Leben und Einkaufen in Santiago de Chile

Chile: Ein Land im Würgegriff der Konzerne

Als wir Anfang 2016 als befristete "Neubürger" in Santiago de Chile auf Wohnungssuche waren, kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Um uns nicht dem täglichen Megastau auszusetzen, suchten wir eine Bleibe in der Nähe unseres neuen Arbeitsplatzes, der Deutschen Schule Santiago. Diese liegt genau auf der Grenze der beiden wohlhabendsten und modernsten Stadtteile, Las Condes und Vitacura.

Dementsprechend teuer sind die Mieten. So bezahlen wir nun für eine 4-Zimmer-Wohnung mit 120 qm im 9. Stock eines der unzähligen Hochhäuser kalt 950.000 Pesos, das sind umgerechnet etwa 1360.- Euro! Hinzu kommen die sog. "gastos communos" für Wasser, Strom und Heizung von gut 200.000 Pesos, also ca. 290.- Euro, macht warm 1650.- Euro! Und das in einem sog. "Schwellenland", dessen Durchschnittseinkommen bei ca. 1000.- US-Dollar (z.Z. ca. 940 Euro) liegt (zum Vergleich: Die entsprechende Zahl für Deutschland liegt bei brutto 2700.- €).

Der Autor in den Bergen Chiles
Der Autor in den Bergen Chiles

Alleine an diesen Zahlen wird das Grundproblem der chilenischen Gesellschaft deutlich (und das dürfte für nahezu ganz Lateinamerika gelten): Die Riesenkluft zwischen Arm und Reich. Nicht umsonst wohnen die meisten meiner chilenischen Lehrer-Kolleginnen und –Kollegen viel weiter weg in Stadtteilen, wo die Mieten deutlich preiswerter sind. Dafür sitzen sie, um dem morgendlichen Stau zuvorzukommen, meist schon um kurz vor 07.00 Uhr im Lehrerzimmer an ihren PCs. Obwohl sie an der privaten Deutschen Schule mehr verdienen als ihre Kollegen an den staatlichen Schulen, gehören auch sie fraglos zu den Geringverdienern im Land. Das gilt im Übrigen auch für viele andere Angestellte in der Wirtschaft sowie für viele Staatsbedienstete wie Polizisten und Richter.

Noch mehr ins Staunen kamen wir bei unseren ersten Einkäufen in den nahegelegenen Supermärkten. Wobei es eigentlich nur zwei große Ketten im Land gibt – "Jumbo" und "Lieder". Letzterer ist der etwas Preiswertere. Fast alle Produkte kosten in diesen Läden genauso viel wie in deutschen Supermärkten – oder sie sind noch teurer – und das bei einem gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet ca. 380 Euro!

Foto: © Dr. Bruno Osuch
Foto: © Dr. Bruno Osuch

Selbst für Gemüse und Obst, das hier auch ohne Treibhäuser die besten Wachstumsbedingungen hat, zahlt man bei Edeka oder Lidl meist weniger! Hinzu kommt, dass viele Warengruppen wie z.B. Kaffee, Kosmetik oder Waschmittel von großen Europäischen oder US-amerikanischen Konzernen beherrscht sind. So trägt die große Mehrheit aller Waschmittel die Namen "Omo", "Persil" oder "Ariel" und die meisten Zahnpasta-Tuben sind von "Colgate". Und die sind meist teurer als in Deutschland, wie die folgenden Preisbeispiele zeigen. Die abgebildete Großpackung Ariel-flüssig von 3,8 kg wird mit einem "Sonderpreis" von 10.390 chilenischen Pesos angeboten (das Dollarzeichen gilt hier auch für Pesos!), das sind umgerechnet etwa 14,80 Euro, macht ein Kilopreis von 3,90 Euro. Teurer dürfte es auch in Deutschland kaum sein. Noch unglaublicher sind die Preise für Käse oder Joghurt. So kostet ein 500-g- Becher frischer einheimischer Joghurt (also nicht etwa von "Danone", wie er ebenfalls im Regal steht) mit 3,5 % Fett bei der o.g. Kette "Jumbo" sage und schreibe 1230 Pesos, also etwa 1,75 Euro. Bei Aldi dürfte das fast der Kilopreis sein!

Hinzu kommt, dass bei einigen Warengruppen wiederum chilenische Konzerne ein quasi- Monopol haben. Das gilt insbesondere für alle Papier- und Zellstoffprodukte. Obwohl Chile im Süden des Landes über riesige Kiefernplantagen zur Holzverarbeitung verfügt, kann die monopolartige Zellstoffindustrie etwa für Toilettenpapier oder Küchenrollen im Vergleich zu Deutschland das doppelte der Preise verlangen.

Aldi ist hier unbekannt

Und genau hier wird das Problem deutlich: Es gibt in Chile fast keine Konkurrenz. Auch so etwas wie ein Kartellamt scheint es hier nicht zu geben. So wird der gesamte Einzelhandel nahezu komplett von zwei großen Ketten beherrscht, hinter denen wiederum je ein Familienclan steht. Bei "Jumbo" ist es die aus Deutschland stammende Familie Paulmann, die mittlerweile mit dem multinationalen Konzern "Cencosud" über ein Imperium herrscht, zu dem selbst in Argentinien, Peru, Brasilien und Kolumbien fast 50 Supermärkte gehören. Die Paulmanns galten laut der führenden New Yorker Wirtschaftszeitschrift "Forbes Magazine" bereits im Jahr 2011 mit einem damaligen geschätzten Vermögen von 10,5 Milliarden US-Dollar als die zweitreichste Familie Chiles.

Foto: © Dr. Bruno Osuch
Foto: © Dr. Bruno Osuch

Pikant sind zudem die politischen Verbindungen des Firmengründers Horst Paulmann Kemna, dem große Sympathien für den damaligen Diktator Pinotschet sowie Kontakte zur Folterkolonie "Colonia Dognidad" nachgesagt wurden. Eine im Februar 2012 geplante Veranstaltung des Kasseler "Lions Club", auf der Paulmann Kemna eine Gastrede halten sollte, wurde deshalb aufgrund zahlreicher Proteste gegen ihn kurzfristig abgesagt. Sein Vater, Karl Werner Paulamnn, war im Übrigen einst als Obersturmbannführer der SS in Kassel für die Polizei zuständig und zugleich Chef des Zentralbüros der SS-internen Gerichte. Er flüchtete 1946 nach Argentinien. Die nachkommende Familie zog dann weiter nach Chile.

Wo aber kauft die Masse der Bevölkerung ein? Wie überleben gar die ca. 12 – 15 Prozent wirklich "Armen". Wobei die Armutsgrenze mit 145 US-Dollar extrem niedrig angesetzt ist.

Die Antwort ist vielschichtig: Das Gros der einfachen Menschen versorgt sich mit Lebensmitteln und Artikeln des täglichen Bedarfs auf den zahlreichen Straßenmärkten. Hier sind die Preise um ein Vielfaches niedriger als in den großen Läden. Vor fast jeder Zahlstelle an den Autobahnen oder an vielen Ampelkreuzungen bieten Straßenverkäufer ihre preiswerten Waren wie Obst, Getränke oder Spielsachen feil.

Foto: © Dr. Bruno Osuch
Foto: © Dr. Bruno Osuch

Bestimmte Produkte wie etwa rustikale Möbel werden oftmals von an den Ausfallstraßen Santiagos liegenden kleineren Schreinereien und Tischlereien direkt auf dem Bürgersteig angeboten. Und viele Menschen kaufen Lebensmittel oder selbst hergestellte Waren wie Ponchos oder Töpfereiprodukte von Kollegen oder Bekannten im informellen Sektor. So werden auch in unserem Kollegium immer wieder Marmelade, Honig, Obst oder selbst gefertigter Schmuck privat verkauft. Oftmals werden Waren auch mit handwerklichen Dienstleistungen bezahlt. Es ist ein Geben und Nehmen außerhalb der offiziellen Wirtschaft von dem alle Beteiligten profitieren. Nur dem Staat entgehen so freilich viele Steuereinnahmen. Aber bei den niedrigen Löhnen der Mehrzahl der Menschen und den gleichzeitig extrem hohen Preisen in den Warenhausketten bleibt meist keine andere Wahl.

Zugleich sind viele Menschen permanent verschuldet. Denn spätestens beim Kauf etwa eines neuen Autos hat auch der informelle Sektor der Wirtschaft seine Grenzen. Von der Verschuldungsproblematik aber sind auch die meisten mittelständischen Familien betroffen. Einer der Hauptgründe dafür ist das völlig ungerechte Bildungssystem. Denn wer einen Platz an einer der teuren privaten Universitäten – und nahezu alle Hochschulen sind privat (!) – anstrebt, hat nur eine Chance, wenn er zuvor an einer der teuren und guten privaten Schulen war. Denn das staatliche Schulsystem ist völlig unterfinanziert und gilt als durchweg marode. So muss eine ohnehin sehr schlecht bezahlte Lehrkraft im Schnitt 40 Schüler pro Klasse an einer staatlichen Schule unterrichten – und zudem noch 30 Prozent mehr Stunden pro Woche als in Europa! Viele Kolleginnen und Kollegen haben noch einen zweiten oder dritten Job, um überhaupt über die Runden zu kommen. Viel Zeit und Kraft für innovativen Unterricht kann da objektiv nicht übrig bleiben. Wer auf dem steinigen Weg des privaten Bildungsweges am Ende ein Diplom in der Tasche hat, dürfte sein Berufsleben bereits mit einem beachtlichen Schuldenberg beginnen.

Foto: © Dr. Bruno Osuch
Foto: © Dr. Bruno Osuch

So wird alleine schon über das Bildungssystem die Klassengesellschaft immer wieder zementiert. Zwar laufen dagegen schon seit Jahren heftige Protestaktionen von Schülern und Studenten. Und die linksliberale Regierung unter der Sozialistin Batschelet versucht, das System zu reformieren. Aber das ist teuer und kompliziert zugleich. Denn unter dem Diktator Pinotschet wurden alle staatlichen Schulen in die Verantwortung der Kommunen gegeben. Dieses nun nach Jahrzehnten wieder rückgängig zu machen, dürfte auch verwaltungstechnisch ein enormer Kraftakt darstellen.

Ohne Frage: Chile ist in Südamerika eines der wirtschaftlich stärksten und stabilsten Länder. Und faszinierend ist es angesichts seiner unglaublich vielseitigen und interessanten Natur ohnehin. Aber für die Masse der einfachen Bevölkerung ist das tägliche Überleben ein harter Kampf. Trotzdem scheinen Optimismus und Lebensfreude auch bei diesen Menschen alles zu überwiegen.