Der Biowissenschaftler und Evolutionstheoretiker Franz M. Wuketits plädiert in seinem Buch angesichts diverser gesellschaftlicher Krisen nicht für ein Mehr, sondern für ein Weniger an Moral. Seine Begründung für ein individualisiertes und reduziertes Moralverständnis wird auf Basis einer naturalistischen Perspektive gut strukturiert und verständlich vorgetragen.
Angesichts der Krisen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen konstatiert man einen allgemeinen Werteverfall. Was soll darauf die Antwort sein? Ein Mehr an Moral, fordern die meisten Betrachter. Ein Weniger an Moral, postuliert Franz M. Wuketits. Der Biowissenschaftler und Philosoph nimmt in seinem neusten Buch „Wie viel Moral verträgt der Mensch? Eine Provokation“ eine andere Perspektive als die Mehrheit der Stimmen in der Debatte über Gier in der Finanzkrise oder Korruption in der Politik ein. Dabei argumentiert er im Sinne der modernen Evolutionstheorie, die den Menschen als von Natur aus weder „böse“ noch „gut“ ansieht. Dessen Handlungen müssten im Lichte seines biologischen Imperatives ganz realistisch betrachtet werden. Aus einer solchen Sicht ergibt sich für Wuketits: „Unsere Moralfähigkeit ist begrenzt, jedes idealistische Werte- und Normensystem ist zum Scheitern verurteilt. Dennoch hat ... das ‚Gute’ eine Chance, wenn wir unsere Gesellschaften an die Bedürfnisse des Individuums anpassen (und nicht umgekehrt)“ (S. 11).
Dies wollen die fünf Kapitel des Buches aufzeigen: Zunächst soll es um eine naturhistorische Rekonstruktion und Erklärung von Moral gehen, wobei in der Geselligkeit der Menschen die Basis für die Herausbildung von Kooperation gesehen wird. Altruismus als Engagement für das Gemeinwohl entstehe dabei aus dem erhofften Eigennutz, und Moral als praktizierte gegenseitiger Hilfe könne sich demnach auch im individuellen Interesse auszahlen. Darüber hinausgehende Forderungen für Normen menschlichen Verhaltens sieht Wuketits als nicht lebbar und somit als unrealistisch an. Außerdem könnten sie zur Legitimation von politischer Macht im Namen einer angeblich besseren Moral missbraucht werden. Damit verbundene Gebote und Verbote überforderten den Menschen außerdem regelmäßig. Nicht nur von daher benötige man nicht mehr, sondern weniger Moral – und diese sollte sich sehr wohl am Prinzip der Selbstbevorzugung des Individualisten orientierten. Und schließlich wird von den Anmaßungen der Kaste von Moralhütern gewarnt.
Wuketitis geht bei all seinen Überlegungen von einem evolutionstheoretischen Menschenbild aus: „Wir müssen immer unsere stammesgeschichtliche Mitgift im Auge behalten. Wir sind nicht die rationalen Wesen, die wir – oder viele von uns – zu sein vorgeben“ (S: 89). Seine Forderungen bezüglich der Moral laufen auf eine Individualisierung und Minimalisierung hinaus: „Wenn sich jeder einzelne Mensch mit sich selbst darauf einigt, dass sein eigenes Leben für ihn den obersten Wert darstellt (was ja der biologischen Erwartung entspricht und daher nicht sehr schwer fallen dürfte), dann bedarf er keiner wie auch immer gearteten höheren moralischen Instanz. Findet er Zufriedenheit – um nicht zu sagen: Glück – in seinem Leben, wird er die anderen in Ruhe lassen und ihnen ein zufriedenes Leben gönnen, zumindest, solange er von ihnen seinerseits in Ruhe gelassen wird“ (S. 140). Groß angelegte Moralsysteme mit ideologischen oder religiösen „Weltformeln“ seien bezüglich ihrer Begründung gescheitert und hätten mitunter schlimme Folgen gehabt.
All dies präsentiert Wuketits in bekannter Weise: Gut strukturiert und verständlich legt er seine Überlegungen zu einer bedeutenden Fragestellung dar, wobei die biologische mit der gesellschaftlichen Dimension verkoppelt wird. In der Tat könnte der Verzicht auf hochentwickelte Moralsysteme und deren absoluten Geltungsanspruch zu einer erheblichen Konfliktreduzierung führen. Darüber hinaus vermeidet der Verzicht auf all zu hohe Ansprüche auch damit einhergehende Enttäuschungen. Was seine Einsichten gesellschaftlich und politisch bedeuten, erörtert der Autor leider nur am Rande. Bezüglich der Reduzierung von Moralvorstellungen äußert er über die Politiker: „Dann müsste es ihnen einleuchten, dass man die Steuermoral am besten durch Steuersenkungen hebt“ (S. 58). Das Eine kann aber - wie die skandinavischen Länder zeigen - durchaus mit dem Anderen einhergehen. Es spielen demnach für eine solche Moral noch andere Gesichtspunkte eine Rolle. Wuketitis’ Buch versteht sich laut Untertitel als „Provokation“, was wohl deren Ausblendung erklären mag.
Armin Pfahl-Traughber
Franz M. Wuketits: Wie viel Moral verträgt der Mensch? Eine Provokation, Gütersloh 2010 (Gütersloher Verlagshaus), 191 S., 17,99 €