b. Der progressive muslimische Gelehrte Malek Chebel (Manifeste pour un islam des Lumières, 27 propositions pour réformer l'islam) behauptet, dass man während der ersten drei Jahrhunderte des Islams der weiblichen Kleidung wenig Bedeutung zumaß. Danach versuchten frauenfeindliche islamische Gelehrte, strenge Regeln einzuführen. Dabei gab es eine dominante Strömung (die chafeitischen, die malekitischen und hanbalitischen Rechtsschulen): Sie behaupteten, dass die Frau in der Regel zu Hause zu bleiben hätte und außer Haus alles bedecken müsste (mit einer kleinen Öffnung um sehen zu können). Nur die hanefitische Schule (u. a. in der Türkei) und die sjiïtischen Jafarieten (u. a. in dem Iran) schlugen vor, dass Gesicht und Hände sichtbar bleiben dürften.
Die Befürworter des Niqabs (Gesichtsschleier) oder der Burka haben daher die Mehrzahl der traditionellen islamischen Gelehrten hinter sich und vom 12. bis zum Ende der 19. Jahrhunderts war diese Art von Kleidung in Nordafrika, insbesondere in städtischen Gebieten, eine eher allgemeine Regel.
Laut einer Erklärung der Vereinten Ulema's (islamischen Gelehrten) in Saudi-Arabien in 1974 (sic) (Comptes rendus des Colloquies de Riad...) war der Gesichtsschleier (Niqab) reserviert für freie Frauen, die dadurch deutlich von Sklavinnen zu unterscheiden waren, "und daher nicht belästigt wurden." Der Schleier diente in erster Linie dazu, eine empörende Diskriminierung aufrechtzuerhalten und die Sklavinnen zu sexuellem Freiwild zu erklären.
c. Wer die tatsächliche Situation der Kleidung historisch und anthropologisch vergleichend erforscht, stellt eine breite Diversität fest. Auf den persischen Miniaturen und indischen Moghul-Gemälden tragen die Frauen zierliche Kopfbedeckungen (die Männer auch), in der Regel sind ihre Zöpfe und Hals sichtbar, oft mit einem Ausschnitt. Seit dem 19. Jahrhundert zeigen Reiseberichte und andere Dokumente, dass in vielen muslimischen Kulturen der Schleier, als er existierte, nur ein Teil der Haare bedeckte und der Hals, mit Juwelen, gut sichtbar war. So war schon allein für die palästinensischen muslimischen Frauen eine Differenz der Menge der sichtbaren Haare und der Tiefe des Ausschnittes zwischen Jaffa, Bethlehem und Ramallah zu bemerken.
d. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann man die verschleiernde Kleidung als typisch für den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben zu betrachten. Der Vorreiter dieser Interpretation, Qasim Amin, schrieb im Jahre 1899 "Die Emanzipation der Frau", worin er argumentierte, dass die Kleiderordnung nichts mit dem wahren Islam zu schaffen hat. Auch Mustafa Kemal Atatürk äußerte sich im Jahre 1923 sehr negativ zu diesem Thema.
Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben viele progressive muslimische Frauen das Ablegen des Schleiers als Symbol des Widerstands gegen die Unterdrückung der Frauen gesehen (1923, Huda Shaarawi, Kairo, dann Ibtihaj Kadura im Libanon, Adila Al-Zarairi in Syrien Habiba's Hari in Tunesien, etc.). Diese Tendenz, wodurch erst der Niqab und später auch der Schleier verschwand, setzte sich fort bis in die siebziger Jahre. In Dokumentationen über die Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit Algeriens (1962) sieht man große Gruppen von jungen Frauen ohne Kopftuch. In Kairo war um 1980 das Kopftuch fast verschwunden.
e. Seit den Ereignissen im Iran (1979), wo Frauen zuerst den Tschador als Zeichen der Opposition gegen den Schah trugen, später aber unter Androhung von 80 Peitschenhieben gezwungen waren, das zu tun, ist eine fundamentalistische Gegenreaktion in Gang gekommen. Obwohl der Iran schiitisch ist, war die gesamte islamische Welt davon fasziniert, dass unter Rückgriff auf die Islamtradition ein wahrer islamischer Staat errichtet werden konnte. Desillusioniert von den sozialistisch getönten Reformen von Nasser und der Baath-Partei, haben die ägyptische Muslimbruderschaft und die saudischen Salafisten sich dieser Bewegung angeschlossen.