Nach fast 20 Jahren Präsenz in Afghanistan haben die meisten NATO- und US-Truppen das Land am Hindukusch verlassen. Die radikalislamistischen Taliban konnten daraufhin beinahe "kampflos" die Macht übernehmen. Ihr Ziel: Die Gründung eines islamischen Gottesstaates. Aus Angst flohen in den Tagen nach der Machtübernahme zehntausende Menschen in Richtung Flughafen – die dramatischen Bilder gingen um die Welt. Doch was ist mit den Menschen, die noch immer in Kabul oder den ländlichen Provinzen ausharren? "Die internationale Gemeinschaft hat uns im Stich gelassen", sagt Farzana Kochai, 29-jährige afghanische Parlamentsabgeordnete, in einem emotionalen FaceTime-Telefonat mit Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter des Friedens.
Sven Lilienström: Frau Kochai, vielen Dank, dass Sie trotz der beunruhigenden Entwicklung die Zeit für ein Interview haben. Gerne möchten wir Sie zuallererst fragen: Was bedeutet Frieden für Sie ganz persönlich?
Farzana Kochai: Für mich bedeutet Frieden, dass ich all das tun kann, wozu ich Lust habe. Jeden Tag, und das, ohne Repressionen fürchten zu müssen. Unter Frieden verstehe ich die Anerkennung und Achtung der Menschenrechte sowie der Geschlechtergleichheit. In einer friedlichen Welt gibt es keinen Platz für Diskriminierung – keine Gewalt gegen bestimmte ethnische Gruppen oder religiöse Minderheiten. Wenn unsere Gesellschaft all diese Attribute vereint, kann dieser Zustand als Frieden definiert werden. Das ist zumindest mein Verständnis von Frieden.
Wir sehen jeden Tag neue dramatische Bilder aus Afghanistan – zuletzt auch aus Kabul. Sie sind Abgeordnete des afghanischen Parlaments. Wie ist die Lage in Kabul? Wie geht es Ihnen – sind Sie sicher?
Die Lage in Kabul ist äußerst dynamisch. Wir wissen nicht, was in den nächsten Minuten, Stunden oder Tagen passieren wird. Wir wissen es nicht, weil wir gerade erst unsere Regierung verloren haben und überhaupt alles, was wir uns in den letzten 20 Jahren und davor aufgebaut haben. Wir haben alles verloren und niemand fühlt sich verantwortlich – niemand! Die internationale Gemeinschaft hat uns verlassen. Jetzt hängt unser Leben vom Wohlwollen der Taliban ab, die wir so lange bekämpft haben. Unsere Zukunft hängt vom Wohlwollen der Taliban ab. Wir, die Zivilbevölkerung, haben keinerlei Rechte und keine Macht, irgendetwas zu tun.
Dies beantwortet auch Ihre Frage nach meiner Sicherheit. Die Welt spricht zurzeit mit den Führern der Taliban in Doha, um sicherzustellen, dass die sogenannten "Ortskräfte" in Sicherheit gebracht werden. Das wissen wir zu schätzen. Aber ich wünschte, wir hätten auch jemanden, der sich um uns kümmert!
Der Abzug der US-Truppen und die Machtübernahme der radikalislamistischen Taliban haben Afghanistan ins Chaos gestürtzt. War der Truppenabzug ein Fehler? Wen machen Sie für die Situation verantwortlich?
Die ganze Welt ist verantwortlich dafür, was gerade in Afghanistan passiert. Mit Afghanistan kollabiert im 21. Jahrhundert eine ganze Nation und verantwortlich dafür ist eine kleine "Gruppe von Menschen" – die Taliban. Und das, obwohl fast die ganze Welt hier war, um gegen sie zu kämpfen. Wir wussten, was passiert, wenn die Taliban wieder an die Macht kommen. Wir wussten es, weil sie es bereits in der Vergangenheit getan haben!
Jetzt, da all diese Dinge passieren – wer ist verantwortlich? Meine Antwort lautet: Die ganze Welt. Ich spreche nicht von einzelnen Ländern oder Zivilisten, wir sind allen sehr dankbar, denn sie haben viel für Afghanistan getan – insbesondere für Frauen sowie Kinder und ihre Zukunft in diesem Land. Die Verantwortlichen haben versagt; die Entscheider haben fatale Fehlentscheidungen getroffen. Afghanistan ist kein Versuchslabor, in dem die Welt nach Belieben neue Strategien oder sonstige Entscheidungen testen kann, um zu schauen, was funktioniert und was nicht!
Hier am Hindukusch geht es um mehr als 30 Millionen Menschen – es geht um 30 Millionen Menschenleben! Um ihre Gegenwart und Zukunft. Und ihre Sicherheit. Afghanistan ist nicht das Versuchslabor der Welt, die Menschen in Afghanistan sind keine Versuchskaninchen. Heute erlebt jeder Afghane, wie es sich anfühlt, sterben zu können. Heute sind wir ohne jede Hoffnung, fühlen uns verloren und sind tief enttäuscht, in dieser Lage zu sein.
In einem Interview mit der deutschen Nachrichtensendung Tagesschau sagten Sie, dass es Widerstand von der jungen, "neuen" Generation geben wird. Haben Sie Angst vor einem neuen und langen Bürgerkrieg?
Ich habe nicht gesagt, dass es Widerstand geben wird. Vielmehr kommt es darauf an, wie die Taliban regieren werden. Derzeit ist es nicht klar, ob wir Widerstand erleben werden oder nicht. Klar hingegen ist: Wenn sich die Taliban gegen die Werte und Errungenschaften der Menschen – insbesondere der jungen Generation, die mit der aufkeimenden Demokratie in Afghanistan aufwächst – stellt, wird es Widerstand geben. Die junge Generation wird das, was sie in den vergangenen zwanzig Jahren gewonnen hat, nicht einfach aufgeben wollen. Sie werden sich denjenigen anschließen, die gegen die Taliban kämpfen – wie beispielsweise Amrullah Saleh, den Vizepräsidenten von Ashraf Ghani.
Aber wenn die Taliban eine Regierung bilden, welche die Rechte und Freiheiten der Menschen hierzulande anerkennt, halte ich es ebenso für möglich, dass die Menschen diese Regierung unter der Herrschaft der Taliban tolerieren. Denn: Nach einem halben Jahrhundert Krieg sind die Menschen in Afghanistan kriegsmüde. Niemand möchte einen neuen und vermeidbaren Konflikt – schon gar nicht mit den Taliban!
Die Taliban wollen ihre "Version" der Scharia in Afghanistan etablieren. Was sind Frauenrechte und Gleichberechtigung in der Scharia und wer setzt sich jetzt noch offen für die Rechte von Frauen und Mädchen ein?
Laut den Regeln des Islams haben Frauen und Männer die gleichen Rechte. Islamische Regeln und Vorschriften sind in unserem Gesetz verankert. Auch unsere Verfassung basiert auf dem Islam – auf dessen Regeln und Vorschriften. Die Frage ist vielmehr: Wie werden die Taliban die Regeln des Islam diesmal interpretieren? Das, was die Taliban vor 20 Jahren als Regeln des Islams versucht haben durchzusetzen, war jedenfalls ihre ganz eigene Version der islamischen Scharia.
Für die Menschen außerhalb Afghanistans ist es nicht immer leicht, die verzweifelte Lage der Menschen vor Ort emotional zu begreifen. Was haben Sie in den letzten Tagen gesehen und erlebt? Was lässt Sie nicht mehr los?
Das Schlimmste für mich war, als die Taliban in Kabul einmarschiert sind. Ich fühlte mich macht- und schutzlos, zerrissen zwischen Angst und Ohnmacht. Die Menschen rannten hin und her. Auf den Straßen herrschte das totale Chaos. Diese unerträgliche Situation, die Sorgen und das Leid der Menschen hautnah miterleben zu müssen – all das hat mir mein Herz gebrochen.
Die Nachricht, dass unser Präsident geflohen ist, sich einfach abgesetzt hat, versetzte mir einen weiteren Stich ins Herz. Die Menschen in Afghanistan haben in diesen Tagen so viele unbeantwortete Fragen: Wo ist unsere Armee – wo sind unsere Streitkräfte? Wo sind sie alle? Die Antwort ist so traurig wie entmutigend. Wir haben niemanden, der zurzeit das Sagen hat. Wir haben niemanden, der in unserem Namen spricht, in unserem Namen verhandelt oder für uns kämpft. Wir sind auf uns allein gestellt und müssen es selbst tun – für uns und all diejenigen, die zu uns aufschauen. Das ist nicht nur zutiefst enttäuschend, sondern neben der körperlichen auch eine enorme seelische Belastung!
Frau Kochai, unsere siebte Frage ist immer eine persönliche. Wie sehen Sie Ihre berufliche und private Zukunft in Afghanistan? Und das Wichtigste: Haben Sie noch Hoffnung auf Frieden in Ihrem Land?
Derzeit kann ich unmöglich sagen, wie meine Zukunft in diesem Land aussehen wird. Je länger ich darüber nachdenke, desto schmerzhafter wird es. Und natürlich bin ich nicht die Einzige, der es so geht. Millionen Menschen in Afghanistan wissen nicht, wie ihre Zukunft aussehen wird – was mit ihnen passieren wird. Die Menschen haben Berufe, sie wissen, was sie können. Das macht sie selbstbewusst. Aber sie sehen auch, dass ihre Regierung, der sie vertraut haben, aufgegeben hat. Und das Schlimmste ist: Die Regierung hat nicht nur sich selbst, sondern auch die Menschen in unserem Land aufgegeben.
Gleichwohl hoffe ich immer noch, dass alle Seiten zusammenkommen. Leider haben bereits viele Menschen – auch diejenigen in verantwortlichen Positionen – das Land verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Zurück bleiben wir und die Taliban, die tun und lassen, was sie wollen.
Wir beten jeden Tag zu Gott, wir beten zu Allah, denn wir haben niemanden, der uns hilft – weder in Kabul noch sonst wo auf der Welt. Wir beten für unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder und die Zukunft unseres Landes. Allein der Funken Hoffnung auf ein Friedensabkommen und eine Regierung, die sich dem Wohle ihres Volkes verpflichtet fühlt, lässt mich stark sein. Dieser Funken Hoffnung hält mich am Leben!
Vielen Dank für das Interview, Frau Kochai!