Wenn der Glaube zum Feind der Vernunft wird

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Im Alltag sind Vernunft und Verstand wichtige Instrumente, um das Leben erfolgreich zu meistern. In sektenhaften Gemeinschaften werden sie aber unterdrückt.

Mitglieder von strenggläubigen Gruppen fallen aus allen Wolken, wenn ihre Gemeinschaft als Sekte eingestuft wird: "Ich, ein Sektenanhänger? Das ist völlig absurd", antworten sie aus tiefster Überzeugung. Sekten sind in ihren Augen alle anderen Bewegungen, aber doch nicht ihre eigene.

Zur religiösen oder ideologischen Überzeugung – "wir sind auserwählt und vertreten den einzig wahren Glauben" – kommt die gefühlsmäßige Konditionierung. Frisch rekrutierte Gläubige erleben in der Regel ein überwältigendes emotionales Schaumbad, oft eine wahre Euphorie.

Die vermeintliche Gewissheit, die religiöse Wahrheit und die auserwählte Gemeinschaft gefunden zu haben, lassen die Gefühlswelt explodieren. Alle Sorgen und Nöte fallen von den Missionierten ab, die Zukunft schillert in den schönsten Farben und ist auf alle Ewigkeit gesichert, glauben sie. Die Glücksgefühle sind mit dem Zustand des Verliebtseins zu vergleichen.

Doch wir können uns bei der Suche nach der religiösen Wahrheit nicht auf unsere Gefühle verlassen. Meine Erfahrungen mit Sektenaussteigern bestätigen dies. Es scheint sogar, dass spirituelle Gefühle nicht in erster Linie von den religiösen Inhalten abhängig sind, sondern vor allem von suggestiven Elementen.

Intensive Gefühle werden als Ausdruck der Gottesnähe interpretiert

Je stärker die gruppendynamischen Rituale, je übersteigerter die versprochenen Heilserwartungen, desto ekstatischer die Gefühlswallungen. Verhängnisvoll dabei ist, dass die Gläubigen oft den Fehlschluss ziehen, dass intensive Gefühle ein besonderer Ausdruck der Glaubenserfahrung und Gottesnähe seien.

Konkret: Die spirituellen Gefühle werden als Ausdruck der Frömmigkeit gewertet. Noch mehr: Die Empfindungen werden zum Gradmesser des Glaubens.

Gläubige sind überzeugt, dass Gott ihnen die starken Gefühle als Beweis für den richtigen Glauben schenkt. Ein verhängnisvoller Zirkelschluss, der nicht in die Freiheit führt, sondern in die Abhängigkeit.

Die Sehnsucht nach Erlösung, Erweckung und Erleuchtung ist eine Falle. Sie führt in eine radikale Parallelwelt, in der wir das Koordinatennetz verlieren. Vernunft und Verstand werden unterdrückt, Fragen, die im "normalen Leben" automatisch gestellt werden, verdrängt.

Fragen nach Sinn und Zweck. Vor allem aber nach Plausibilität: Ist es möglich, dass ein freikirchlicher Pastor wie einst Jesus schwere Krankheiten heilen oder Tote wieder zum Leben erwecken kann? Spricht Gott wirklich zu mir? Ist es wahrscheinlich, dass man mit Hilfe der scientologischen Kurse ein unsterbliches Genie werden kann?

Oder: Kann ich nach dem Absolvieren des esoterischen Lichtnahrungsprozesses für den Rest meines Lebens auf Nahrung verzichten? Bauen Avatare oder aufgestiegene Geistwesen tatsächlich ein Metallgitter um unseren Planeten, um die spirituellen Schwingungen auf der Erde zu erhöhen und die spirituelle Entwicklung der Menschheit zu fördern?

Wenn der Geist betäubt wird, flüchtet die Vernunft

Der psychische Ausnahmezustand durch die großzügige Ausschüttung von Glückshormonen lässt viele Sektenanhänger daran glauben, dass solche völlig überspannten Phänomene Realität werden können. Denn die gruppendynamischen Prozesse in sektenhaften Bewegungen betäuben jene Hirnregionen, die wir zur erfolgreichen Bewältigung des "grobstofflichen Lebens" im Alltag dringend brauchen.

Fazit: Wenn der Glaube zum Feind von Vernunft und Verstand wird, schnappt die Sektenfalle zu.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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