Das Pech der Neandertaler

Lange Zeit wurde vermutet, dass der Homo sapiens für das Aussterben des Neandertalers verantwortlich sei. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass dies nicht notwendigerweise der Fall gewesen sein muss. Vielleicht hatten die Neandertaler einfach nur Pech.

Heute vor 211 Jahren wurde Charles Darwin geboren, dessen Forschungen aufzeigen, dass alles Lebendige auf diesem Planeten steter Entwicklung unterliegt – und auch, dass mitunter minimale Faktoren darüber entscheiden können, ob eine Tier- oder Pflanzenart ausstirbt oder nicht. Was für Tier- und Pflanzenarten gilt, gilt auch für Menschenarten. So zum Beispiel für den Neandertaler, der mehr als 100.000 Jahre in Europa lebte und vor rund 30.000 bis 40.000 Jahren von der Bildfläche der Menschheitsgeschichte verschwand. An seiner statt machte sich der anatomisch moderne Mensch in Europa breit – die einzige Menschenart, die bis in die Gegenwart überlebt hat.

Bis heute diskutieren Wissenschaftler die Frage, was zum Aussterben des Neandertalers führte. Lange Zeit vermutete man, dass der moderne Mensch dem Neandertaler geistig und technisch überlegen gewesen sei – eine Annahme, die sich inzwischen als falsch erwiesen hat. Im Kampf um knappe Ressourcen oder gar in direkten kriegerischen Auseinandersetzungen sei, so die weitere Vermutung, der Homo sapiens deshalb als Gewinner hervorgegangen und habe auf diese Weise das Ende des Neandertalers verursacht.

Forscher um Krist Vaesen von der niederländischen Eindhoven University of Technology haben im vergangenen Jahr hingegen errechnet, dass das Auftauchen des Homo sapiens nicht notwendigerweise für das Aussterben des Neandertalers verantwortlich ist. Als der aus Afrika stammende anatomisch moderne Mensch nach Europa einwanderte, war die Population der in Europa und im Nahen Osten heimischen Neandertaler ziemlich klein. Lediglich 10.000 bis 70.000 Individuen vermutet man. Diese geringe Populationsgröße könnte durch Inzucht und natürliche Schwankungen im Geschlechterverhältnis sowie im Verhältnis von Geburts- und Sterberaten zum Aussterben der Neandertaler geführt haben. Dies zeigen die Modellberechnungen der Forscher.

Es ist damit nicht ausgeschlossen, dass der Homo sapiens doch eine kausale Rolle beim Aussterben der Neandertaler spielte, die Modelle der Forscher zeigen lediglich, dass das Aussterben auch aufgrund anderer Faktoren stattgefunden haben kann. "Vielleicht wären sie ohnehin ausgestorben", erklärte Krist Vaesen hierzu gegenüber dem Guardian. "Das sehen wir auch bei anderen Menschenarten. Es ist ein natürlicher Prozess. Arten sterben aus."

Penny Spikins, Archäologin an der University of York, die nicht an der Untersuchung beteiligt war, hält die Forschungsergebnisse der Wissenschaftler aus den Niederlanden für plausibel. "Wir wissen, dass die Neandertaler-Populationen sehr klein waren, dass sie weit verstreut lebten und von Inzucht betroffen waren – und bereits die Auswirkungen dieser Faktoren könnte vielleicht ihr Verschwinden erklären. Vielleicht haben sie so tausende Jahre durchgehalten und dann kam eine Pechsträhne, ihre Population überschritt einen kritischen Punkt und das führte zu ihrem Untergang." Penny Spinkins geht davon aus, dass die Diskussion um den Grund des Aussterbens der Neandertaler auch nach den Modellberechnungen der niederländischen Forscher noch eine Weile anhalten wird: "Wir müssen all diese Effekte erst noch vollständig verstehen – darum könnte es ein wenig verfüht sein, uns von der Schuld der Überlebenden freizusprechen."

Auch wenn der Neandertaler als eigenständige Menschenart ausgestorben ist, ganz verschwunden ist er nicht. Durch sexuelle Kontakte zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen kam es zu einer teilweisen Vermischung des Erbguts. Jeder Europäer trägt deshalb heute rund zwei Prozent Neandertaler-DNA in seinen Genen.

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