(hpd) Die Philosophin Martha C. Nussbaum, die als Protagonistin eins „aristotelischen Sozialdemokratismus“ gilt, erörtert Themen bezüglich einer Gerechtigkeitstheorie. Dabei arbeitet sie sich vor allem kritisch an den diesbezüglichen Auffassungen von John Rawls ab, wobei sie auf inhaltliche Lücken derartiger Theorien verweist, ohne aber ganz mit ihrem Fähigkeitsansatz als Alternative überzeugen zu können.
Seit Mitte des 17. Jahrhunderts werden Auffassungen über Demokratie, Gerechtigkeit, Grundrechte und Staat philosophisch durch inhaltlich systematisierte Vertragstheorien diskutiert und legitimiert. Am Ende der Linie der Klassiker von Thomas Hobbes über John Locke und Jean-Jacques Rousseau bis zu Immanuel Kant steht gegenwärtig John Rawls. Er hatte in seinem Hauptwerk „A Theory of Justice“ (1971) nicht nur die Renaissance der politischen Philosophie eingeleitet, sondern auch eine bis heute bedeutsame Bestimmung von Gerechtigkeitsprinzipien kontraktualistisch entwickelt. Dabei konstruierte Rawls eine vom „Schleier des Nichtwissens“ über individuelle Besonderheiten geprägte hypothetische Situation, worin die Individuen sich auf einen Katalog von Grundrechten einigen und Ungleichheit an einen allgemeinen Nutzen binden würden. Ähnlich wie die Vertragstheorien vor und nach ihm argumentierte Rawls dabei allgemein bezogen auf die postulierte Sichtweise von gesunden Menschen in einem Nationalstaat.
Genau an dieser Stelle setzen die Reflexionen der an der Universität Chicago Ethik und Rechtswissenschaften lehrenden Martha Craven Nussbaum ein. Die als Protagonistin eines „aristotelischen Sozialdemokratismus“ geltende Philosophin will in ihrem neuen Buch „Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit“ die im Untertitel inhaltlich genannten, häufig ausgeklammerten Randbereiche von Gerechtigkeitstheorien ansprechen. Dabei geht es Nussbaum nicht um eine rigorose Ablehnung der Auffassungen von Rawls, dem sie das Werk zum Gedächtnis sogar gewidmet hat und dessen Argumentation sie in vielen Hinsichten folge. Gleichwohl meint die Autorin mit ihrem Plädoyer für eine Ausweitung und Ergänzung von dessen Theorie: „Das Ziel besteht darin herauszufinden, was wir tun müssen, um ansonsten überzeugende Gerechtigkeitsprinzipien und intuitive Vorstellungen auf Probleme auszuweiten, von denen Rawls dachte, dass sie von seiner Argumentation berücksichtigt werden können“ (S. 136f.).
Der Autor von „A Theory of Justice“ habe selbst bezogen auf Beeinträchtigung und Behinderung, Internationalität und Völkerrecht, Spezieszugehörigkeit und Tierbild von ungelösten Problemen gesprochen. Nussbaum arbeitet dann die drei genannten Themen nacheinander durch, um kritisch zu prüfen, inwiefern die kantianisch und kontraktualitisch geprägte Theorie von Rawls darauf eine befriedigende Antwort geben könne. Daher besteht der Hauptteil des Buchs auch aus einer intensiven Erörterung zu den angesprochenen drei Themenkomplexen. Hier kommt die Autorin zu einem negativen Ergebnis, könnten doch Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit so nicht als grundlegende Gerechtigkeitsprobleme behandelt werden. Dem stellt Nussbaum als Alternative und Erweiterung ihre Version eines Fähigkeitsansatzes gegenüber, welchem der intuitive Gedanke zugrunde liege, „dass wir von einer bestimmten Konzeption der Würde des Menschen und eines dieser Würde gemäßen Lebens ausgehen sollten“ (S. 110).
Dabei präsentiert sie eine neue Fassung ihrer Konzeption der minimalen sozialen Ansprüche bezogen auf menschliche Fähigkeiten, welche erstmals breiter in „Women and Human Development“ (2000) entwickelt wurde. In argumentativer Auseinandersetzung mit den genannten drei Themen und den angeblichen und tatsächlichen Defiziten von Rawls entwickelt Nussbaum dabei ihr eigenes materielles und normenhaltiges Gerechtigkeitsverständnis. Gleichwohl können gegen dieses auch zwei grundlegende Einwände eingebracht werden: Einerseits begründet Nussbaum ihre Auffassungen durch eine Setzung im Sinne ihres Fähigkeitskatalogs und nicht wie Rawls durch eine nicht normativ beengte Verfahrensweise. Hier bedürften die genannten Eigenschaften einer gesonderten Legitimation. Andererseits muss der Hinweis auf Behinderung von Menschen nicht gegen Rawls’ Gerechtigkeitsbegründung sprechen. Man kann sich sehr wohl in der Situation des „Schleiers des Nichtwissens“ auch ein Nichtwissen um eine eigene Behinderung vorstellen.
Armin Pfahl-Traughber
Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva Engels, Berlin 2010 (Suhrkamp-Verlag), 599 S., 38 €.