Sexuelle Selbstbestimmung

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Podiumsteilnehmer / Foto (c) Evelin Frerk

KÖLN. (hpd) Obwohl die Verleihung des Sapio-Preises an Oswalt Kolle wegen der Erkankung des Preisträgers auf nächstes Jahr verschoben werden musste, blieb das Rahmenprogramm einer Podiumsdiskussion zur „sexuellen Selbstbestimmung“ erhalten, so dass zumindest die Theorie nicht zu kurz kam.

Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) hatte mehrere Persönlichkeiten des säkularen Lebens nach Köln eingeladen und so befanden sich der Direktor der Humanistischen Akademie, der Kulturwissenschaftler Dr. Horst Groschopp, ebenso auf dem Podium wie der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Thomas Junker, die ehemalige Vorsitzende von pro familia, Dr. Gisela Notz, der pensionierte Bundesanwalt Manfred Bruhns sowie die Autorin und Jornalistin Arzu Toker.

Horst Groschopp referierte im Hauptvortrag die Frage der sexuellen Selbstbestimmung im Kontext der Geschichte der Freidenkerei in Deutschland: „Geschichte, Gegenwart und Verbändepolitik". Seine einleitenden Vorbemerkungen bezogen sich auf:

  • Selbstbestimmung, die auf einer physischen wie kognitiven Fähigkeit beruht,
  • historische Anmerkungen zur Sexualität, dem Geschlechtlichen, das zuerst als „Sexualkrankheit“ populär wurde und als Wort weder in der Bibel, noch bei Homer oder Shakespeare vorkommt.
  • Er konstatierte, dass wir nur wenig über das „sexuelle Brauchtum“ wissen, also über das tatsächliche Sexualleben, und
  • brachte Sexualität in ihre Einbindung in Gemeinschaftsformen, die diese Sexualität regeln wollen (Stichworte: Vernunftehe, Liebesheirat etc.) und verwies auf den heute stärkeren Trend bei Singles und Stressgeplagten zum „Self Sex“, der Selbstbefriedigung.

Sein kulturhistorisch und inhaltlich kompakter Vortrag stellte Sexualität dann in den Zusammenhang des Kampfes um die persönliche Entscheidungsfreiheit gegen Gemeinschaftsnormen (Stichworte: Feminismus, Homosexualität etc.), in den Kontext der Menschenrechtskonvention, nationaler Kulturen und unterschiedlicher Auffassungen. In einer Fülle von Informationen berichtete er dann über die Sexualwissenschaft in der Freidenkerei (Magnus Hirschfeld, Helene Stöcker, Emil Dosenheimer u.a.m.), den Deutschen Bund für Mutterschutz (1905), diverse Streitigkeiten – insbesondere zur Sexualität von Frauen, über Homosexualität und zur Pornografie – und referierte zur Arbeit von Otto Rühle wie der von Wilhelm Reich („Sexpol“).

Abschließend stellte er fest, dass sich heute alle säkularen Verbände als sexualreformerisch verstehen und sich gegen sexuelle Diskriminierung aussprechen. Offen ließ er die Frage, wo denn, wenn nun nichts Menschliches mehr fremd sei – die Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung liegen.

(Der vollständige Text seines Vortrages kann auf der Intersetseite der Humanistischen Akademie gelesen werden.)


Thomas Junker
, zu einer ergänzenden Position gefragt, zeigte sich verwundert, dass man über Sexualität sprechen könne, ohne einmal das Wort Biologie zu verwenden. Junker erläuterte, dass Biologie die Basis der Sexualität sei und zwei Funktionen habe, die biologische Reproduktion und die der Lust.

Auch bei Tieren ist das Thema der sexuellen Selbstbestimmung bekannt und wird gelebt – was Thomas Junker an verschiedenen Beispielen erläuterte. Weiterhin ist es keine moderne Erfindung, sondern Teil unseres evolutionäre Erbes – auch Charles Darwin kannte bereits das Thema der „female choice“ (Präferenzen der weiblichen Lebewesen). Nach dem Wunsch zu Überleben sei die Sexualität und die Partnerwahl die zweitwichtigste Präferenz.

Warum, fragte er sich und die ZuhörerInnen, ist Sexualität überhaupt wichtig? Die reduktionistische Aufassung, die Sexualität auf Fortpflanzung beschränkt, übersieht beispielsweise, dass zwischen der Kinderzahl und der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs normalerweise ein großer Unterschied besteht. Wichtig ist die Sexualität eben auch in ihrer Fähigkeit gemeinschaftbildende Mechanismen zu erzeugen. Die gemeinsame Lust ist ein starkes Band unter Intimen, wobei man jedoch Lust nur dann erlebt, wenn man etwas als „richtig“ bewertet.

Und abschließend fragte sich Junker: Wer hat etwas gegen selbstbestimmte Sexualität? Die Antworten: Bei der Fortpflanzung der jeweilige Partner, bei den Gleichgeschlechtlichen die auftretende Konkurrenz, bei den anderen Familienmitgliedern („egoistische Gene“) der Versuch, auf die Partnerwahl Einfluss zu nehmen („Romeo und Julia“) und schließlich die anderen Gruppenmitglieder, der „Mensch als soziales Wesen“.

Nach dem langen Referat und und dem Korreferat fassten sich die übrigen Podiumsteilnehmer deutlich kürzer.

Gisela Notz verwies darauf, dass der gesellschaftliche und politische „Regelungswahn“ sich vornehmlich auf Frauen beziehe. Selbstbestimmung bedeute für Frauen auch die Befreiung aus patriarchalischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten, es ist das Tor zur Gesellschaftskritik.

Selbstbestimmung ist die eine Seite, Selbstverantwortung für die eigenen Entscheidungen die andere Seite.  

Es gäbe keinen Grund, eine einzige Lebensform zu privilegieren und sie über das indivuelle Recht der eigenen Entscheidung zu stellen. Sowohl der Staat wie auch die Kirchen und Religionen seien dafür überflüssig. Die so genannten „Lebensschützer“, deren Demonstration sie einen Tag zuvor in Berlin erlebt habe, fordern im Kern die Entrechtung der Frauen. Ebenso ihre Fixiertheit auf Sexualität ausschließlich als Fortpflanzung und ihre Ablehnung der Homosexualität, da es keine „zielführende“ Sexualität sei. 

Eine Gleichberechtigung aller Lebensformen brauche aber auch eine Förderung durch eine entsprechende Familienpolitik, mit Kindergärten, Verhütungsmöglichkeiten, Aufklärung und grundsätzlich dem Recht der Frauen, wenn sie es so wollen, auch „Nein!“ zu sagen und sagen zu können.


Manfred Bruhns
, 1934 geboren, Heirat, Kinder, Enkelkinder, in die Konventionen der Nachkriegszeit gepresst, fragte: Was braucht der Mensch? Erstens, Nahrung und Wasser. Zweitens, einen warmen und trockenen Raum. Drittens: Ungestört schlafen zu können. Diese Bedürfnisse setzen sich durch. 

Sexualität ist sekundär. Bekommt der Mensch zu wenig Nahrung reduzieren sich auch seine sexuellen Bedürfnisse. Geht es jedoch dem Menschen gut, dann entwickelt sich die pure Lust. Sexuelle Bedürfnisse werden jedoch als gesellschaftlich „unvernünftig“ angesehen, müssen vorgeblich geordnet werden und so wurde und wird Homosexualiät als „abweichend“ bestraft. Diese ordnenden Ansprüche werden gesellschaftlich begründet und sind nicht auf das individuelle Glück bezogen. Die Absicht ist, Schuldgefühle zu erzeugen. 

Welche Grundsätze sollten für eine selbstbestimmte Sexualität gelten?
• Freiwilligkeit und Übereinstimmung der Beteiligten.
• Ohne Täuschung der anderen.
• Kein Vertrauensbruch.
• Ohne Ansteckung mit Krankheiten, und
• Fortpflanzung nur bei gemeinsamer Verantwortung.


Arzu Toker
, die in Ostanatolien aufgewachsen ist, hat 1975 in Düsseldorf eine Demonstration erlebt, bei der es Transparente gab, auf denen stand: „Hätte Maria abgetrieben, wäre Jesus uns erspart geblieben!“ Sie erlebte veschiedenste Reaktionen, aber keine Gewalt. Das war für sie Meinungsfreiheit. In Ostanatolien hatte sie erlebt, wie ein Vater seine Tochter getötet hatte, ein „Ehrenmord“, und sie hatte sich geschworen, niemals zum Opfer zu werden. 

Sexuelle Selbstbestimmung kannte man in der Türkei nicht. Obwohl die Türkei seit 1923 eine Demokratie ist, sei es eine Schein-Demokratie, da das Land vorher 750 Jahre lang unter der Scharia gestanden hatte, der islamischen Gesetzgebung. Und betrachte man sich Mohammeds Karriere, dann werden im Verlaufe seiner Schriften immer mehr die Rechte der muslimischen Frauen eingeschränkt. Im Islam, auch im „modernen“ Istanbul, werden die Rechte sexueller Minderheiten immer noch eingeschänkt und diese Menschen verfolgt. 

In den Gefängnissen der Türkei,in Syrien und weiteren Staaten werden die von Manfred Bruhns beschriebenen Grundbedürfnisse systematsich verletzt und die Menschen immer noch gefoltert. 

In Betrachtung ihres eigenen Lebens verwies sie – mit erheiternden Beispielen - abschließend darauf, dass die Befreiung von den eigenen Unterdrückungen das Schwierigste sei und lange dauern könne.

In der anschließenden Diskussion wurden viele Facetten aufgegriffen und ergänzt:

  • Es fehle der Begriff der Herrschaftsverhältnisse, Sexualpolitik ist Kampf um die Herrschaft über die Köpfe und Körper;
  • die unterschiedlichen biologischen Interessen von Frauen und Männern. Der notwendige und herrschaftsfreie Diskurs, um eine Regelung dieser unterschiedlichen Interssen auszuhandeln;
  • das Spannungsfeld zwischen Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Die Diskussion, was ist gestaltbar und wie ließe es sich politsich umsetzen?
  • Die Fordeung nach mehr historischem Bewußtsein.

In den Stunden der Referate, Stellungnahmen und Beiträge ließ sich Vieles lernen, neues Wissen und historische Bezüge. Dennoch hatte ich am Ende der Diskussionen das Gefühl, auf der falschen Veranstaltung gewesen zu sein. Wohlmeinend, wissenschaftlich, politisch, aber sehr ‚verkopft’? So blieb für mich die noch unbeantwortete Frage: Was hatte ich eigentlich von so einer Diskussion erwartet?

C.F.