Der renommierte Entwicklungspsychologe und gbs-Beirat Rolf Oerter ist am vergangenen Wochenende im Alter von 92 Jahren gestorben. Er hat viele von uns nicht nur durch seine Argumente inspiriert, sondern auch durch seine freundliche, offene, sanfte Art. Ein Nachruf von Michael Schmidt-Salomon.
"Mozart wäre im Busch allenfalls ein guter Trommler geworden." Rolf hatte die Gabe, komplexe Sachverhalte, etwa die Interaktion von Anlage und Umwelt, so darzustellen, dass auch Laien sie verstehen konnten. Als er 2008 in den Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung aufgenommen wurde, war sein Ruf als Wegbereiter der Entwicklungspsychologie im deutschen Sprachraum bereits legendär. Gut erinnere ich mich daran, wie eine junge Diplom-Psychologin bei einem unserer Treffen vor Schreck beinahe vom Stuhl gefallen wäre, als ihr klar wurde, dass der freundlich lächelnde, ältere Herr neben ihr niemand anderes war als "der berühmte Professor Oerter".
Wer in den 80er, 90er oder 2000er Jahren Psychologie studierte, kam an "dem Oerter", wie das gemeinsam mit Leo Montada herausgegebene Standardwerk "Entwicklungspsychologie" gerne abgekürzt wurde, nicht vorbei. Das 1200 Seiten starke Lehrbuch, das sechs Auflagen erlebte, gilt zu Recht als Klassiker der psychologischen Literatur und ist in weiten Teilen bis heute unerreicht geblieben. Rolf hat in seiner dreißigjährigen Lehrtätigkeit als Professor in Augsburg und München nicht nur die Entwicklungspsychologie maßgeblich geprägt, sondern auch wichtige Arbeiten zur Spieltherapie und Musikpsychologie veröffentlicht. In den letzten Jahren faszinierte ihn insbesondere das spannungsreiche Verhältnis von biologischer und kultureller Evolution, was sich u.a. in den Büchern "Der Mensch, das wundersame Wesen. Was Evolution, Kultur und Ontogenese aus uns machen" (2014) und "Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution" (2016) niedergeschlagen hat.
Für mich war Rolfs Eintritt in die Stiftung ein wunderbarer Beleg dafür, dass die religiöse Strategie, die gbs als eine "Horde von militanten Kampfatheisten" zu diffamieren, nicht aufgegangen war. Denn Rolf war alles andere als ein "Kampfatheist", er war vielmehr ein "Meister der Ausgewogenheit". Sobald jemand mit einer steilen religionskritischen These auftrumpfen wollte, mahnte Rolf an, bitte auch die Argumente der Gegenseite zu bedenken, nicht zuletzt die existenziellen Nöte, aus denen heraus der religiöse Glaube geboren wird.
Bescheidenheit, Herzlichkeit und Sanftmut waren Rolfs hervorstechendste Eigenschaften, er war ein echter Menschenfreund – und diese Freundlichkeit verließ ihn auch nicht im Umgang mit weltanschaulichen oder politischen Gegnern. Dass er auch in der Kommunikation mit Fundamentalisten stets fair bleiben konnte, führte Rolf darauf zurück, dass er in dieser Hinsicht nichts mehr "abzuarbeiten" hatte. In seiner Rede auf der Gedenkfeier für gbs-Gründer Herbert Steffen, die am 23. April 2023 am Stiftungssitz stattfand, erklärte Rolf, dass er selbst zwar in einem ähnlich rigiden katholischen Milieu wie Herbert aufgewachsen war, aber im Unterschied zu diesem das Glück hatte, sich schon im Alter von 17 Jahren von allen religiösen Vorstellungen befreien zu können. Umso mehr imponierte Rolf die erstaunliche Kehrtwende, die Herbert in seiner zweiten Lebenshälfte eingeschlagen hatte.
Rolf fand in der Giordano-Bruno-Stiftung nicht nur seine weltanschauliche Heimat, sondern auch viele enge Freunde, ja, mehr als das: das späte Lebensglück. Während einer Vorstandssitzung witzelte ich einmal: "Allein für die Anbahnung der Beziehung zwischen Rolf (Oerter) und Esther (Vilar) hat sich die Gründung der gbs gelohnt!" – was Herbert mit einem herzhaften Lachen bestätigte. Allerdings: Dass ausgerechnet Rolf, der "Meister der Ausgewogenheit", und Esther, die radikale Autorin mit ihren messerscharf zugespitzten Thesen (man lese nur ihr wunderbar garstiges Buch "Der betörende Glanz der Dummheit"), jemals ein glückliches Paar werden könnten, hätte wohl niemand von uns vermutet.
Ungewöhnlich war schon der Beginn ihrer Beziehung, die durch eine Kofferverwechslung eingeleitet wurde: Bei einem unserer Stiftungstreffen in Oberwesel zog Rolf kurz vor der Abfahrt Damenwäsche aus "seinem" Koffer und sagte zur allgemeinen Belustigung: "Mich beschleicht das Gefühl, dass dies nicht mein Koffer ist!" Es stellte sich schnell heraus, dass Esther fälschlicherweise mit Rolfs Koffer abgereist war. Allerdings wusste niemand, wo sie sich gerade aufhielt, da Esther gerne mal ins Blaue hinein verreist. Nach einigen Telefonaten konnte ihr Aufenthaltsort jedoch ermittelt werden. So kam es zum Koffertausch – und später offenkundig zu einigem mehr…
Eine Zeitlang haben Rolf und Esther ihre Beziehung vor der Außenwelt verborgen – wohl auch, weil sie erst einmal feststellen wollten, ob eine so ungewöhnliche Partnerschaft überhaupt funktionieren kann. Aber sie tat es in der allerschönsten Weise. Rolf und Esther wohnten abwechselnd in London und München – und es war eine reine Freude, die beiden gemeinsam auf unseren Stiftungstreffen zu erleben. Tatsächlich waren sie trotz der langen, anstrengenden Anreise stets dabei, abgesehen von dem letzten Stiftungstreffen Anfang Mai.
Zwar machten wir uns Sorgen, als Rolf die Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen musste, doch mit seinem Tod hat niemand von uns gerechnet. Tatsächlich hat er am letzten Wochenende noch zusammen mit Esther an der Hochzeitsfeier eines seiner Enkelkinder teilgenommen. In der Nacht zum Sonntag fiel er im Bad plötzlich zu Boden und war augenblicklich tot. Selbstverständlich war und ist dieser unerwartete Tod ein großer Schock, vor allem für Esther und Rolfs Familie. Tröstlich ist aber, dass Rolf nicht hat leiden müssen. Denn die Angst vor einem langen Krankheits- und Sterbeprozess war seine größte Sorge in den letzten Jahren.
Es war ein großes Privileg, Rolf kennenlernen zu dürfen – nicht nur, weil er so klug, gebildet und vielseitig interessiert war, sondern auch, weil er ganz unabhängig von seinen akademischen Meriten (man kann es nur in diesen altmodischen Begriffen ausdrücken) ein ausgesprochen "feiner Mensch" war, der einem sofort gute Gefühle bescherte, sobald er den Raum betrat. Rolf war der beste Beweis dafür, dass es – trotz Adornos berühmten Diktum – sehr wohl "ein richtiges Leben im falschen" geben kann. Er hat viele von uns nicht nur durch seine Argumente inspiriert, sondern vor allem auch durch seine freundliche, offene, sanfte Art – und das wird bleiben, weit über seinen Tod hinaus.
Erstveröffentlichung auf der Website der gbs.
3 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Schade daß ich diesen wunderbaren Menschen nie kennenlernen durfte, er wäre mir sicher ein großes Vorbild geworden.
Tim Mangold am Permanenter Link
Mein Beileid an alle die ihnkannten und liebten, auch im freundschaftlichen Sinne.
Bis zu diesem Text kannte ich Herrn Oerter nicht, vielen Dank für ihn. Ich werde versuchen, an ein paar Werke von ihm zu kommen, da der hießige Text sehr interessante Inhalte in seinen Werken vermuten lässt.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Immerhin hat das lesen seiner Bücher bei mir die Erkenntnis ausgelöst, es gibt keine
Islamisten, keine Christen, keine Hindus, keine Orthodoxen, keine Götter u.s.w. es gibt
für alles was darauf lebt und alles was darauf geschieht.