Hamburger G20-Protest: Friedliche Schönheit steckte in vielen Momenten

Lieber tanz ich

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Regenbogenwerfer-Einsatz

Es geht nicht weiter. Dicht gedrängt, die Hälse reckend, stehen tausende Demonstrierende auf einer Brücke, parallel zu den Hamburger Landungsbrücken. Es ist Freitag Nachmittag, und in wenigen Stunden werden in der Elbphilharmonie die Streicher die Bögen heben, um die ersten Töne von Beethovens 9. Sinfonie anzustimmen.

Der Pulk auf der Brücke ist bunt gemischt. Punks mit grünen Haaren und durchlöcherter Hose stehen neben einer Familie mit "Es gibt keinen Planet B"-Banner. Langsam macht sich unter den Demonstrierenden Unmut breit. Ein grimmig aussehendes Mädchen mit blauem Tuch im Haar hat sich an einem Laternenpfahl hochgezogen, um zu sehen, was den Demonstrationszug aufhält. Andere sind auf die Mauer eines angrenzenden Hotels geklettert. Vorne, vor der ersten Reihe des Demonstrationszugs lassen sich die weißen Helme der Hundertschaften erkennen, die die Brücke blockieren. "Hier geht es auf jeden Fall nicht weiter", ruft ein Mann in sein Megafon. Er hat die weißen, schon etwas schütteren Haare zu einem Zopf gebunden, die Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Der Tag ist unerwartet heiß geworden. Die Gruppe, zu der er spricht, ist in orangene T-Shirts gekleidet, dazu passend orangene Fähnchen und einige Transparente. Sie stehen etwas abseits. Auf einmal laufen sie los. In die entgegengesetzte Richtung. Über eine Seitenstraße und eine Treppe abwärts. Plötzlich stehen sie mitten auf den Landungsbrücken. "Genau hier wollten wir hin", jubelt eine junge Frau mit Hornbrille. Auch sie trägt ein orangenes Shirt, dazu eine an den Knien abgezippte Wanderhose und Sandalen. Einige hundert Meter weiter haben sich bereits vier Wasserwerfer in Stellung gebracht. Davor zwei Polizeiketten in voller Montur, mit gezückten Gummiknüppeln. Der orangene Pulk läuft entspannt weiter.

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In einer anderen Straße macht sich die Polizei gerade daran, eine Sitzblockade aufzulösen. Zuvor lärmt es zwei Mal durch die Lautsprecher:

"Wir fordern Sie auf die Straße sofort zu räumen, sonst werden wir auch ohne Ankündigung mit Wasserwerfern gegen Sie vorgehen."

Als Reaktion haken sich die dicht auf dem Boden gedrängt sitzenden Menschen ein.

"Wir sind friedlich, was seid ihr?"

Mit Regenschirmen und Planen schützend über die geduckten Köpfen gezogen, schreien die jungen Demonstrierenden, als der erste Wasserstrahl hart auf sie einprasselt – teils aus Empörung, teils aus Verzückung über die kalte Erfrischung. Und ungeachtet des ganzen Chaos, des Lärms und der Aufregung, bildet sich über den sprühenden Tropfen ein funkelnder Regenbogen.

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Der orangene Pulk läuft weiter. In ihm ist nichts zu spüren von der Anspannung, die an diesen Tagen die ganze Stadt erfasst zu haben scheint. Die Frau mit Wanderhose stimmt einen Gesang an und springt dazu von einem Bein aufs andere.

"Lieber tanz ich als G20!"

Hüpfend und singend nähert sich die kleine Gruppe immer mehr der Polizeiblockade. Diese scheinen von dem Anblick massiv überfordert zu sein. Ein Polizist tritt von einem Bein aufs andere und schaut seinen Nachbar an. Was ist die Strategie?

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Die Vorderseite der riesigen Saturn-Filiale ist vollständig mit schwarzem Stoff bespannt. Ob provisorisch oder dauerhaft, lässt sich – wie so vieles an diesem Wochenende – nicht genau sagen. Unten auf der Straße warten Massen von Menschen jeden Alters mit bunten Plakaten, Perücken und Trillerpfeifen auf den Beginn der Demonstration. Der Himmel ist wolkenverhangen, und alle haben den Blick nach oben gerichtet. Doch nicht die graue Himmelsdecke zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Links neben dem großen Saturn-Logo haben sich zwei Menschen vom Dach abgeseilt. In voller Klettermontur baumeln sie in gut zehn Metern Höhe vor dem schwarzen Stoff. Zwischen ihnen ist ein Seil gespannt, auf das ein leuchtend gelbes Transparent gewickelt ist.

"Was meint ihr, von wem die Aktion kommt?", rätselt Friedrich, ein Student mit blauer Base-Cap.

"Greenpeace, bestimmt, den grünen T-Shirts nach zu schließen", sagt Laura, die daneben steht.

"Ich sage: Amnesty", Clara zeigt auf den gelben Stoff, "wollen wir wetten?"

Losgetreten ist eine heiße Diskussion über den Urheber der Aktion und welchen Spruch das entrollte Transparent wohl enthüllt. Auch alle Umstehenden sind gespannt. Die zwei Kletterer haben allerdings noch Probleme, in dieser Höhenlage den Stoff zu entrollen. Über den Rand des Dachs lugt ein behelmter Polizist. Ob das wohl angemeldet war?

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Die durchnässten Demonstrantinnen und Demonstranten werden zurück auf eine Kreuzung getrieben. Die Luft vibriert von Blaulicht und Sirenen. Das Polizeiaufgebot hat sich verdreifacht. Eiserne Mienen gegen wütende Sprechchöre. Doch alle sind ausgelaugt von der Aufregung der letzten Stunden. Immer mehr der Demonstrierenden verlassen ihre Position und legen sich – alle Viere von sich gestreckt – auf die Gehwege und warten darauf, dass die Sonne die Nässe aus den Klamotten zieht. Der Wall an schwarz Uniformierten bleibt bestehen, doch manche nehmen ihre Helme ab. Verschwitzte, rote Köpfe kommen zum Vorschein. Die Kreuzung leert sich sichtlich und eine fast unbeschwerte Gelassenheit macht sich breit. Irgendwann hält in der Mitte der Kreuzung nur noch ein Einziger vor der meterlangen breitbeinig stehenden Polizeikette die Stellung: Ein großer aufblasbarer Gummi-Delfin, der mit seinen kreisrunden Augen unschuldig in die Welt blickt.

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Johannes ist wütend.

"Ich will einfach nur nach Hause und keine einzige scheiß Bahn fährt!"

Gegen die Proteste an sich habe er nichts, aber dass dafür der Ausnahmezustand eintreten muss, rege ihn auf. Die Anzeigetafel im Hamburger S-Bahnhof zeigt nur "Außer Betrieb" an. Die Reisenden verstehen schnell, dass es von hier aus wohl nicht weiter geht und treten den Rückzug über die Rolltreppe nach oben an.

"Als Hamburger ist das wirklich schlimm für mich, die eigene Stadt so verwüstet zu sehen. Da denke ich mir, ganz ehrlich: Soll die Polizei doch machen was sie will. Mein Einverständnis haben sie!"

Drei Demonstranten in blauen Shirts stehen daneben und hören seine Tirade an.

"Ich verstehe, dass Du wütend bist, aber schau Dir mal die Politik der G20 an. Das sollte Dich wütend machen", entgegnet einer.

Es entwickelt sich eine Diskussion über die Legitimität verschiedener Protestformen. Da man in dieselbe Richtung muss, wird beschlossen, ein Taxi zu teilen. Johannes' Ärger lässt langsam nach. Er erzählt über seine Lehre und die schwangere Freundin, die zu Hause warte.

"Und was macht ihr?"

"Studieren", tönt es einstimmig zurück.

"Ich fasse es nicht. Ihr scheiß Klugscheißer-Studenten!"

Das ganze Auto lacht.

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"So Leute, keine Sorge", ruft der weißhaarige Zopf-Mann den Orangefarbenen wieder durch sein Megafon zu, "die denken sowieso, wir wären alte Hippies. Wir laufen einfach ganz entspannt weiter. Und denkt dran, von uns geht keine Gewalt aus."

Drei Hubschrauber kreisen wie überdimensionierte Fliegen über den Landungsbrücken. Ihr Gebrumm ist der Sound dieser Tage. Da passiert es. Schnaufend setzen sich auf einmal die Wasserwerfer in Bewegung. Nicht nach vorne, nein – sie treten den Rückzug an. Gute 300 Meter rollen die Fahrzeuge im Rückwärtsgang, unter dem Jubel der fröhlichen Gruppe. Ein paar Umstehende lachen und schütteln fassungslos den Kopf.

"Dieser Moment, wenn ein paar alte Hippies das schaffen, was ein riesiger schwarzer Block nicht zustande bringt."