CDU-Anhänger akzeptieren vermeidbares Leid

Am 9. Dezember 2019 strahlt Das Erste die Dokumentation "Sterbehilfe – Politiker blockieren, Patienten verzweifeln" aus. Geschildert wird unter anderem die Leidensgeschichte des 49-jährigen, an multipler Sklerose erkrankten Harald Mayer. Herr Mayer ist aus ärztlicher Sicht austherapiert, eine Besserung seiner Situation quasi ausgeschlossen, seine weitere körperliche Degeneration vorprogrammiert. Deshalb ist er auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus seinem – aus seiner Perspektive – nicht mehr lebenswerten Leben. Die Hoffnung auf einen solchen Ausweg, eine goldene Brücke aus dem Leiden, wurde schwerkranken Menschen wie Herrn Mayer im März 2017 durch das Bundesverwaltungsgericht gegeben.

In dem Urteil stellt das Gericht fest, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Staat gebietet, Schwerst- und unheilbar Kranken Zugang zu würdevoll das Leben beendenden Medikamenten zu gewähren. Voraussetzung ist, dass der Sterbewillige noch in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden und dass er sich in einer sogenannten extremen Notlage befindet. Eine solche extreme Notlage soll vorliegen, wenn die Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen, die zu einem unerträglichen Leidensdruck führen, verbunden ist und eine andere zumutbare Möglichkeit zur Beendigung des Lebens nicht zur Verfügung steht (BVerwG 3 C 19.15). Eine abwägende und differenzierte Entscheidung für Extremfälle, die den Sterbewilligen weiterhin den Nachweis der Unerträglichkeit ihrer Situation aufnötigt. Dennoch: Für Menschen wie Harald Mayer der lang ersehnte Hoffnungsschimmer auf die Perspektive, den eigenen Leidensweg selbstbestimmt und würdevoll zu beenden.

Doch die Betroffenen haben die Rechnung ohne den Dogmatismus des CDU-geführten Gesundheitsministeriums (BGM) gemacht. Nach Recherchen der ARD wurde das für die Ausgabe der Medikamente zuständige Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte bereits drei Tage nach dem Urteil durch das BGM angewiesen, über Anträge nicht zu entscheiden. Als Grund hierfür wird in der internen Kommunikation angegeben, eine Beachtung des Urteils würde die ethisch-politische Linie des damaligen Gesundheitsministers Hermann Gröhe (CDU) konterkarieren – wobei diese Linie natürlich die klassisch christliche Annahme ist, man dürfe sich über den freien Willen eines Menschen im Namen eines imaginären Wesens hinwegsetzen. Laut eigener Aussage hatte Gröhe niemals vor, das Urteil zu befolgen. Sein Nachfolger Jens Spahn (CDU) äußert sich nicht zu den Recherchen.

Im Ergebnis weist hier also ein Ministerium eine Behörde an, ein höchstrichterliches Urteil, an das diese Behörde grundsätzlich gebunden ist, zu missachten. Dies ist ein offener Rechtsbruch und offenbart ein ungenügendes Verständnis des Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsprinzips. Um diesem Verhalten einen legitimen Anstrich zu verpassen wurde wenig später noch ein Gefälligkeitsgutachten bei dem konservativen Verfassungsrechtler Udo di Fabio in Auftrag gegeben – das gewünschte Ergebnis, das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zu konterkarieren, wurde praktischerweise bereits in der Bestellung mit angegeben. Obwohl somit klar war, dass die Anträge von Betroffenen niemals positiv beschieden würden, wurden diese dennoch aufgefordert, Gutachten zu ihrer Situation einzureichen. Im Fall des krebskranken Hans-Jürgen Brennecke kamen dabei ein Dutzend Arztberichte auf 65 Seiten zusammen – das Ministerium lässt somit schwerkranke Menschen einen Teil ihrer wenigen verbliebenen Kraft für die völlig sinnlose Akquise von Gutachten verschwenden.

Auf die Frage, ob es nicht zynisch wäre, schwerkranke und leidende Menschen hinters Licht zu führen, wies Herr Gröhe nur darauf hin, dies würde zur Sachlichkeit der Debatte nichts beitragen. Eine solche, ihrerseits an Zynismus nur schwer zu überbietende Antwort, wird sicherlich nicht durch alle CDU-Anhänger gutgeheißen. Auch unter ihnen wird es Personen geben, die sich einen menschenwürdigeren Umgang mit schwerkranken Menschen wünschen. Dennoch erachten wir jeden einzelnen CDU-Anhänger, der nicht aktiv gegen die Praxis des BGM eintritt, für mitverantwortlich für das Leid derjenigen schwerkranken Menschen, deren Sterbewunsch nun weiterhin nicht menschenwürdig erfüllt werden kann.

Das ist unzweifelhaft ein schwerer Vorwurf. Dabei ist es ganz banal: Wer einen Klub widerspruchslos unterstützt, muss sich selbst auch zurechnen lassen, was im Namen des Klubs geschieht. Wir sind der Meinung, dass man nicht einzelnen, sondern allen CDU-Anhängern öfter vorwerfen sollte, auf welche unmittelbare und konkrete Weise konservative Politik vermeidbares Leid verursacht. Ein ebenso unmittelbarer und konkreter Zusammenhang zwischen CDU-Politik und vermeidbarem Leid besteht etwa hinsichtlich der Kriminalisierung von Drogenkonsumenten. Er besteht hinsichtlich der Entmündigung von Frauen, die über ihre Schwangerschaft entscheiden wollen. Er bestand hinsichtlich der jahrelangen Weigerung, die eheliche der außerehelichen Vergewaltigung gleichzustellen. Und er bestand hinsichtlich des Widerstands gegen die gleichgeschlechtliche Ehe. Alle CDU-Anhänger – von den Wählern bis zur Kanzlerin – akzeptierten und akzeptieren Leid dieser Art, wenn sie sich nicht aktiv dagegen einsetzen.

Zweifellos lebt eine Partei auch davon, dass es in ihr unterschiedliche Meinungen gibt. Eine an der Regierung beteiligte Partei ist daher immer gezwungen, Kompromisse zu finden. Deshalb wäre es falsch, immer allen Anhängern einer Partei einen persönlichen Vorwurf für leidverursachende Entscheidungen Einzelner zu machen. Häufig steht im Vorhinein noch gar nicht sicher fest, was die genauen Konsequenzen einer Entscheidung sein werden. Gelegentlich werden dringend notwendige Entscheidungen auch unvermeidbares Leid nach sich ziehen. Die Entscheidungen, für die wir alle CDU-Anhänger persönlich verantwortlich machen, zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, dass sie voraussehbar, unmittelbar, konkret und völlig vermeidbar Leid verursachen. Es handelt sich um Entscheidungen, die letztendlich immer auf christliche Moralvorstellungen zurückzuführen sind.

Für besonders überfällig erachten wir den Vorwurf auch, weil das C im Namen der CDU den Eindruck vermitteln könnte, der Partei läge das Wohlergehen der Menschen besonders am Herzen. Das Gegenteil ist der Fall: Jeder kritiklose CDU-Anhänger akzeptiert vermeidbares Leid zugunsten von Moralvorstellungen eines Tausende Jahre alten Hirtenvolks.

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