"Armbrust-Drama" fordert fünf Todesopfer – die Behörden schauten weg

Warum mich das "Armbrust-Sektendrama" berührt

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Seit 40 Jahren gehören Sektengeschichten zu meinem Alltag. Dabei handelt es sich meist um tragische Schicksale, die Einblick in ungeahnte Tiefen seelischer Abgründe geben. Was aber in diesen Tagen beim sogenannten "Armbrust-Fall" im bayrischen Passau ans Licht gekommen ist, hat mich berührt wie selten zuvor ein Fall. Dies hat vor allem mit der Ohnmacht der Eltern eines Opfers zu tun, die sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlen: Das Physiker-Ehepaar Julia und Olaf U. verlor seine 19-jährige Tochter Carina.

Die Untersuchungsbehörden haben noch wenig Einzelheiten bekannt gegeben. Sicher ist hingegen: Das dramatische Ereignis hat fünf Opfer gefordert. Drei durch Pfeile aus einer Armbrust. Zwei weitere Todesopfer wurden an einem anderen Tatort – in Niedersachsen – aufgefunden. Ihre Leichen wiesen keine Spuren von Gewalteinwirkung auf, die Todesursache ist noch nicht bekannt.

In diesem mysteriösen Fall dreht sich alles um den 53-jährigen Thorsten W. Mehrere meist junge Frauen sind offensichtlich seinem Wahn zum Opfer gefallen. Die Umstände sind noch unklar. Bestätigt ist hingegen, dass sich der Kampfsportler und Fan der mittelalterlichen Fantasy-Szene unter den Toten befindet. Vieles deutet darauf hin, dass Farina C. zuerst Thorsten W. und ihre Freundin ermordete und sich danach selbst umgebracht hat. Umstände und Hintergründe des Dramas machen nun die Eltern von Carina in einem langen Interview mit dem Magazin Stern publik.

Ihr dreijähriger Leidensweg zeigt, wie dilettantisch und ignorant die Behörden waren: Von der Schule über die Sozialbehörden bis zur Polizei. Obwohl die Eltern alle Hebel in Bewegung gesetzt hatten, liefen sie überall auf. Ja, sie wurden sogar massiv beschuldigt. Mit dem Tod ihrer Tochter werden sie nun rehabilitiert. Den Preis dafür bezahlen sie mit Schmerz und Trauer. All dies hätte verhindert werden können. Auch der Tod ihrer Tochter.

Es begann mit dem Probetraining beim Kampfsportklub Scorpion, das Carinas Lateinlehrer im Gymnasium organisiert hatte. Carina war begeistert und begann, dort wöchentlich zu trainieren. Damals war sie 16 Jahre alt. Dort begegnete sie dem 50-jährigen Thorsten, der sie vereinnahmte und offensichtlich systematisch von der Familie entfremdete. So schildern es die Eltern im Interview.

Carina begann nach kurzer Zeit, die Eltern zu beschimpfen und verleumden. Als sich Carina zu Hause verweigerte, sich meist im Zimmer einschloss und selbst nicht mehr mit ihren beiden Brüdern sprach, gelangten die Eltern an die Schule, weil ihre Tochter über den Lateinlehrer zum Sportklub gekommen war.

Die Schule tat wenig, dafür gab ihr der Lateinlehrer den Rat, sich beim Jugendamt zu melden, wie die Eltern berichten. Mit Hilfe von Thorsten W. und seinen Anhängerinnen konnte Carina bei den Sozialbehörden erwirken, dass sie in ein Jugendheim ziehen durfte. Von diesem Zeitpunkt an sahen die Eltern ihre Tochter nie mehr. Drei Jahre lang, in denen sie alles versuchten, um ihre Tochter aus dem Sektengefängnis zu befreien. Vergeblich. Niemand hat ihnen geholfen.

Kurz danach brachte sich der Lateinlehrer um. Im Abschiedsbrief, den er verschiedenen Medien schickte, erklärte er, die Anschuldigungen der Eltern seien mit ein Grund für seinen Suizid. Der Sportklub veröffentlichte den Brief auf seiner Facebook-Seite. Die Eltern erstatteten Anzeige gegen Thorsten W. Sie bekamen recht, doch er hatte sich bereits verbreitet. Danach erstattete Carina im Juli 2016 Anzeige wegen häuslicher Gewalt gegen ihre Eltern. Außerdem versuchte sie gemeinsam mit ihrer Bekannten Farina C., den Eltern die elterliche Fürsorge zu entziehen. Diese hätte auf Farina übergehen sollen. Pikant dabei: Farina C. war befreundet mit Gertrud C., der ehemaligen Ehefrau des Lateinlehrers. Außerdem gehörte sie zur Gruppe von Thorsten W.

Wie eng die Bindung gewesen war, zeigte sich beim Drama: Gertrud C. starb zusammen mit Carina. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Lateinlehrer Verbindungen zum Kampfsportklub hatte und die Anschuldigungen an die Adresse der Eltern im Abschiedsbrief kein Zufall war.

Die Eltern waren von Anfang an sicher, dass Thorsten W. ein Sektenregime aufgezogen hatte und wie ein Sektenführer agierte. Sie informierten die Behörden laufend über ihre Beobachtungen und Recherchen. Die Antwort des Jugendamtes: Wir können ein 16-jähriges Mädchen nicht einsperren, wie die Mutter dem Stern sagte.

Bezeichnend ist auch, dass Thorsten W. offensichtlich einen Hang zur Esoterik hatte. Er behauptete, im Bild einer Aura-Fotographie könne man die Todesursache einer verstorbenen Person erkennen. Als die Behörden nichts unternahmen, engagierten die Eltern einen Privatdetektiv. Der wies den Kontakt von Carina mit Thorsten W. nach und fotografierte ihre Tochter bange Monate später vor seinem Haus. Nun wussten die Eltern wenigstens, dass sie noch lebte. Anwohner sagten, Thorsten W. habe die jungen Frauen wie Sklavinnen behandelt.

Später entdeckten die Eltern ein Video, in dem sich die Gruppe um Thorsten W. "Team Hawk" (Team Falke) nannte. Darin tauchte auch Carina auf, die wie die anderen jungen Frauen in eine schwarze Kutte gekleidet war. Gekämpft wurde mit Schwertern und Pfeilen. Ein Hinweis auf mittelalterliche Spiele und Rituale.

Die Eltern versuchten vor wenigen Wochen noch, dem Sportklub die Verbandslizenz entziehen zu lassen. Als sie zur Sitzung fahren wollten, waren die Pneus ihres Wagens zerstochen. Kurz darauf warfen Unbekannte drei Molotow-Cocktails unter ihr Auto. Die Eltern sind an die Medien gelangt, weil sie die Öffentlichkeit warnen und die Behörden sensibilisieren wollen.

Auch wenn noch wenig bekannt ist über die spirituelle oder esoterische Ausrichtung von Thorsten W.: Die Gruppe zeigte klare Sektenmerkmale. Mir ist bewusst, dass diese Schilderungen die Sicht und die Erfahrungen der Eltern widerspiegeln. Die Beobachtungen und Fakten sind aber weitgehend belegt durch ihre Recherchen, die sie der Polizei und den Behörden mitgeteilt haben. Und die sich nun bewahrheiteten. Wenn diese nun behaupten, sie hätten Carina nicht einsperren können, verhöhnen sie die Eltern gleich noch einmal.

Die Sozialbehörden hätten Carina näher beobachten und enger begleiten müssen. Sie hätten ihr Auflagen machen und sie notfalls sanktionieren müssen. Schließlich haben die Eltern genügend Informationen und Hinweise geliefert, die die verhängnisvolle Verstrickung aufzeigten. Und die Polizei hätte sich mit Thorsten W. und seiner Gruppe befassen müssen. Der Anfangsverdacht, der erste Ermittlungen gerechtfertigt hätte, war schließlich gegeben.

Dies ist zwar ein außergewöhnlicher Fall. Angehörige von Sektenmitgliedern erleben aber oft ein ähnliches Schicksal, wenn auch nicht mit einem solchen Ausgang. Hilfe von Behörden können sie sich in aller Regel nicht erhoffen. Und Sektenberatungsstellen haben keine Möglichkeiten, wirkungsvoll einzugreifen. Ein Missstand.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.