Wenn mein Kind Töne nicht nur hört, sondern auch sieht, ist es dann krank? Werden Fluggeräte der nahen Zukunft auch mich zum Piloten machen? Und wie verarbeitet mein Hirn emotionsgeladene Reize oder die Informationen aus dem Augenwinkel? Die Nürnberger Vortragsreihe "Vom Reiz der Sinne" bot dieses Jahr wieder einen anregenden Mix aus Aufklärung, Anwendung und Grundlagenforschung.
Auch 2018 veranstaltet das Institut für populärwissenschaftlichen Diskurs Kortizes wieder drei Veranstaltungsreihen in Kooperation mit dem Nürnberger Planetarium. In der ersten – "Vom Reiz des Wissens" – standen verschiedene Aspekte von Wissenschaftstheorie und -geschichte auf dem Programm. Die Vorträge der zweiten Reihe "Vom Reiz der Sinne" gewährten im April und Mai spannende Einblicke in unsere Wahrnehmung.
Wenn Blicke springen oder gleiten
Welche Rolle Augenbewegungen beim Sehen spielen, erklärte am 3. April Prof. Dr. Alexander C. Schütz bei seinem Vortrag über visuelle Wahrnehmung. Der Eindruck, den wir von unserer Umgebung haben, trügt nämlich. Auch wenn uns unser Bild von der Welt aus einem Guss erscheint, ist es tatsächlich zusammengesetzt aus vielen Informationen, die unser wandernder Blick einsammelt.
Die Regeln, nach denen diese Einzelinformationen im Hirn zusammengesetzt werden, untersucht der Marburger Wissenschaftler in ausgeklügelten Wahrnehmungsexperimenten. In einer Versuchsreihe etwa sahen Schütz' Probanden ein Muster zuerst unscharf am Rande ihres Gesichtsfeldes. Während sie dann den typisch ruckartigen Sprung des Blicks – die sogenannte Sakkade – dorthin machten, veränderten die Forscher das dort Dargestellte.
Das Auslösen solcher Konflikte zwischen zwei Wahrnehmungsquellen, zeigt den Wissenschaftlern, wie das Gehirn arbeitet. So kam heraus, dass es nicht zu einer Zusammenrechnung auf Bildebene kommt, sondern zu einer Gewichtung in einem späteren Verarbeitungsschritt. Dabei bevorzugt das Hirn die zuverlässigeren Daten vom Punkt des schärferen Sehens, der Fovea, ohne die peripheren Daten jedoch ganz zu verwerfen.
Doch was ist eigentlich mit den Informationen, die vom Auge während der Blickbewegungen aufgenommen werden? "Versuchen Sie einmal im Badezimmerspiegel, Ihre Augen bei einer Sakkade zu beobachten", forderte Schütz das Publikum auf. "Es wird Ihnen nicht gelingen!" Denn bei den ruckartigen Bewegungen des Auges wird die Wahrnehmung weitgehend unterdrückt. Auch die Mechanismen, die bei diesem Herausrechnen von Informationen beteiligt, sind Gegenstand der Forschung.
Doch nur während der schnellen Sakkaden werde Wahrnehmung unterdrückt, wie Schütz betonte. Bei der glatten Augenfolgebewegung würde die Wahrnehmung sogar verstärkt. Wenn unsere Augen nicht ruckartig zu einer Zielstelle springen, sondern Objekten wie einem Ball mit einer glatten Bewegung folgen, sehen wir somit sogar besser als mit dem ruhenden Auge. Nicht nur analysieren wir Geschwindigkeit und Richtung des Objekts optimal, auch Unterschiede in Kontrasten, Farben und Formen nehmen wir genauer wahr.
Wenn Emotionen in den Dingen wohnen
Auch im nächsten Vortrag der Reihe, den Prof. Dr. Annekathrin Schacht am 24. April hielt, ging es um Aspekte der visuellen Wahrnehmung. Bei ihrer Forschung an der Universität Göttingen steht allerdings die Verarbeitung des Emotionsgehalts von Gesehenem im Mittelpunkt. Denn ob wir einem Objekt oder Ereignis Aufmerksamkeit schenken oder nicht, ist nicht nur von den mehr oder minder hervorstechenden Eigenschaften der Objekte selbst bestimmt, sondern hängt auch davon ab, ob etwas in unserem Blickfeld mit Gefühlen oder Zielen verknüpft ist.
Die neuronale Reaktion auf einen emotionalen oder motivationalen Gehalt misst Schacht bei Probanden mit Hilfe des EEG. Die Elektroden an der Kopfhaut der Probanden greifen die Änderung der Nervenaktivität in darunterliegenden Hirnarealen ab. Ob eine Versuchsperson ein neutrales Bild wie das einer Wäscheklammer oder ein emotional aufgeladenes Bild wie das eines zähnefletschenden Hundes betrachtet, lässt sich unter anderem anhand der Ausschläge erkennen, die an der Kopfhaut über dem visuellen Kortex gemessen werden können.
Schacht erzählte, dass sie anfangs Unterschiede finden wollte zwischen der Reaktion auf emotional aufgeladene Bilder und der auf emotional aufgeladene Wörter. Denn letztere seien ja gelernt, symbolisch und abstrakt. "Überraschenderweise konnten wir aber zeigen, dass bei beiden Reizen dieselben Muster zu beobachten sind." Nur sei die erste Reaktion bei Wörtern im Vergleich zu Bildern etwas verzögert. Was verständlich sei, schließlich dauere es ja etwas länger bis die Wortbedeutung ermittelt sei.
Umso rätselhafter erschien es aber zuerst, dass bei manchen Probanden eine besonders schnelle Form der Reaktion auf Reize auftrat, bei der eine solche Verarbeitung noch nicht stattgefunden haben konnte. "Nach 100 Millisekunden habe ich noch keine Wortbedeutung aktiv!", sagt Schacht. Dies lasse sich nur erklären, wenn schon etwas in der frühen visuellen Verarbeitung emotional gefärbt ist, wenn etwa durch Lernprozesse schon die Wortform mit Gefühlsbewertung belegt wird.
Dass ein solches Assoziationslernen eine Rolle spielen kann, zeigte Schachts Labor anschließend auch in Studien, bei denen sich die Reaktion der Versuchspersonen auf emotionale Reize tatsächlich durch vorheriges Lernen veränderte. Hatten die Probanden bestimmte Symbole und Gesichter mit Geldgewinnen oder -verlusten assoziiert, zeigten sie genau solche, vorher rätselhaft erschienenen, sehr frühen Reaktionen.
Wenn Sinne nicht getrennt sind
Am 15. Mai ging es beim dritten Vortrag im Nürnberger Planetarium um eine spezielle Variante der Sinneswahrnehmung. "Wenn ich einen Ton höre", erzählte die Ulmer Künstlerin und Dozentin Christine Söffing, "dann sehe ich diesen Ton gleichzeitig wie eine Skulptur im Raum. Außerdem fühle ich an den Fingerspitzen, ob er zum Beispiel riffelig ist oder glatt."
Das von Söffing beschriebene Phänomen ist eine Form der sogenannten Synästhesie. Und diese ist gar nicht so selten. Derzeit gehe die Forschung davon aus, dass etwa 5 Prozent der Menschen synästhetische Wahrnehmungen haben, erklärte Mitreferent Dr. Markus Zedler, der darüber an der Medizinischen Hochschule Hannover forscht. Dabei trete jede denkbare Form von Kombination zwischen verschiedenen Sinnen auf.
So verrückt so etwas bei der ersten Begegnung für Nicht-Synästhetiker vielleicht klingen mag, als so harmlos, normal und sogar nützlich erweist sich diese Variante der Wahrnehmung für die Betroffenen selbst. Söffing wies etwa darauf hin, dass sie ohne Notenkenntnis und musikalische Ausbildung sehr genau wisse, wann sie beim Musikmachen richtig liege, einfach weil sie es ja an der Farbe und Form ihrer Skulptur sehe. Und andere Synästhetiker, für die Buchstaben oder Zahlen charakteristische Farben haben, würden berichten, dass ihnen die Zusatz-Wahrnehmungen helfen, sich Vokabeln oder Telefonnummern zu merken.
Zedler, der in Hannover eine Sprechstunde für Menschen anbietet, die Synästhesie erleben, berichtete, dass es trotzdem leider immer noch viel Unwissen und Fehldiagnosen gebe. Manchen Kindern mit Synästhesie würden Tabletten gegen Halluzinationen verschrieben und er müsse dann mit Psychiatern telefonieren, die von dem Phänomen noch nie gehört hätten. Auch deswegen sei es so wichtig, darüber aufzuklären, dass es sich nicht um eine Behinderung oder eine Krankheit handelt, sondern nur um eine andere Variante der Wahrnehmung.
Charakteristisch ist bei der Synästhesie, dass die primären und die zusätzlichen Wahrnehmungen zwar sehr stabil verknüpft sind, aber immer nur für ein und dieselbe Person. Ein anderer Mensch mit der gleichen Synästhesie hat meist ganz andere Wahrnehmungen. Das zeigte sich auch im Vortrag. So hatte ein Ton, den Söffing als dunkelgrün mit olivgrünem Rand beschrieb, für andere Synästhetiker im Publikum ganz andere Farben.
Den Nicht-Synästhetikern machte Söffing mit einem kleinen Experiment jedoch klar, dass auch ihre Wahrnehmungen sehr viel individueller sind als sie vielleicht ahnten. Auf die Frage "Wo genau hören Sie den Ton dieser Klangschale?" erntete sie jedenfalls eine erstaunlich große Bandbreite an Antworten. Manche hörten den Ton am eigenen Körper, manche vorne, dort wo er erzeugte wurde, und manche oben in der Kuppel des Planetariums.
Wenn Autos uns fliegen lassen
Ebenfalls um Individualität, aber um eine ganz andere, ging es im letzten Vortrag der Reihe "Vom Reiz der Sinne". Prof. Dr. Heinrich H. Bülthoff stellte am 29. Mai Ansätze für einen individualisierten Luftverkehr der Zukunft vor, für den weder spezielle Flugplätze noch der Pilotenschein notwendig sein sollen. Der Kognitionsforscher und Direktor am Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen erforscht, wie neuartige Fluggeräte gestaltet sein müssen, damit sie so leicht zu steuern sind wie Autos.
Im großen Forschungsprojekt myCopter, das von der EU gefördert wurde, untersuchte sein Labor im Verbund mit anderen Forschern und Firmen, wie die Mensch-Maschine-Interaktion am besten gestaltet werden sollte. Wie lässt sich die Steuerung intuitiver gestalten als beim Helikopter? Für welche Aufgaben sollte es Unterstützung vom Bordcomputer geben? Wie wird dieses Fliegen sicher und komfortabel? Lässt sich haptische Rückkopplung einbauen, so dass Flugrouten ähnlich fühlbar werden wie wir eine Straße über das Lenkrad fühlen können?
Ausblick: "Vom Reiz des Übersinnlichen"
Derzeit läuft die dritte Veranstaltungsreihe 2018 des Instituts für populärwissenschaftlichen Diskurs Kortizes – in Kooperation mit dem Nürnberger Planetarium und der GWUP Regionalgruppe Mittelfranken: "Vom Reiz des Übersinnlichen". Nach Martin Moders gestrigem Vortrag "Giftige Gene?" um den vernunftbasierten Zugang zur Grünen Gentechnologie folgen im Juli Vorträge von Lydia Benecke über Psychopathinnen und von Holm Hümmler über die UFO-Szene bzw. Quantenesoterik.