„Gib mir ein Kind…“

Reaktion: Blockade

Reaktion der ÖVP: Blockade. Dass auch innerparteilich die Front gegen die Gesamtschule bröckelt, kümmert die Parteileitung wenig. ÖVP-Generalsekretär Fritz Kaltenegger etwa sagt, man brauche keine Gesamtschule. „Es braucht stattdessen mehr innere Differenzierung in der Volksschule.“ Nur zu einem Schulversuch hat man sich auf Druck des Koalitionspartners SPÖ durchgerungen: Bis zu 10 Prozent aller Hauptschulen und Gymnasien pro Bundesland dürfen als „Neue Mittelschule“ geführt werden. Im Wesentlichen ist das eine gemeinsame Schule für 10- bis 14-Jährige mit besonders ausgeprägter pädagogischer Förderung. Geht es nach der SPÖ ein Modell, wie man sich die Gesamtschule vorstelle. Die ÖVP ist strikt dagegen. Obwohl mittlerweile mehr Schulen beim Schulversuch mitmachen wollen als die gesetzliche Obergrenze vorsieht. Die Obergrenze ist erreicht.

Unterstützung bekommt die ÖVP von Österreichs auflagenstärkster Tageszeitung, der Kronenzeitung und vom Gratisblatt „heute“, mittlerweile zum zweitgrößten Blatt des Landes avanciert. „heute“-Herausgeberin Eva Dichand forderte Anfang der Woche in einem Kommentar „Mut zur Elite“. Die Gymnasien müssten beibehalten werden, um die Eliten des Landes heranzuziehen. Einer Meinung, der sich etliche Leserbriefschreiber anschlossen: Der Kommentar solle über den Schreibtische der Politiker angebracht werden, schreibt ein Gerhard Fröhlich in der Zeitung. Es dränge sich der Verdacht auf, dass „eine möglichst ungebildete breite Masse leichter regierbar ist und somit der Ist-Zustand unseres Schulsystems mitsamt einer völlig verfehlten Einwanderungspolitik von den politisch Verantwortlichen bewusst herbeigeführt wurde.“ Und eine Susanne Soukal bedankt sich bei Dichand für deren „mutige Worte! Sie haben mir aus der Seele gesprochen“. Abgesehen von der Filterung durch die Leserbriefredaktion geben die Schreiben die Stimmung breiter Bevölkerungsschichten wieder. Ähnlich ist der Tenor in vielen Internetforen zum Thema.

Jahrzehntelang diffamiert

Wenig überraschend. Vor allem die ÖVP und seit einigen Jahren die FPÖ hatten die Gesamtschule jahrzehntelang als „Einheitsbrei“ diffamiert, es werde „nach unten nivelliert“, wo doch „das Niveau“ an den Schulen ohnehin sinke. Wahlweise wurde auch „den Ausländerkindern“ die Schuld gegeben, die mit ihren angeblich schlechten Deutschkenntnissen die Kinder österreichischer Eltern „nach unten“ zögen. Dass der Großteil der Kinder mit eklatanten Leseschwächen beim PISA-Test keine ausländischen Eltern hat, beeindruckt die Vertreter der Rechtsparteien wenig. Die jahrzehntelange Propaganda hat mittlerweile vor allem in städtischen Bereichen Fluchtbewegungen in Richtung Privatschulen ausgelöst. Wer es sich leisten kann, gibt sein Kind in eine vermeintlich elitärere Volksschule, betrieben meist von katholischen Orden oder den jeweiligen Diözesen. Empirische Nachweise, dass die Schulen besser sind als öffentliche gibt es nach Auskunft von Bildungsexperten bis heute nicht. Allerdings soll ein Besuch dort später karrierefördernd wirken.

Das Beharren der ÖVP ist ideologisch bedingt. Die Sozialdemokratie und später die Grünen machen Bildungsreformen seit jeher zu einem Kernstück ihrer politischen Forderungen. In einem Land, das so stark in links und rechts gespalten ist wie kaum ein zweites, blieb den Konservativen nur die Abwehrhaltung. Die Blockademöglichkeit stand ihnen historisch fast immer offen: Grundlegende Änderungen im Schulsystem bedürfen einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat. Auch das Ausdruck des tiefen Misstrauens der zwei größten Parteien gegeneinander gerade in Bildungsfragen. Bislang schaffte es die ÖVP so, allzu grundlegende Reformen im Bildungswesen zu verhindern.

Aktuell wäre das schwierig: Zum zweiten Mal seit 1945 hätte die ÖVP keine Sperrminorität und wäre auf das Mitwirken einer Oppositionspartei angewiesen. Der Stimmen zumindest der FPÖ könnte sie sich sicher sein, das BZÖ würde vermutlich mitziehen. Womit SPÖ und Grüne nicht nur keine Reform durchsetzen könnten, sie wären überstimmt. Umgekehrt könnten SPÖ und Grüne zusammen sämtliche ÖVP-Vorstöße in Bildungsfragen abwehren.

Baldige Reformen lässt das nicht erwarten. Dass die ÖVP in der Gesamtschulfrage nachgibt, darf als ausgeschlossen gelten. Zu sehr hat die Parteispitze diese Haltung in den vergangenen Tagen einzementiert. Die VP-Vorschläge wiederum gelten links der politischen Mitte als „Rückfall ins Mittelalter“. Auch das lässt keine Zustimmung erwarten. Allen PISA-Ergebnissen zum Trotz dürften Österreichs Schulen so weitermachen (müssen) wie bisher.

Christoph Baumgarten