wenn er den religiösen Lehren sehr reserviert gegenübersteht. "Es ist gut möglich, dass Gott auf eine Weise handelt, die nicht mit wissenschaftlichen Gesetzen beschrieben werden kann", räumt er ein. "Aber in diesem Fall bleibt nur persönlicher Glauben übrig."

In einem kurzen Interview in der britischen Zeitung The Guardian wurde Hawking im Mai 2011 noch deutlicher. Hier wurde er wiederum nach religiösen Sinngebungen befragt, auch angesichts der Sterblichkeit: "Ich habe die letzten 49 Jahre mit der Erwartung eines baldigen Todes gelebt. Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe es nicht eilig zu sterben. Ich möchte noch so vieles vorher tun. Ich halte das Gehirn für eine Art Computer, der aufhört zu arbeiten, wenn seine Bestandteile versagen. Es gibt keinen Himmel oder ein Leben nach dem Tod für defekte Computer; das ist ein Märchen für Leute, die Angst vor dem Dunkeln haben."

Ebenso wenig sieht Hawking einen Grund für die Annahme eines fürsorglichen Schöpfers: "Wir sind so unbedeutende Kreaturen auf einem kleinen Planeten eines sehr durchschnittlichen Sterns in den Außenbezirken von einer Galaxie unter 100 Milliarden anderen im beobachtbaren All. Daher ist es schwer, an einen Gott zu glauben, der sich um uns kümmert oder auch nur unsere Existenz bemerkt."

Gottes Unfreiheit

Weil die leidige Urknall-Singularität mit quantenkosmologischen Hypothesen von Hawking – und ebenso mit konkurrierenden Erklärungsversuchen – vermieden wird, ist die Frage, wie es zum Urknall kam, zu einem Gegenstand der physikalischen Kosmologie geworden. "Das Universum gibt es, weil die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie seine Existenz ermöglichen und erfordern", spitzt es Hawking zu. "Wenn ich Recht habe, ist das Universum in sich selbst gegründet und wird von den Naturgesetzen allein regiert."

Wenn die physikalische Beschreibung des Universums an einer Singularität enden würde, "könnte die Wissenschaft die Aussage machen, dass das Universum einen Anfang gehabt haben muss, sie könnte aber nicht vorhersagen, wie dieser Anfang ausgesehen hätte. Dazu müsste man den lieben Gott herbeibemühen", schreibt er. Inzwischen zeigen kosmologische Modelle allerdings, auch Hawkings eigenes, dass man durchaus physikalische Erklärungen finden kann.

Die Frage nach dem Ursprung des Universums – oder Multiversums – will Hawking also nicht länger dem Alleinerklärungsanspruch der Religionen überlassen. Ein Rückgriff auf einen Schöpfer verschiebt zudem die Probleme nur. Doch es ist möglich, "diese Fragen ausschließlich in den Grenzen der Naturwissenschaft und ohne Rekurs auf göttliche Wesen zu beantworten". Hawkings eigenes quantenkosmologisches Modell ist ein Beispiel dafür. Es eliminiert die Erklärungslücke der Urknall-Singularität, die die Relativitätstheorie nicht zu schließen vermag, und die manche Theologen mit Gott als eine Art Lückenbüßer zu füllen versuchten – Papst Pius XII. hatte dabei 1951 sogar einen neuen Gottesbeweis erwogen.

"Die Erkenntnis, dass die Zeit sich wie Raum verhält, liefert eine neue Alternative", betont Hawking. "Sie entkräftet den uralten Einwand gegen die Auffassung, das Universum habe einen Anfang, bedeutet aber auch, dass der Anfang des Universums von den Gesetzen der Wissenschaft bestimmt wurde und nicht von irgendeinem Gott angestoßen werden musste." Ein Erster Beweger ist Hawking zufolge also eine überflüssige und sogar unhaltbare Annahme. "Spontane Erzeugung ist der Grund, warum etwas ist und nicht einfach nichts, warum es das Universum gibt, warum es uns gibt."

Und das gilt auch für das Multiversum – für die Vielzahl der Universen, die gleichsam aus dem Nichts entsprangen. "Ihre Schöpfung ist nicht auf die Intervention eines übernatürlichen Wesens oder Gottes angewiesen. Vielmehr ist diese Vielfalt von Universen eine natürliche Folge der physikalischen Gesetze", schreiben Hawking und sein Co-Autor Leonard Mlodinow in ihrem Buch Der Große Entwurf von 2010. Das behaupten sie jedoch nicht einfach, sondern verstehen es kühn als "eine naturwissenschaftliche Vorhersage".

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In einem Interview im israelischen Fernsehen hatte Hawking diese These bereits 2007 bekräftigt: "Ich denke, dass das Universum spontan aus dem Nichts entstand gemäß den Gesetzen der Physik." In gewisser Weise habe es weder Anfang noch Ende. "Die Grundannahme der Wissenschaft ist der wissenschaftliche Determinismus: Die Naturgesetze bestimmen die Entwicklung des Universums, wenn sein Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt gegeben ist. Diese Gesetze können von Gott erlassen worden sein oder nicht, aber er kann nicht eingreifen und die Gesetze brechen, sonst wären es keine Gesetze. Gott bliebe allenfalls die Freiheit, den Anfangszustand des Universums auszuwählen. Aber selbst hier könnten Gesetze herrschen. Dann hätte Gott überhaupt keine Freiheit."

Dies sind freilich etwas missverständliche metaphorische Formulierungen, denn die Naturgesetze und Theorien existieren nicht an und für sich und "bewirken" nichts – doch das meint Hawking auch nicht (im Gegensatz zu manchen Philosophen). Vielmehr sind die Naturgesetze wissenschaftliche Beschreibungen und Modelle von gemessenen Regelmäßigkeiten der Natur.

Doch die Fragen hören damit nicht auf. Denn das "Nichts", von dem Hawking spricht, ist nicht das radikale Nichts der Metaphysiker und Theologen (und selbst letztere nehmen doch "etwas" an: Gott), sondern das Quantenvakuum, dessen Existenz und "Schaffenskraft" nicht selbstverständlich ist. Und woher kommen die Naturgesetze? Selbst eine umfassende Weltformel, falls sie einmal gefunden würde, könnte keine letztgültige, unhinterfragbare Antwort liefern.

Hawking kehrt diese Schwierigkeit nicht unter den Teppich seiner wissenschaftlichen Zuversicht, sondern hat sie in Eine kurze Geschichte der Zeit selbst betont: "Auch wenn nur eine einheitliche Theorie möglich ist, so wäre sie doch nur ein System von Regeln und Gleichungen. Wer bläst den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können? Die übliche Methode, nach der die Wissenschaft sich ein mathematisches Modell konstruiert, kann die Fragen, warum es ein Universum geben muss, welches das Modell beschreibt, nicht beantworten. Warum muss sich das Universum all dem Ungemach der Existenz unterziehen?"

Der große Gegenentwurf

"Wir scheinen an einem entscheidenden Punkt der Wissenschaftsgeschichte zu stehen, an dem wir unsere Ziele und das, was eine physikalische Theorie akzeptierbar macht, neu definieren müssen", glauben Hawking und Mlodinow in ihrem Buch Der große Entwurf. "Offenbar werden die fundamentalen Zahlen und sogar die Form der in unserem Kosmos nachweisbaren Naturgesetze nicht von der Logik oder von physikalischen Prinzipien verlangt. Die Parameter können viele Werte und die Gesetze beliebige Formen annehmen, die zu einer selbstkonsistenten mathematischen Theorie führen, und sie besitzen tatsächlich verschiedene Werte und verschiedene Formen in verschiedenen Universen. Das mag unbefriedigend für unser menschliches Verlangen sein, etwas Besonderes zu sein oder alle Gesetze der Physik in einem säuberlich geschnürten Paket serviert zu bekommen, aber so hält die Physik es nun einmal."

Weder bedingen die Feinabstimmungen also einen kosmischen Bauplan und einen jenseitigen Architekten noch erfordert die Entstehung und Entwicklung der Welt einen Schöpfer. Nur die "Unkenntnis der Naturgesetze veranlasste die Menschen früherer Zeiten, Götter zu erfinden, die in jeden Aspekt des menschlichen Lebens hineinregierten".

Im Mittelalter herrschte hingegen die Auffassung, "dass das Universum Gottes Puppenstube und die Religion ein weit lohnenderes Studienobjekt sei als die Naturerscheinungen", karikieren es Hawking und Mlodinow. Religion füllte nicht mehr bloß Erklärungslücken, sondern geriet nach und nach in Konkurrenz zu anderen Erklärungsformen. Insofern war der Streit mit den sich allmählich entwickelnden Naturwissenschaften wohl unausweichlich. Außerdem stellten sich Rechtfertigungs- und Machtfragen. Beispielsweise trug der Pariser Bischof Étienne Tempier 1277 auf Weisung des Papstes Johannes XXI. eine Liste von 219 Ketzereien zusammen. Dazu gehörte auch die Ansicht, dass die Natur Gesetzen folgt, denn das sei nicht mit Gottes Allmacht vereinbar. "Interessanterweise wurde Papst Johannes einige Monate später von den Auswirkungen des Gravitationsgesetzes getötet, als ihm das Dach seines Palastes auf den Kopf fiel", kommentieren Hawking und Mlodinow lakonisch.

Seither hat sich viel verändert. Der Erfolg wissenschaftlich-technischer Methoden der Naturbeschreibung und -manipulation mit Hilfe von Analysen, Experimenten, Naturgesetzen und Ursache-Wirkung-Beziehungen ist enorm. Damit wurden überweltliche Einflüsse immer unglaubhafter. Dennoch gab und gibt es viele Versuche, die Existenz eines Gottes, transzendenter Entitäten und/oder deren Auswirkungen zu verkünden, indem man sie gleichsam in wissenschaftliche Erklärungslücken stopfte (etwa bei Bewusstsein, Leben oder Quantensprüngen), sie an den Anfang des Universums verlegte oder an dessen Zukunft und angebliches Ziel, sie als tragendes Fundament des Kausalgefüges postulierte oder sie kühn mit der physikalischen Wirklichkeit als Ganzes oder deren Veränderung identifizierte. Dagegen wurden zwar gewichtige logische, philosophische sowie auch wissenschaftliche Argumente angeführt – zumal die "Erklärungslücken" mit zunehmenden Erkenntnissen immer weniger und kleiner werden. Aber mit speziellen metaphysischen Annahmen oder Thesen lässt sich Über- und Hinterweltliches immer irgendwie rechtfertigen, gegen Kritik immunisieren oder auf die unergründlichen Ratschlüsse Gottes abwälzen.

Insofern können Hawking und Mlodinow die Existenz Gottes auch nicht ausschließen. Das ist aus rein erkenntnislogischen Gründen unmöglich, denn eine transzendente Nichtexistenz lässt sich prinzipiell nicht beweisen. Wer also das Dasein und Wirken Gottes behauptet, muss Indizien dafür angeben. Tatsächlich braucht die Wissenschaft Gott zur Erklärung der Welt nicht (sondern schickt sich umgekehrt sogar an, mit psychologischen und biologischen Erkenntnissen Gott zu erklären – genauer: den Glauben an ihn). Und wenn sich die Entstehung der Welt gleichsam aus sich selbst heraus verstehen lässt, dann ist die Annahme eines Schöpfers schlicht unnötig. Genau darin besteht Hawkings Argument – und das vieler anderer Kosmologen und Naturphilosophen, selbst wenn sie Hawkings spezifische physikalische Modelle nicht teilen.

Dies ist der Gegenentwurf zu Designer-Weltdeutungen, die eine absichtliche Erschaffung der Welt behaupten: Unser Universum oder der Kosmos als Ganzes ist auf natürliche Weise erklärbar, auf der Basis von Selbstorganisation, Zufall und Notwendigkeit, also ohne göttliche Eingriffe und teleologische Tendenzen. Es geht in der Welt gewissermaßen mit rechten Dingen zu.

"Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Religion, die auf Autoritätsgläubigkeit beruht, und Wissenschaft, die auf Beobachtungen und Vernunft basiert", betonte Stephen Hawking 2010 auch in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender ABC. "Wissenschaft wird gewinnen, weil sie funktioniert."