In der URANIA Berlin zeigte der Filmemacher Peter Bringmann-Henselder, selber ein ehemaliges Heimkind, seine Dokumentation über evangelische, katholische und städtische Kinder-, Waisen- und Behinderten-Einrichtungen in Ost- und Westdeutschland. Lange Zeit, so sagt der Filmemacher, hat man die Heimkinder zum Schweigen gebracht. "Jetzt reden wir!" ist der Tenor seines Filmes.
"Wir", das meint unter anderem auch elf betroffene Menschen, die Heimerziehung erleben mussten. Sowie die Engagierten wie Prof. Dr. Manfred Kappeler, Sozialpädagoge, Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche. Er kritisierte die Heimerziehung schon in den 60er Jahren. Kappeler widerspricht in diesem Film erneut, dass die Heimerziehung erst in den vergangenen 10 Jahren in das öffentliche Bewusstsein gedrungen sei. "Das kann gar nicht stimmen", sagt der Erziehungswissenschaftler. Denn bereits in den 60ern habe es unter Beteiligung von Jugendlichen, Kindern und Erziehern in der Bundesrepublik Aktionen gegeben, in denen über verbrecherische Zustände in Heimen öffentlich berichtet wurde.
Kappeler nennt Autoren und ihre Bücher, die in Auflagen bis zu 80.000 Exemplaren erschienen sind, u. a. von Peter Brosch "Heimterror und Gegenwehr" (Fischer Taschenbuch Verlag, 1972, Auflage 80.000) und "Bambule" von Ulrike Meinhoff aus dem Jahr 1970.
Kappeler spricht von einer umfassenden Information der Öffentlichkeit. Menschen, die in diesem Bereich gearbeitet haben, sind damit konfrontiert worden, "so dass heute natürlich niemand mehr sagen kann, er hätte davon nichts gewusst." Es gehe sogar noch weiter zurück. Bereits 1920 haben Pädagogen über die Verhältnisse in Fürsorgeheimen, Erziehungs- und Kinderheimen berichtet und schon damals sind Bücher erschienen. Wer dann noch nach 2003 von sich behauptet, davon haben "wir" nichts gehört, nichts gewusst, über den kann man eigentlich nur sagen, dass "der sich die Augen verbunden und die Ohren verstopft hat." Es war wohl schon immer so, wenn Institutionen wie die Kirchen oder die öffentliche Hand beteiligt waren, wollte man an die Aufklärung nicht so richtig "ran".
Dr. Karoline V. Greimel vom Universitätsklinikum Salzburg, Institut für Klinische Psychologie, und Trauma-Expertin wirkt in Österreich und Deutschland im Kontext von Heimerziehung, Opferschutz, Aufklärung und Rehabilitation. Ihr Resümee: Kinder, die in Heime kommen, bedürfen eines besonderen Schutzes. Schläge im Heim können zu einer Traumatisierung führen. Dabei wirkt sich eine Heimeinweisung zur Zeit des Kleinkindes "wesentlich verschärfter" aus. Sie leiden ein Leben lang. Auch das soziale Umfeld ist betroffen.
Auch Dr. Antje Vollmer kommt in dem Film zu Wort. Unter dem Vorsitz der evangelischen Pastorin konstituierte sich 2008 der "Runde Tisch Heimerziehung", der Ende 2010 dem Bundestag den Abschlussbericht vorlegte.
Ob es eine Unrechtserfahrung geben kann, obwohl wir einem – wenn auch in der Nachkriegszeit schwachen – Rechtsstaat hatten? Dazu Dr. Vollmer: "Der Jurist würde sagen, in einem Rechtsstaat passiert kein systematisches Unrecht."
Sie spricht die Schwierigkeit an, dem sich der "Runde Tisch Heimerziehung" gegenüber sah: Den Zugang für Hilfen und Unterstützungen und Entschädigungen neu zu öffnen. Die Vorsitzende glaubt, das sei gelungen. Man habe ein "passendes Modell für diese Gruppe" geschaffen und begründet die Entscheidung des Gremiums damit, "man" habe sich für die "schnelle Lösung" entschieden, viele Betroffene brauchten jetzt Hilfe und Unterstützung und keine Therapien. Dr. Vollmer setzt nach: "Und das soll möglichst schnell beendet werden" und – so sind ihre Worte im Film zu begreifen – die "Betroffenen bekämen weniger als sie sich wünschten und erhofften".
Dann steht Heidrun Dittrich von der Partei "Die Linke" vor der Kamera. Ihr Thema ist Verjährung oder Schuld. Als ehemalige MdB appelliert sie, von der Verjährung Abstand zu nehmen. Die Einschränkung der Selbstbestimmung, so wie es in den Heimen Kindern und Jugendlichen widerfahren ist, sei ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Folglich kann es keinen Täter-Opfer Ausgleich geben. Es gibt einfach nur die Schuld und wenn das so ist, dann sollten die Täter auch zur Entschädigung verurteilt werden. Heidrun Dittrich plädierte für ein Opfer-Entschädigungsgesetz, das den Betroffenen Rechtssicherheit geben würde.
Fühlbare Spannung lag über dem Saal in der Urania, als Rainer Maria Kardinal Woelki im Film zu Wort kam. Peter Bringmann-Henselder war mit seiner Kamera dabei, als der Erzbischof von Köln in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Caritas-Kommission der deutschen Bischofskonferenz am 23. Juni 2016 auf der "Tagung für ehemalige Heimkinder der Behindertenhilfe und Psychiatrie und die interessierte Fachöffentlichkeit" sprach.
Thema war die katholische Heimkinderzeit von 1949 – 1975. Eine halbe Stunde lang sprach der Kardinal und gleich im ersten Satz bestätigt er: "Wir haben es gewusst und es ist uns heute auf dieser Tagung nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen geführt worden: 1949 bis 1974 haben junge Menschen Gewalt erfahren in katholischen Einrichtungen, physische, psychische und sexualisierter Gewalt." Auch fügt er an, das könne nicht ungeschehen gemacht werden und vor allem, das dürfe sich niemals wiederholen. Die Bischofskonferenz sei 2012 erfreut gewesen, dass mit der Errichtung des Fonds ein Angebot für ehemalige Heimkinder vorhanden sei.
Nach den der Tagung vorangegangenen Berichten über das Leid, das junge behinderte Menschen in katholischen Einrichtungen erfahren haben, fasste Rainer Maria Kardinal Woelki zusammen "... und ich möchte es ganz ausdrücklich hervorheben und betonen, als Bischof schmerzt mich jede dieser einzelnen Erzählungen sehr ... und dabei ahne ich all die unerzählten Erfahrungen, die nur Opfer und Täter wissen."
Anschließend folgt der Teil des Vortrags, der bei der Filmpremiere als besonders brisant empfunden und anschließend diskutiert wurde. Woelki stellt Fragen nach dem "Wieso". "Wieso gab es keinen Widerstand bei der Verletzung menschlicher Würde? Wieso hat eine auf dem Evangelium basierende Erziehungs- und Betreuungsarbeit Mittel und Instrumente eingesetzt, die christlicher Nächstenliebe und christlichen Wertvorstellungen widersprechen…?"
Nach der Filmpremiere hat der Filmemacher Prof. Dr. Manfred Kappeler auf das Podium eingeladen sowie Dr. Carsten Frerk in seiner Eigenschaft als Experte zu Kirchenfinanzen sowie Peter Wensierski, den Autor des Buches "Schläge im Namen des Herrn".
"Eine ganz normale Kindheit", Dokumentarfilm, Länge 70 Minuten
Die Premiere des Filmes fand im Rahmen des halbjährlich turnusmäßigen Treffens des Lenkungsausschusses des Fonds Heimerziehung statt.
5 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
ich bin 35J. meine Mutter drohte mir oft mich ins Heim zu geben.
Alex am Permanenter Link
Da bin ich aber gespannt was ich da zu sehen und hören bekomme. Ich selbst bin von Geburt an bis zum Ausscheiden, da war gerade 16 Jahre alt, in verschiedenen Heimen gewesen. Ein Buch darüber habe ich geschrieben.
Angelika Alfson am Permanenter Link
Fuer 10 Jahre war ich im Heimen. Zuerst in Witzenhausen/Hessen und dann in Altencelle/Celle.
Alex am Permanenter Link
Angelika, ja, ich glaube Ihnen, dass Sie mit dem Leiden, welches Sie schon seit vielen Jahren erleiden, allein klar kommen müssen, wenn auch es so nicht hätte sein müssen. Doch wer hätte Ihnen helfen können?
Noncredist am Permanenter Link
>> Wir haben es gewusst (...) <<
Das ist doch nichts neues mehr. Es wird wohl kaum einer annehmen, dass sich ein solches System über Jahrzehnte OHNE JEGLICHES WISSEN der Betreiber aufrecht erhalten konnte. Natürlich gab es auch Berichte und "Beschwerden" an höhere Stellen. Die Verpflichtung der Berichterstattung an Obere ist gerade in einem (religiös-)konservatives Millieu zu erwarten.
Das Problem ist jedoch ein ganz anderes. Es ist die Legitimierung dieser Handlungen. Die moralische Legitimation erfolgt einerseits durch den Bezug zum "wahren Wort", und durch das Vertrauen an die Obrigkeit, welche (für einen) die Verantwortung ja schon übernimmt. Somit war Gewalt - für Heimbetreiber - ein "von oben legitimiertes" Mittel, welches durch typisch-verwurstelte Bibelsprüche gar "himmlisch erlaubt" wurde. Da inexistente transzendente Korrekturmöglichkeit niemals ein Widerspruch "von ganz Oben" mitteilten, fühlten sich die Ausüber natürlich im Recht. Weshalb sollte man sich für kleine schutzbedürftige Kinder einsetzen, wenn die obere Elite einem die moralisch richtigen Befehle erteilt? Muss ja wohl stimmen. Und da man den Willen Gottes ausübt, erwartet dem Ausüber der Gewalt auch nichts geringeres als das Himmelreich. Schließlich übt jeder Schlag auch eine "Korrektur des Fehlverhaltens" an den Kindern aus. Halleluja.
Da liest man über Mutti Teresa, die mit dem selben ekelhaften moralischen Kompass Menschen "zu Gunsten Jesu" schmerzerfüllt krepieren ließ - und damit den festen Glauben an ihre himmlische Erlösung festigte. Und dann ließt man über Heimleiter, die ihre Kinder "zu Gunsten Jesu" mit Gewalt malträttierten - und damit den festen Glauben an ihre himmlische Erlösung festigten. Sie wussten es. Es war ja auch "richtig", was sie taten. Wer wollte sich schon ehrlich gegen die "einzig wahre Kirche" stellen und Wort für die geschlagenen Kinder ergreiffen?
Solche "Geistliche" ekeln mich einfach nur noch an. Würde ein Jesus tatsächlich jemals wieder die Erde besuchen wollen, so erwarte ich nichts geringeres als die vollständige Verschrottung solcher kaputten analogen Moralkompasse. Das moderne digitale Humanisten-GPS funktioniert schlichtweg besser ;)