Selbstbestimmung – was heißt das im Alltag? (I)

BERLIN. (hpd) „Selbstbestimmtes Lernen“, „Freiräume für Neugier und Kreativität“, „das Kind Entdecker sein lassen“, „ individuellen Entwicklungsweg ermöglichen“, „Partizipation und Verantwortung“. Die Liste ist endlos. Und im Alltag? Ein Blick nach Berlin.

 

Teil 1 : Kleiner theoretischer Ausflug

 

Die Gesellschaft ändert sich ständig und somit auch ihre Ansprüche. Häufig sind staatliche Institutionen diesen Veränderungen nicht gewachsen, hinken dem Zeitgeist hinterher. Bürokratische Strukturen erschweren ihre Flexibilität. Deutschland ist rechtstaatlich eine Demokratie, doch wie wird diese im Alltag gelebt?

Ein Grundstein der demokratischen Gesellschaft ist das Bildungswesen. Emanzipation, Eigen- und Mitverantwortung, kritisches Denken sind Dinge, die gelernt werden müssen, um die demokratische Staatsform am Leben zu halten.

Gleichzeitig ist es inzwischen bekannt, dass der Mensch am besten durch Erfahrung lernt, und das Gehirn nur das aufnimmt, auf das es seine Aufmerksamkeit richtet. Nicht nur Kognitives, sondern auch die sozialen Fähigkeiten müssen erlernt werden, um seiner Verantwortung in einer Gemeinschaft nachkommen zu können. Dieses bedarf viel Raum für Reflektion über eigenes Handeln. Die Entwicklungstheorie von Piaget, Lernprozesse stufenartig zu trennen und altersgemäß festzulegen, ist inzwischen von neueren Theorien (z.B. “Dual Process Theory“ von Jonathan Haidt) widerlegt worden.

Doch diese „neuen“ Erkenntnisse haben es schwer in staatlich etablierte Systeme zu dringen. Und das gilt für eine Anzahl von Erkenntnissen. Die Differenz zwischen Schule und der Welt „da draußen“ wächst. Ergebnis ist, dass das deutsche Bildungswesen seiner Aufgabe in einer kulturell vielfältigen und demokratischen Gesellschaft nur noch unzureichend nachkommen kann.

Es entstehen Initiativen

Aus der Unzufriedenheit mit dem staatlichen Schulwesen heraus entstehen Initiativen. Sie richten sich an Freizeitangebote, bewegen sich im Rahmen des etablierten Systems oder gründen gleich selbst etwas Eigenes, Neues, Unabhängiges.
Was die meisten jedoch verbindet, ist der Anspruch, Wege zu finden, das Leben „da draußen“ in die Schule zu integrieren, den Kindern Raum für die Entwicklung von sozialen Fähigkeiten zu geben.
Selbst- und Mitbestimmung für Kinder und Jugendliche im Alltag spielen immer mehr eine bedeutende Rolle dabei.
Einen Ort zu schaffen, an dem sich das Kind nach seinen Bedürfnissen bilden kann und gleichzeitig lernt mit den Bedürfnissen anderer umzugehen, an dem das eigene Handeln und das von anderen reflektiert wird.
Das klingt vernünftig, doch wie wird dieser Anspruch im Alltag umgesetzt? Welche Wege werden gefunden?

Ein Blick nach Berlin

Ein Weg führt zum Freizeitangebot, von basisdemokratischen Jugendcamps zum „Stadtumbau Ost“. Aktive Träger in Berlin sind zum Beispiel „Netzwerk Spiel/ Kultur“ und der Humanistische Verband.
Letzterer unterstützt die Eröffnung von Jugendzentren, ist Träger von verschiedenen Kindertagesstätten, koordiniert verschiedene Projekte wie zum Beispiel die Jugendfeier oder Teamschulungen, von den Jungen Humanisten initiierte Aktionen wie den Medientreff, die Ausbildung zum Lebenskundelehrer, welches als Unterrichtsfach alternativ zum Religionsunterricht eingeführt wurde und vieles mehr.
Ein Ideal des humanistischen Verbandes ist es, kritisches Denken zu fördern, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, nicht in einem Gott, sondern im Menschen die Handlungsmaxime zu sehen.Bei der Auswahl von Pädagogen wird darauf geachtet, dass diese flexible und offen dafür sind, neue Wege zu gehen, Jugendliche an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und auf ihre Wünsche einzugehen.

Im Rahmen der Regelschulen

Der Lebenskundeunterricht, so wie der Religionsunterricht kann in Berlin freiwillig besucht werden. Es ist also kein Pflichtfach. Das erleichtert die Atmosphäre zwischen Lehrer und Schüler. Die Teilnahme beruht nicht auf Zwang, sondern womöglich auf Interesse. Womöglich eben, weil Eltern noch bis zum 14. Lebensjahr ihres Kindes die Macht darüber haben zu entscheiden, ob und was ihr Kind besucht.
Nach sechs Schulstunden Frontalunterricht fällt es den Kindern jedoch deutlich schwerer, sich an den Spielraum, der sich ihnen für 90 Minuten in der 7. und 8. Schulstunde eröffnet zu gewöhnen. Sich in den Kreis zu setzen und sich über lebensnahe Themen wie Freundschaften, den Tod, Mut, Tiere, Kinderrechte und vieles mehr zu unterhalten, über moralische Dilemmas zu diskutieren, per Rollenspiel andere Perspektiven zu erleben, oder einen Tag auf dem Bauernhof mitzuhelfen. Kein Sachwissen lernen zu müssen, sondern selber mitzudenken, auf andere einzugehen, sein Handeln zu reflektieren, einen Themenvorschlag machen zu können, mitzubestimmen, wie ein Thema bearbeitet wird.

Das ist ein erster Schritt, die Schulen von innen etwas aufzulockern, etwas mehr vom alltäglichen Leben hinein zu bringen. Angesichts der sinkenden Zahl von christlich Gläubigen, ist es höchste Zeit eine Alternative zum Religionsunterricht zu bieten. Das Fach ist beliebt, jedes Jahr kommen mehr Kinder hinzu. Aktuell nehmen 45.000 Schüler/Innen in Berlin am Lebenskundeunterricht teil. Doch auch das Wachstum ist beschränkt durch finanzielle Mittel. Nur 90 Prozent der Personalkosten werden vom Staat übernommen, Materialkosten müssen selbst übernommen werden.

Ein weiterer Weg führt über die Gründung von Schulen in freier Trägerschaft.

Von außen : Ein bisschen Statistik

Die Zahl der Privatschulen wächst seit 1992 stetig. Um genau 55 Prozent (von 4,5 auf 8 Prozent ) ist der Anteil am gesamten Schulwesen gestiegen, vor allem in den neuen Ländern, so das statistische Bundesamt.
Zu den privaten Schulen gehören auch solche mit religiöser Trägerschaft, Berufsschulen, Waldorfschulen oder Sonderschulen.

 Bundesverband freier alternativer Schulen

Ein Blick jedoch auf die stetig steigende Mitgliederzahl beim Bundesverband alternativer freier Schulen (BFAS), gegründet 1988, zeigt insbesondere seit 1996 einen Trend, Schulen in freier Trägerschaft zu gründen. In den letzen 10 Jahren sind allein in Berlin sieben neue Schulen hinzugekommen, weitere befinden sich in der Gründungsphase. Nebenbei gibt es noch einige Initiativen, die sich eine Mitgliedschaft beim BFAS noch nicht leisten können.
Eine Gründung einer Schule in freier Trägerschaft erfordert viel Geduld, Kraft und Vertrauen oder einen finanzstarken Träger. Da kann ein Bundesverband durchaus hilfreich sein.

Hier gibt es Gründungsberatung, pädagogischen Rat, juristische Unterstützung, Hilfe zur Genehmigung des Konzepts. Vernetzungen zu anderen freien Schulen bieten wichtigen Austausch an, sei es um das finanzielle Konzept anders zu gestalten, verschiedene Methoden kennen zu lernen, eine Schulversammlung durchzuführen oder aus dem Erfahrungsschatz länger existierender Schulen zu schöpfen.
Auch die Lobbyarbeit darf nicht fehlen. Eine bessere Finanzierung von freien Schulen ist notwendig, um diese der breiten Öffentlichkeit leichter zugänglich machen zu können.

Gründungsprozess in Berlin

Es gibt einen Unterschied zwischen der Anerkennung und der Genehmigung einer Schule.
Bei einer Anerkennung kann die Schule Prüfungen abnehmen, ist aber zugleich strengeren staatlichen Vorgaben ausgesetzt, wie z.B. Noten zu vergeben, regelmäßige Tests durchzuführen und Lerninhalte bestimmten Altersgruppen zuzuteilen.
Oft Vorgaben, auf die Gründungsinitiativen verzichten wollen. Eine Genehmigung lässt mehr inhaltliche Freiheiten zu.
Der Preis dafür ist, dass die ersten fünf Jahre finanziell vom Staat nicht unterstützt werden. Nach dieser Bewährungszeit werden um die 90 Prozent der Personalkosten übernommen. Andere anfallende Kosten wie Sachkosten müssen von der Schule erbracht werden.
Die meisten betreiben noch einen Hort, der finanziell vom Staat unterstützt wird und nehmen die ersten fünf Jahre einen Kredit bei der Bank auf, für denen die Eltern dann bürgen. Trotz allem müssen die meisten ein einkommensabhängiges Schulgeld verlangen, das im Durchschnitt 150 – 200 Euro beträgt.
Zusätzlich bedarf es engagierte Eltern, um an Personalkosten sparen zu können. Zwei bis drei Mal im Jahr das Schulgebäude putzen, gehört dazu.
So manche Initiativen scheitern am Nerven aufreibenden Gründungsprozess.

Nicht wenige Eltern sind dennoch bereit, finanzielle Risiken oder einen Umzug auf sich zu nehmen und ihre Kraft in solch einen Gründungsprozess zu investieren. Im Großen und Ganzen erspare man sich und dem Kind ja sonst vieles, so eine Mutter, deren Kinder eine freie Schule in Berlin besuchen und deren Mann noch in Ulm wohnt.

So manch inhaltliche Unterschiede

Eine ständige Diskussion bleibt, was die Schulen jeweils unter selbst bestimmtem Lernen, Emanzipation des einzelnen, Mitbestimmung und Verantwortung für die Gemeinschaft verstehen und wie dieses im Alltag umzusetzen ist.
Es gibt kein einheitliches Konzept, nach dem sich die freien Schulen richten. Jede Schule hat sein eigene Süppchen gekocht, etwa zwei Löffel voll Freinet, eine Brise Montessori, dort ein Hauch Wild, abgeschmeckt mit Gribble und Dewey. Je nach dem, welche Zutaten eben vor Ort passen.

Eine Profildiskussion des Bundesverbands alternativer freier Schulen in Potsdam gab einen Einblick in die Bandbreite solcher Auslegungen. 90 Prozent der Schulen gaben zwar an, regelmäßig Schulversammlungen abzuhalten, doch pädagogische Alltagsentscheidungen werden mehrheitlich vom Team getroffen.50 Prozent haben eine Schulleitung mit Leitungsfunktion. Wie viel Mitbestimmung ist hier noch möglich?
50 Prozent der Schulen haben Pflichtlernzeiten. Wie ist das mit selbst bestimmtem Lernen vereinbar?

Gibt es bei den Schulen in freier Trägerschaft Gemeinsamkeiten, die sie besonders von staatlichen hervorheben? Gibt es Mindeststandards, die erfüllt werden müssen, um sich von den staatlichen zu unterscheiden? Variieren die pädagogischen Ziele vielleicht gar nicht so sehr von den staatlichen, jedoch dafür ihre praktische Umsetzung? Ist eine Abgrenzung überhaupt sinnvoll, abgesehen davon dass sie für eine Genehmigung existentiell ist?

Schafft allein schon der Wille von engagierten Pädagogen und Eltern, auf die Wünsche der Jugendliche und Kinder einzugehen, einen Lebensraum, in dem sich die Schüler wohl fühlen?
Schließlich sehen 80 Prozent ihre Schule als Lebensraum und nicht nur als eine Bildungseinrichtung.

Eine Schülerin der freien Schule Pankow bestätigte, sie sei froh, in der sechsten Klasse gewechselt zu haben. Man lege Respekt und Wert auf ihre Meinung, sie habe das Gefühl, ernst genommen zu werden. Die Schülerversammlungen können zwar noch recht laut sein und so manche Entscheidung betreffe nicht alle. Daran müssten sie noch etwas arbeiten.
Und das taten sie. Sie holten sich Rat von der freien 20 jährigen Schule Leipzig, die wiederum hatte sich Rat von dem privaten Internat Summerhill in England geholt. Es scheint, nicht nur die Schüler befinden sich in einem ständigen Lernprozess, sondern auch die Lehrer und die Schule selbst.

Theresa Siess

Fortsetzung (Besuch dreier unterschiedlicher freier Schulen) Teil 2 folgt