In der Politik gibt es den „Hammelsprung“. Manchmal mutiert in diesen Sphären ein „Leitwolf“ rasch zum „Leithammel“. Das Wort
ist aber pejorativ besetzt. Wohl deshalb ist dieser Begriff heute nur noch im Aktien- und Sportbereich üblich und dort (überraschenderweise?) positiv gemeint. Am Ende des 20. Jahrhunderts kam in Deutschland die Debatte um <„Leitkultur“> auf. Ethnologen lachten sich scheckig, weil, wie sie meinen, es so etwas gar nicht gibt – wenn schon, möge man / frau bitte von „dominanten ethnischen Gruppen“ sprechen (Zitat der Woche, „Bild am Sonntag“, Hamburg 05.11.2000, S. 4).
Doch wenn es um das Ethnische geht, dann wird die Sache sozialkulturell und damit fast zu konkret, um sie politisch konzeptionell noch handhaben zu können nach Belieben. Rechte Sprüche („Deutschland den Deutschen“) sind hier zu nah. Zu allem Übel sprechen Soziologen wie Wolf Wagner, der mit seinem Buch „Kulturschock Deutschland“ 1996 lang wirkende Unterschiede Ost-West festgestellt hatte, im Jahr 2000 im <Freitag> von Merkmalen einer Ethnisierung der Ostdeutschen. Das hier Dominante sei ethnisch gesehen westdeutsch. Also, so könnte die Forschungslogik lauten: Was wissen wir über die westdeutsche „Leitkultur“ (z.B. ihren Drang, sich christlich zu geben) und was wissen wir über die ostdeutsche „Anpassungskultur“ (oder wollen wir sie „Gefolgschaftskultur“ nennen) und ihren säkularen Grundzug?
Denn es versteht sich, dass, wenn es um Kultur geht, die Religion nicht weit fern lauert. Edmund Stoiber gab hier der Debatte in der „Süddeutschen Zeitung" vom 23. Oktober 2000 auf seine unnachahmlich tiefsinnige Art eine christlich-bajuwarische Richtung: „Wir wollen, dass die christlich-abendländische Kultur die Leitkultur bleibt und nicht aufgeht in einem Mischmasch." (hier zitiert nach: <“Kölnische Rundschau“>, 18.01.07)
Erstaunlich ist, dass zwei ehrenwerte Philosophen zu Beginn des 21. Jahrhunderts das politische Reden über die „Leitkultur“ aufgriffen und die Kategorie für den Zusammenhang von Humanismus und Säkularität reklamierten. Den einen, <Michael Schmidt-Salomon>, hat der hpd gestern umfänglichst vorgestellt. Er betreibt sogar eine entsprechende <homepage>. Der andere ist Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a.D und Professor in München. Er wird am kommenden Samstag einen Vortrag halten: „Gibt es eine Leitkultur?“ Das Substantiv ist ohne Anführungsstriche. Das Bedeutsame an diesem Ereignis ist nicht der Vortrag an sich, sondern das Umfeld, in dem und vor dem er gehalten wird – der wohl wichtigste und politischste Philosophenkongress seit Jahren: Es geht um die <„Dialektik der Säkularisierung“>.
Der Forschungsverbund „Religion und Säkularisierung“ der Ruhr-Universität Bochum tagt unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert. Es versteht sich, dass die Veranstalter schon vom Titel her an Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger anknüpfen: „Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion.“ <Freiburg 2005>. Die Tagung ist (wie man so sagt) hochkarätig besetzt – und streng akademisch konzipiert. Das schließt, wie schon immer seit Ludwig Feuerbach, Referenten aus, die das System der Berufungen auf Lehrstühle ausschließt oder ausgeschlossen hat – was, das ist historisch anzumerken, System hat beim Nachdenken über Säkularisierungen: Der Atheismus schreitet zwar voran, selbst bei Theologen, aber die bekennenden Atheisten sollen schön draußen bleiben beim Deutungsmarathon.
Julian Nida-Rümelin (SPD) hat 2006 bei Beck ein Buch vorgelegt unter dem ambitionierten Titel <„Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel“>. Der Autor spricht sich in seinem Buch, das im Wesentlichen seine Reden als Kulturstaatssekretär publiziert, für eine Erneuerung kultur- und bildungspolitischer Ideale aus und bemüht dabei den Humboldtschen Humanismus. In dem er gegen die bloße Verwertbarkeit des Wissens plädiert und statt dessen auf freie Persönlichkeit, Urteilskraft und Entscheidungsstärke setzt, kommt er den aktuellen Debatten über Humanismus, die wesentlich außerhalb akademischer Zusammenhänge geführt werden, sehr nahe. Sein neuestes Buch „Demokratie und Wahrheit“ (ebenfalls bei <Beck>) ist hier sehr aktuell, ohne dass sich allerdings der Autor explizit auf den Diskurs unter den weltweit organisierten säkularen Humanisten einlässt – warum sollte er das tun?
„Leitkultur“ selbst kommt im zuerst genannten Buch gar nicht vor, sondern nur im Vorwort der Herausgeberin. Man sei „auf einen Begriff gestoßen, der dieses normative Potential eines erneuerten Humanismus ... zum Ausdruck bringt, wenngleich in provozierender Weise.“ (S.7) Wer damit wie provoziert werden soll, bleibt verschwiegen. Als Quellen der Idee werden lediglich Basam Tibi (vgl. dazu <Beilage zu „Das Parlament“>; zu Basam Tibi vgl. auch „Warum ich gehe“ in <„Der Tagesspiegel“> am 7. Oktober 2006) und Theo Sommer in <„Die Zeit“> (30/1998) genannt, der sich vom Begriff der „deutschen Leitkultur“ bei Friedrich Merz abgrenzt.
Der zweite Referent auf der besagten Tagung zum Thema „Leitkultur“ wird Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert (CDU) sein. Er heizte, kaum ins Amt gekommen, die Debatte wieder an: Ohne Leitkultur „im Sinne solcher allgemein akzeptierten Orientierungen und Überzeugungen – Sie können meinetwegen auch von Großer Erzählung reden – lassen sich die Lösungen für unsere komplexen Probleme nicht konsensfähig machen.“ (<„Die Zeit“> 20.10.2005). Die großen Erzählungen, das sind die Berichte über gesellschaftliche Komödien, Trauerspiele und Heldenepen. Hier bilden sich die Legenden und Geschichtsbilder.
Wolfgang Thierse (SPD) unterstützte eine solche Debatte darüber, „was Gesellschaft ausmacht“. Und der „Junge Union“-Chef Phillip Mißfelder spitzte gleich mal zu und gab die gewünschte Richtung an: „Orientierung daran, was den Zusammenhalt unseres Landes ausmacht: Christentum, den Respekt vor anderen Religionen und den Umgang damit.“ (In: <„Der Tagesspiegel“> am 20.10.2005)
Norbert Lammert hat inzwischen selbst ein Buch zum Thema als Herausgeber vorgelegt (Hamburg 2006): „Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält.“ Es kommen zwar 42 prominente Autoren zu Wort, die über Sinn und Zweck einer <„Leitkultur"> schreiben. Das Spektrum der Meinungen ist freilich eher eng, auch wenn einige Autoren den Begriff ablehnen. Der Herausgeber selbst will eine „längst überfällige" und nach seiner Ansicht „zu lange verweigerte Debatte" wieder in Gang bringen. Wer hat sich verweigert und warum? Das bleibt im Dunkel des anonymen Vorwurfs. Alfred Grosser schlägt statt "Leitkultur" eine "humane Lebensorientierung" vor. Doch was ist das? Das ist ziemliche Ratlosigkeit – auch bei Nida-Rümelin, der ebenfalls einen Artikel einstellt. Bildung allein wird die neue Kultur nicht bilden.
Warten wir das Wochenende ab. Hoffen wir auf Konkretionen. Beide – wenn auch inhaltlich differente – Kuratoren des Begriffs der „Leitkultur“ sind zum gleichen Thema vor etwa genau einem Jahr schon einmal aufeinander getroffen, in Berlin im Deutschen Historischen Museum bei der Präsentation des Buches von Nida-Rümelin. Annette Rollmann hat darüber in der Zeitung „Das Parlament“ unter der programmatischen Überschrift „Humanistische Leitkultur. Was die Gesellschaft zusammenhält“ einen informativen <Bericht> geschrieben.
Der Begriff des Humanismus sei für ihn – Nida-Rümelin – vor allem der „gegenseitige Respekt. Menschen zählen als Menschen." Es habe Jahrhunderte gebraucht, bis diese „Erkenntnis" politisch Wirkung habe entfalten können, um dieser Haltung des Respekts in einer multikulturellen Gesellschaft nachhaltig Raum zu geben. Während bei ihm Religion eher ein bei der Integration zu beachtender Faktor ist, sieht Lammert eine konkrete Religion in der besonderen Verantwortung (wohl auch gegenüber Un- und Andersgläubigen). Er kann sich seine „Leitkultur“ nicht ohne das Christentum vorstellen. Mehr noch: „Eine Reaktivierung von christlichen Glaubensüberzeugungen ist als Voraussetzung einer säkularen Welterfahrung unabdingbar."
Hoffentlich wird sich einmal der Streit etwas zuspitzen und politischer werden, immerhin geht es mal wieder um Gott und dabei besonders um denjenigen in der Verfassung Europas. Da hat die Katholische Kirche im Land gerade wieder mal klargestellt, dass Ihr Gott nicht derjenige der Moslems ist. Was heißt das für die „Leitkultur“? Muss sie mehreren Göttern dienen?
Vielleicht kommen auch endlich einmal stärker diejenigen in den Blick, die sich von Religionen und Kirchen verabschiedet haben. Welchen Humanismus meinen sie, wenn sie über ihn reden oder gar leben? Wer von ihnen nimmt das mit „Humanismus als Leitkultur“ ernst und wer meint, es reiche Humanismus als „Teilkultur“ unter dem Dach der Säkularität. Fragen über Fragen an diese Konferenz.
Fritz Kummer