Obgleich die meisten hpd-Leser mit der christlichen Geschichte von der Geburt Jesu eher wenig anfangen können, dürften viele die Feiertage Ende Dezember im Kreise der Familie verbringen. Wenn dann beim gemeinsamen Festessen Onkel Oskar vor den Gefahren genverändernder mRNA-Impfungen warnt oder Tante Therese von ihren Heilkristallen schwärmt, sollten wir aber lieber schnell das Thema wechseln oder müssen in Kauf nehmen, dass es mit dem Frieden bald vorbei ist. Oder gibt es noch eine dritte Möglichkeit?
Was wir auch tun, der Glaube an Irrationales scheint sich trotz anhaltender Bemühungen einfach nicht aus der Welt schaffen zu lassen. Und doch engagieren wir als säkulare Humanisten uns weiter tagtäglich für ein rationales, wissenschaftlich fundiertes Weltbild. Mitunter mag das ermüdend sein, doch wer sonst sollte diese wichtige Aufgabe übernehmen?
In dieser Rolle der "aufgeklärten Aufklärer" gefallen wir uns mitunter vielleicht allzu gut. Zwar zeichnet den säkularen Humanismus in der Tat nicht zuletzt der Anspruch aus, auch das eigene Weltbild zu hinterfragen und an neue Erkenntnisse anzupassen. Die menschliche Anfälligkeit für logische Fehlschlüsse und Voreingenommenheit macht jedoch auch vor uns Humanisten nicht halt. Wohl jeder von uns hat im einen oder anderen Bereich Überzeugungen, die nicht so gut durchdacht und begründet sind, wie wir gerne glauben möchten.
Bessere Gespräche mit dem Sokratischen Weg
Indem man sich die Tendenz zu den genannten kognitiven Verzerrungen bewusst macht, kann es einem bis zu einem gewissen Grad gelingen, diese zu vermeiden und seine Überzeugungen auf ein verlässliches Fundament zu stellen. Dennoch bleiben stets blinde Flecken zurück, die wir am besten im Dialog mit anderen aufdecken können. Für genau diesen Zweck wurde die Gesprächsmethode "Street Epistemology" (SE) entwickelt, die im deutschsprachigen Raum auch als "Sokratischer Weg" bezeichnet wird. Mit ihr lassen sich erfreulich konstruktive und freundliche Gespräche auch über schwierige Themen führen – sogar mit Onkel Oskar und Tante Therese.
Als Variante der Sokratischen Methode, die der namensgebende griechische Philosoph schon vor über 2.000 Jahren einsetzte, zeichnet sich der Sokratische Weg dadurch aus, dass man seinem Gesprächspartner Fragen stellt, statt ihn mit Argumenten überzeugen zu wollen. Was den Sokratischen Weg im Besonderen indes von der Sokratischen Methode im Allgemeinen unterscheidet, ist zum einen die primäre Absicht, das Gegenüber zum Reflektieren über seine Überzeugung anzuregen. Zum anderen ist neben dem Inhalt der konkreten Überzeugung insbesondere die Epistemologie Gegenstand des Gesprächs, also die Vorgehensweise, mit der der Befragte den Wahrheitsgehalt von Aussagen überprüft: Wie bist du zu deiner Überzeugung gelangt? Was ist dein wichtigster Grund? Angenommen, du würdest dich irren – wie könntest du das herausfinden?
Eine der zentralen Grundregeln während des gesamten Gesprächs besteht darin, dass der Fragende seine eigene Position zur untersuchten Überzeugung in keiner Weise durchblicken lässt. So vermeidet er, dass der Gesprächspartner sich in seinem Standpunkt angegriffen fühlt und sich in eine Abwehrhaltung begibt. Statt einer hitzigen Diskussion, aus der beide Beteiligten als Sieger hervorgehen wollen, kann sich so ein produktiver Austausch entwickeln, der Raum für Neugier, Zweifel und aufrichtige Reflexion lässt.
Ergebnis eines solchen Dialogs kann es sein, dass der Befragte von seiner ursprünglichen Position weniger stark überzeugt ist oder sie sogar vollends verwirft; dies sollte jedoch nie die vorrangige Motivation seitens des Fragenden sein.
Ablauf eines Gesprächs
Kein Gespräch verläuft exakt so wie ein anderes – das gilt auch für den Sokratischen Weg. Der genaue Ablauf ist stark von der Person, mit der man spricht, der zu untersuchenden Überzeugung, der Gesprächsatmosphäre und vielen weiteren Faktoren abhängig. Dennoch gibt es einige Punkte, an denen wir uns orientieren können, um möglichst gute Chancen zu haben, unseren Gesprächspartner zum Nachdenken über die Zuverlässigkeit seiner Epistemologie anzuregen.
Rapport aufbauen
Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Gespräch nach dem Sokratischen Weg (SW) ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen den Beteiligten, die auch "Rapport" genannt wird. Ein guter Rapport erleichtert es dem Gesprächspartner, offen und frei von Angst vor Verurteilung oder Gesichtsverlust über seine Überzeugung zu sprechen. Daher ist es hilfreich, zwanglos ein paar freundliche Worte zu wechseln, bevor man mit dem eigentlichen Gespräch beginnt.
Überzeugung identifizieren
In der Regel dürfte sich ein SW-Gespräch aus einer bereits laufenden Unterhaltung heraus entwickeln, in der eine Überzeugung auftaucht, die man näher untersuchen möchte. Damit die Gesprächsmethode sinnvoll angewendet werden kann, sollte man seinen Gesprächspartner darum bitten, diese Überzeugung auf eine kurze, knackige Aussage herunterzubrechen.
Überzeugung verstehen
Der kleine Satz: "Das habe ich verstanden", kommt einem nur allzu leicht über die Lippen; er sollte in einem SW-Gespräch allerdings nicht leichtfertig geäußert werden. Denn unsere Tendenz, vorschnell (und oft fälschlicherweise) davon auszugehen, dass man dasselbe unter einem Begriff versteht wie sein Gegenüber, kann leicht zu Missverständnissen führen. Im ungünstigsten Fall merkt man erst nach längerer Zeit, dass man völlig aneinander vorbeigeredet hat. Auch und gerade bei vermeintlich trivialen Begriffen sollte man daher explizit erfragen, wie der Gesprächspartner sie versteht.
Nachdem die Definitionen geklärt sind, fasst man in eigenen Worten zusammen, was man verstanden hat, und gibt dem Anderen die Möglichkeit, eventuelle Missverständnisse aufzuklären. Diese Technik des sogenannten "Spiegelns" wendet man während des Gesprächs immer wieder an, was auch den nicht zu unterschätzenden Effekt hat, dass das Gegenüber sich gehört und verstanden fühlt.
Grad der Gewissheit ermitteln (optional)
Erst wenn man sicher ist, die Überzeugung hinreichend verstanden zu haben, kann man seinen Gesprächspartner fragen, wie gewiss er sich ist, dass diese tatsächlich zutrifft. Hierzu bietet man ihm eine Skala an, die im Prinzip beliebig gewählt werden kann (z.B. 0 bis 100 oder "äußerst unsicher" bis "äußerst sicher"). Diese Frage nach dem Grad der Gewissheit ist zwar kein Muss, sie bringt aber einige Vorteile mit sich. Zunächst einmal bringt sie das Gegenüber zum Nachdenken, wo es sich auf der Skala verortet. Wenn man zum Ende des Gesprächs dieselbe Frage noch einmal stellt, kann man außerdem feststellen, ob sich die Gewissheit verändert hat.
Darüber hinaus macht die Frage deutlich, dass Gewissheit keine binäre Sache ist, sondern sich auf einem Spektrum bewegt. Diese Tatsache mag trivial erscheinen; gerade bei stark emotional besetzten Themen verliert man sie jedoch schnell aus den Augen.
Aus der Antwort ergeben sich zudem häufig interessante Anschlussfragen, etwa: "Warum nur 85 Prozent?", "Welcher Grund macht den größten Anteil dieser 85 Prozent aus?" oder "Was könnte passieren, das deine Gewissheit [erhöhen/verringern] würde?".
Grundlage der Überzeugung erfragen
Während es meist sinnvoll ist, den vorangegangenen Schritten relativ strikt zu folgen, hat man ab hier mehr Freiraum bei der Gestaltung des Gesprächs. So kann man entweder danach fragen, was der wichtigste Grund für die Überzeugung ist, oder wie der Gesprächspartner ursprünglich zu ihr gelangt ist. Die Antwort auf diese beiden Fragen kann, muss aber nicht dieselbe sein. Indem man nicht allgemein nach Gründen, sondern ausdrücklich nach dem wichtigsten Grund fragt, fokussiert man das Gespräch auf die für sein Gegenüber wirklich relevanten Aspekte.
Auch hier vergewissert man sich mittels der Technik des Spiegelns, dass man das Gehörte richtig verstanden hat.
Epistemologie untersuchen
Wie weiter oben bereits erwähnt, zielt der Sokratische Weg primär darauf ab, den Gesprächspartner zum Nachdenken über seine Epistemologie anzuregen. Dieser Schritt sollte somit den größten Anteil am Gespräch haben; die Methode, wie man zu seinen Überzeugungen gelangt und richtige von unrichtigen Aussagen unterscheidet, wirkt sich schließlich nicht nur auf die hier untersuchte, sondern auch auf eine Vielzahl weiterer Überzeugungen aus.
Die Epistemologie ermittelt man abhängig von der im vorhergehenden Schritt erfragten Grundlage, indem man von dieser abstrahiert und die zugrundeliegende Vorgehensweise benennt. Entsprechende Fragen könnten etwa lauten: "Kann man das so zusammenfassen, dass du dich in dieser Frage auf deine persönlichen Erfahrungen verlässt?" oder "Habe ich dich richtig verstanden, dass du dich hier auf die Berichterstattung in deiner Tageszeitung stützt?".
Eines der wichtigsten Kriterien einer zuverlässigen Epistemologie ist die Falsifizierbarkeit, also die Möglichkeit, einen eventuell vorliegenden Irrtum zu erkennen. Eine typische Frage hierzu lautet: "Mal angenommen, du würdest dich irren, wie könntest du das herausfinden?". Ein weiterer Ansatz besteht darin, einen Perspektivwechsel vorzuschlagen: Könnte ein hypothetischer Dritter mittels derselben Epistemologie zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen, die unser Gesprächspartner für falsch hielte?
Da man sich über Fragen dieser Art im Alltag eher selten Gedanken macht, kann es sein, dass das Gegenüber etwas Zeit zum Nachdenken braucht. Solche Momente des konzentrierten Nachsinnens werden auch "Aporie" genannt (altgriechisch: aporia, etwa: Ratlosigkeit) und sind für das Anliegen der Street Epistemology äußerst wertvoll. Dem Impuls, die damit verbundene Stille mit einer weiteren Frage zu unterbrechen, sollte man daher auf keinen Fall nachgeben.
Gespräch beenden
Intuitiv dürfte es den meisten Menschen nicht in den Sinn kommen, ausgerechnet unmittelbar nach einer Aporie das Gespräch zu beenden. In einer Diskussion sehen viele in einem solchen Moment die Gelegenheit, ihrem Gegenüber mit eigenen Argumenten "auf die Sprünge zu helfen". Das Ziel des Sokratischen Weges besteht jedoch gerade nicht darin, jemanden von einer bestimmten Position zu überzeugen, sondern ihn zum Reflektieren anzuregen. Daher bieten Aporien eine besonders gute Gelegenheit für uns, das Gespräch anschließend allmählich zum Ende zu führen. Die Frage, die unseren Gesprächspartner zu solch intensivem Nachdenken gebracht hat, wird ihn so wahrscheinlich noch längere Zeit beschäftigen.
Wenn sich hingegen keine Aporie ergibt, kann man das Gespräch auch an jeder anderen Stelle beenden, die uns passend erscheint. Wichtig ist, dass man sich von dem Anspruch löst, das jeweilige Thema in einem einzigen Gespräch vollständig abzudecken oder abzuschließen.
Für das Gesprächsende gibt es keinen fest vorgegebenen Ablauf; es hat sich jedoch beispielsweise bewährt, eine Abschlussfrage zu stellen, etwa: "Gibt es eine Frage, die ich dir nicht gestellt habe, aber hätte stellen sollen?" oder "Haben wir über einen Aspekt gesprochen, über den du noch weiter nachdenken möchtest?". Hat man zu Beginn den Grad der Gewissheit ermittelt, kann man außerdem fragen, ob sich dieser im Laufe des Gesprächs verändert hat. Insbesondere, wenn unser Gegenüber zuvor bereits wissen wollte, was unsere eigene Position ist, sollte man ihm nun zudem anbieten, selbst Fragen an uns zu stellen. In seinen Antworten sollte man ehrlich sein und zugleich signalisieren, dass man, sollte man sich irren, dies würde herausfinden wollen.
Praktische Beispiele
So weit die Theorie. In der Praxis jedoch fällt die konsequente Anwendung der Grundsätze des Sokratischen Weges nicht immer leicht. Manche haben diese bereits nach den ersten Gesprächen verinnerlicht, die meisten benötigen hierzu jedoch mehr Übung. In jedem Fall kann es sehr hilfreich sein, das Gespräch mit der Einwilligung des Gegenübers aufzuzeichnen, um es nachträglich analysieren zu können.
Ein Mitglied der deutschsprachigen SW-Community, Carl, zeichnete im Oktober 2021 in der Darmstädter Innenstadt sein Interview mit der Homöopathin Petra auf. Im folgenden Review-Video spricht er mit einigen weiteren Community-Mitgliedern über gelungene Gesprächspassagen ebenso wie über Verbesserungsmöglichkeiten.
Während deutsches SW-Anschauungsmaterial derzeit noch rar gesät ist, gibt es bereits Hunderte englischer YouTube-Videos mit Beispielen von Street Epistemology. Einen guten Einstieg bietet das Gespräch des in SE-Kreisen wohl jedem bekannten Texaners Anthony Magnabosco.
Herkunft und Entwicklung von Street Epistemology
Der Begriff "Street Epistemology" geht auf den amerikanischen Philosophen Peter Boghossian zurück, der ihn erstmals in seinem 2013 erschienenen Buch "A Manual for Creating Atheists" verwendete. Damals verstand er die Gesprächsmethode, wie schon der Titel verrät, vor allem als Mittel, Menschen von ihrem religiösen Glauben ("faith") abzubringen. Diese Tatsache gehört bis heute zu den von SE-Kritikern am häufigsten vorgebrachten Vorwürfen. Dabei wird allerdings nicht berücksichtigt, dass sich die Ausrichtung von Street Epistemology in den folgenden Jahren stark gewandelt hat. Auch wenn die Community bis heute einen großen Anteil an Atheisten aufweist, herrscht weitestgehende Einigkeit darüber, dass sich die Methode zur Untersuchung jeglicher Überzeugungen eignet. Somit kann die Position, es gebe keinen Gott, ebenso Gegenstand eines SE-Interviews sein wie ihr Gegenteil. Im Gegensatz zum ursprünglichen Verständnis zielt Street Epistemology heute ausdrücklich nicht darauf ab, Menschen mit einer bestimmten Überzeugung umzustimmen, sondern soll allgemein dazu anregen, über die Zuverlässigkeit der eigenen Epistemologie zu reflektieren.
Community
In den letzten Jahren entstand auf der Online-Plattform "Discord" zunächst eine bis heute stetig wachsende englischsprachige Street-Epistemology-Community, die sich mit der Gesprächsmethode intensiv auseinandersetzt und regelmäßig Übungsrunden durchführt. Nach und nach fanden sich zudem anderssprachige Gruppen zusammen – so gibt es seit Anfang 2021 auch eine deutschsprachige Community, die sich seither ein- bis zweimal wöchentlich trifft, um Übungsgespräche zu führen und sich auszutauschen.
Da der Begriff "Street Epistemology" eher sperrig und für viele schwierig auszusprechen ist, entschied die Community nach einiger Zeit, mit "Sokratischer Weg" einen eigenen, deutschen Begriff zu etablieren. Dieser ist gleichzeitig der Name des im August 2022 gegründeten Vereins, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Gesprächsmethode zu üben, weiterzuentwickeln, im deutschsprachigen Raum zu verbreiten und zu lehren. Der Verein ist auch mit anderen SE-Communitys auf vielfältige Weise international vernetzt. Der Vorsitzende des gemeinnützigen Sokratischer Weg e.V. – der Mitautor dieses Textes ist – ist zugleich auch Mitglied im "Board of Directors" der US-amerikanischen Non-Profit-Organisation Street Epistemology International.
Wer mehr über den Sokratischen Weg erfahren oder mit der Community Kontakt aufnehmen möchte, findet weitere Informationen auf der Webseite des Vereins Sokratischer Weg e.V. Dort wird auch erklärt, wie man sich auf dem zunächst etwas unübersichtlichen Discord-Server zurechtfindet.
8 Kommentare
Kommentare
Therese! am Permanenter Link
Als Therese und Tante muss ich mich kurz echauffieren, dass es ausgerechnet mein geliebter Zweitname war, aber sonst ...
Tante Therese geht mal üben!
wolfgang am Permanenter Link
Schöner Artikel, schöne Theorie. Sokrates: Wir wissen, das wir nichts wissen, also für beide Seiten, die einen glauben, die anderen wissen. Und hier kommt die Praxis. z.B.
Schön, ich habe mit meinem Wissen die Kraft zu sagen, es gibt keinen Gott und der verzweifelte Theologe hat auch keinen einzigen Ansatz, mein Wissen in einen Glauben zu verwandeln. Wasser bleibt Wasser und mit bloßen Füssen über das Wasser gehen wird auch mit vorherigem Beten nicht möglich sein, gelle?
Roland Weber am Permanenter Link
Es ist sicher ehrenwert, wenn sich jemand bemüht, Wege aufzuzeigen, wie familiärer Unfrieden vermieden werden könnte bzw. nach Auffassung des Autors gar sollte.
Zitat:
„Eine der zentralen Grundregeln während des gesamten Gesprächs besteht darin, dass der Fragende seine eigene Position zur untersuchten Überzeugung in keiner Weise durchblicken lässt.
So vermeidet er, dass der Gesprächspartner sich in seinem Standpunkt angegriffen fühlt und sich in eine Abwehrhaltung begibt.“
Dieser Strategie kann ich mich nicht anschließen und aus meiner Sicht nur abraten!
Zum einen kommt darin bereits ein „Überlegenheitsgefühl“ zum Ausdruck, bei dem man nur hoffen kann, dass es der Befragte nicht durchschaut, und hoffen, dass das Verhör deshalb baldmöglichst endet. In meinen Augen ist diese Strategie geradezu verlogen und eben alles andere als vertrauensbildend. Das Schlimmste dabei: Gerade das wesentliche an sozialer Beziehung, ein Meinungs- ggf. Erfahrungsaustausch soll ausgeklammert werden!
Eine derartige Strategie mag durchaus angebracht sein, wenn ein Therapeut z.B. helfen möchte, einem Patienten seine übertriebene Angste vor Hunden oder Spinnen abzubauen oder dessen Gefühle zu therapieren. Ein Gespräch auf „schiefer Ebene“ sozusagen. Für ein Gespräch auf gleicher Ebene und im Ringen um mehr Toleranz, Verständnis, Argumente, Ängste oder was auch immer prägend sein kann, halte ich die vorgeschlagene Gesprächsführung für höchst problematisch.
Dazu mag es eben nur kommen, wenn man die heutige Diskussionskultur betrachtet. Sie ist von einem narzisstischen „Ich habe recht!“ - und alle anderen damit unrecht - geprägt. Diese übernommene Position wird derart verinnerlicht, dass selbst geringste Zweifel an der geäußerten Auffassung als Angriff und Beleidigung aufgefasst werden. Von diesen Reflexen sind nicht einmal Politiker oder sonst in verantwortlicher Stellung sich Befindliche auszunehmen, wie nahezu täglich zu belegen ist. Statt Argumente zu sammeln, wird in der Sache samt der Person „abgeurteilt“. Diffamieren statt Informieren, ist eine - auf beiden Seiten wohlgemerkt - sozial übliche Strategie geworden: Siehe: Klima, Ukraine oder Corona. Was wurde da schon alles gesagt, behauptet, bestritten, gefordert etc. und was hat denn wirklich durchgehend und bis heute oder gar morgen oder übermorgen von diesem „Alles-Allein-Besser-Wissen“ tatsächlich bestand? Was ist denn eigene Meinung und was nur nachgeplappert? Da sollte mal jeder selbst aufschreiben, was er vertritt, vertreten und geäußert hat und dies in eins, zwei Jahren einmal auf Wahrheit und Vollständigkeit überprüfen!
Da die Meinungen inzwischen derart mit dem Seelenleben der „Verfechter“ verflochten wurden/sind, ist es, wie in Fragen der Religion sinnlos, eine einmal gefasste Meinung durch Gespräche mit einem Andersdenkenden zum Gegenstand des Überdenkens zu machen. Die genannten Themen haben faktisch religiösen Status erworben und das bleibt eben nicht folgenlos. Was helfen wird ist die Zeit, denn vieles hat doch „kurze Beine“.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
@ Roland Weber, hallo Roland, sehr gut geschrieben, aber dein letzter Satz gibt mir zu denken, denn es gibt Probleme auf der Erde, deren Lösung leider nicht mehr viel Zeit
haben.
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Hübsch erläuterte Anwendungsmethode, und Probieren geht über Studieren...!
Klaus Bernd am Permanenter Link
Erinnert mich an das Buch „50 simple questions for every christian“ von Guy P. Harrison.
(Nur am Rande sei daran erinnert, dass die POSITIVE Einstellung zur Bibel sinngemäß auch im Entwurf des neuen kirchlichen Arbeitsrechts für die Caritas gefordert wird; auch dann, wenn (z.B. muslimische) Beschäftigte den Inhalt gar nicht kennen.)
Von der FREIWILLIGEN Lektüre des o.a. Buches durch einen Gläubigen könnte ich mir allerdings einiges versprechen.
Unechter Pole am Permanenter Link
Ich habe das Bild gesehen und ein paar Minuten nachgedacht, woher ist das kenne. Und ja, das muss der Kronenplatz in Karlsruhe sein. Ein Ort, wo man dringend gebraucht wird.
Schleyer, Manfred am Permanenter Link
Leider bewirkt die von den Kirchen praktizierte frühkindliche Indoktrination in Kindergärten und Schulen eine schwer auflösbare Verankerung ihrer Lehren im Fühlen und Denken.