Fast sieben Jahre sind seit der Revolution in Ägypten vergangen. Was bleibt?

"Wir sind es leid aufzubegehren"

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Die prall orangene Abendsonne hängt tief über dem Lärm der hupenden Autos. In der Ferne ragt die Silhouette des rosafarbenen ägyptischen Museums über die Autodächer hinweg, die sich zum Feierabend in einem aussichtslosen Chaos auf dem Tahrir-Platz verkeilen. Der fünfspurige Kreisverkehr im Herzen Kairos bringt sechs Verkehrsadern zusammen. Täglich pumpt er tausende Autos, Motorräder und Busse durch die Millionenstadt. Ein Taxifahrer hat das Fenster geöffnet und blickt stirnrunzelnd auf den verbeulten Kofferraum des nächsten Autos. Eine Lücke tut sich auf und das Taxi rollt einen Meter, bevor es wieder zum Stillstand kommt. Die Luft ist schwer von Smog. Doch es ist angenehm jetzt im Oktober, wo die Sommerhitze langsam abklingt.

Der Taxifahrer hält eine glimmende Zigarette aus dem geöffneten Fenster und inhaliert langsam den Rauch. "Vor sechseinhalb Jahren war dieser Platz voll mit tausenden Menschen", erzählt er. "Es gab keinen Platz für ein einziges Auto." Nachdenklich blickt er auf das Straßenchaos vor der Heckscheibe und nimmt einen Zug. "Die Revolution hat Ägypten nicht gut getan."

Anfang 2011 war der Tahrir-Platz die öffentliche Bühne einer Revolution, welche die ganze Region erfasste. Nur wenige Wochen waren vergangen, seit sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazazi mitten auf einer Kreuzung in Sidi Bouzid anzündete. Nur ein Funke – doch er wurde schnell zum Flächenbrand des arabischen Frühlings, der am 25. Januar Ägypten erreichte.

An diesem Tag strömten tausende Demonstrantinnen und Demonstranten zum ersten Mal auf den Tahrir-Platz. Das Unfassbare war geschehen. Nach 30 Jahren der diktatorischen Herrschaft unter Präsident Hosni Mubarak begann sich die Bevölkerung entschieden aufzulehnen. "Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke", erzählt Wahid, der damals Teil der Proteste war. "Es war ein Meer aus Menschen mit den unterschiedlichsten sozialen, politischen und religiösen Hintergründen. Doch alle geeint in ihrer Forderung nach dem Rücktritt Mubaraks."

"Der Platz wurde zu etwas radikal Neuem und Unbekannten", sagt der amerikanische Journalist und Autor Robert Worth. "Die Miniatur einer perfekten Volksgemeinschaft." Als Zeuge der Ereignisse beschreibt er, wie auf dem überfüllten Platz Christen und Muslime zur Zeit des Gebets gegenseitig Wache hielten. Wie Korridore gebildet wurden für Neuankommende, die mit Jubelrufen empfangen wurden. Wie die Stimmung, aufgeladen und ekstatisch, sich in Wellen des gemeinsamen Aufbegehrens gegen ein Regime wandte, von dem sich die Menschen betrogen fühlten.

Die Proteste gipfelten am 11. Februar, als auf dem Tahrir ein Röhren aus der Menge kam. Ungläubige Schreie, Tränen, fremde Menschen, die sich in die Arme fielen. Mubarak war zurückgetreten. Das Militär bildete die Interims-Regierung und versprach den Weg für demokratische Wahlen zu ebnen. Alles war offen, alles war vielversprechend. Die Zeit war gekommen, eine bessere Zukunft zu bauen.

Doch die Euphorie wich bald einem dumpfen Gefühl der Sorge. "Am 11. Februar war ich nicht glücklich", erinnert sich Wahid, "mir war klar, dass wir keine Alternative zu Mubarak bereit hatten. Keine vielversprechende Opposition, der sich die Menschen zuwenden konnten. Es gab keinen Masterplan."

Nach über einem Jahr andauernder Unruhen und politischer Machtkämpfe wurde am 30. Juni 2012 in Ägypten die erste demokratische Wahl durchgeführt. Die Entscheidung fiel knapp aus. Mohammed Mursi, Kopf der Muslimbrüderschaft, setzte sich mit einer knapp 52 prozentigen Mehrheit gegen den Mubarak-nahen Konkurrenten durch. Eine Wahl zwischen fundamentalem Islam und alter Ordnung, sagten kritische Stimmen zynisch.

"Die zwei folgenden Jahre waren die schlimmsten meines Lebens," sagt Wahid heute kopfschüttelnd. "Alles ist zusammengebrochen. Die Muslimbrüderschaft wollte alles kontrollieren, alles wurde religiös aufgeladen. Meine Nachbarschaft ist hauptsächlich christlich, es gab ständig Kämpfe zwischen Christen und Mitgliedern der Muslimbrüderschaft. Wenn es wieder eskalierte, rief mich meine Mutter an, ich solle nicht nach Hause kommen von der Arbeit. Das wurde Normalität. Am Anfang des Jahres 2011 waren die Menschen noch gegen die Mubarak-Regierung, Ende des nächsten Jahres gegen die Muslimbrüderschaft."

Menschen begannen wieder den Tahrir-Platz zu besetzen. "Zu dieser Zeit war ich ständig auf der Straße. Wir sind kilometerlang gelaufen, jeden Tag." Die schlechte ökonomische Lage, die eingeschränkten Freiheitsrechte, die politische Unterdrückung, all das war wie bittere Galle für die Protestierenden, die sich Gegenteiliges von der Revolution 2011 erwartet hatten. Die Massenproteste hielten Monate an. Letztendlich mit Erfolg. Im Juli 2013 wurden Mursi und seine von der Muslimbruderschaft gestützte Regierung durch einen Militärputsch abgesetzt.

Abdel Fattah El-Sisi war damals Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Jetzt ist er Präsident. "Besser als Mursi, aber bei weitem nicht gut," findet Wahid. Ägypten befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die wenigen Jobs sind schlecht bezahlt. Vor wenigen Monaten wurden die Spritpreise fast verdoppelt. Seit der Revolution bleibt auch der Tourismus aus, eine wichtige Einnahmequelle. Und um die Meinungsfreiheit steht es heute schlechter als unter Mubarak. In der Öffentlichkeit haben die Menschen Angst über Politik zu reden. Laut Human Rights Watch sind zurzeit 60.000 Regimekritiker inhaftiert. Ob es wohl nochmal eine Revolution gibt? "Die letzten Revolutionen haben die Lage nur verschlechtert. Das haben die Menschen gelernt", findet Fatma, eine Journalistin aus Kairo. "Wir sind es leid aufzubegehren."

Der Tahrir ist am heutigen Tag friedlich, trotz des Verkehrschaos. Die Sonne ist untergegangen und der Verkehr beginnt langsam wieder zu fließen. Die Zigarette des Taxifahrers ist ausgegangen. Er zündet eine neue an. "Gibt es Hoffnung für Ägypten?" Der Taxifahrer schweigt lange. Er nimmt einen tiefen Zug und die Zigarette leuchtet glimmend in die Nacht. "Insha’allah", sagt er schließlich. "So Gott will."