Kultur? Welche Kultur?

Gemeint ist die Kultur der Mächtigen

Das können die Leitkultur-Aktivisten nicht gemeint haben – gesetzt den Fall, man unterstellt ihnen freundlicherweise, sie hätten irgendeine Vorstellung, was Kultur ist. Was sie meinen, ist eine Art Kultur der Mächtigen. Das waren die Einzigen, die sich nachweisbar als christlich identifizierten. Ob das Ausdruck einer Frömmigkeit war oder machtpolitisches Kalkül, sei dahingestellt. Eine platte Fortführung jener Art von Hofgeschichtsschreibung, die seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr dem wissenschaftlichen Standard entspricht. Und nebenbei im vorliegenden Fall auch eher von Wunschdenken zeugt und von bestenfalls oberflächlichen Geschichtskenntnissen als von einer Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte.

Gerade die allerchristlichsten der Herren waren die größten Gegner von Demokratisierung und Pluralismus – jenen Dingen, die Ausfluss einer „christlichen Leitkultur“ sein sollen. Was die Demokratie nach Europa brachte waren auch nicht christliche Überzeugungen. Es waren die Schrecken des Ersten Weltkriegs, die innerlich verrottete Regime der Reihe nach kollabieren ließen. Mit Christus auf den Fahnen und Weihrauch auf den Waffen wurden die Soldaten aufs Schlachtfeld geschickt. Mit Hunger, Zorn und meist mit der roten Fahne in der Hand erkämpften sie, erkämpften die ArbeiterInnen, erkämpfte die hungernde Bevölkerung die Freiheit. Von Christentum war da nicht viel die Rede. Das kam erst wieder, als auf den Schnallen der Reichswehrgürtel „Gott mit uns“ stand. Der bekanntermaßen fromme Karl Habsburg ließ wenigstens nicht mehr auf die Streikenden und die meuternden Soldaten schießen. Beweis für christliche Barmherzigkeit ist das nicht. Er fügte sich nur ins Unvermeidbare. Das hatte er schon zwei Jahre zuvor, als er nicht verhinderte, dass Giftgas gegen feindliche Truppen eingesetzt wurde.

Natürlich, die Herrschenden Europas, zumal die Adeligen, hatten so etwas Ähnliches wie eine gemeinsame Kultur. Ebenso wie später die Industriellen. Man lud einander zu Hochzeiten und anderen Familienfesten ein, korrespondierte eifrig und heiratete vorzugsweise untereinander. Letzteres zum Teil mit desaströsen gesundheitlichen Folgen für die Kinder. Welche emotionalen Krüppel die im Wesentlichen gemeinsame Erziehungskultur der Herrschenden Europas hervorbrachte, sieht man an Friedrich II., Wilhelm II. Louis XVI. und Franz Josef I. Dass man die Völker einander abschlachten ließ, konnte so viel gemeinsame Kultur nicht verhindern.

Dass diese Herrschenden Einfluss auf die europäischen Völker hatten und zu einem erheblichen Anteil die europäische Geschichte mitbeeinflussten, bestreitet niemand. Nur, Geschichte wird seit jeher nicht nur von den Mächtigen gemacht. Ihre Kultur ist nicht die Kultur des Volkes. Die Mächtigen sind ihrerseits Getriebene. Und für eine kritische Rolle der vermeintlich großen Persönlichkeiten in der Geschichte reicht dieser Platz nicht aus.

Der Begriff muss vage bleiben

Diese Ebene wäre die einzig mögliche, auf der man von einer „christlichen Leitkultur“ sprechen könnte, ohne den Begriff von jeglichem Inhalt zu befreien. Diese Ebene zeigt alles andere als eine vorherbestimmte, naturmächtige und unwiderstehliche Entwicklung in Richtung demokratischer Gesellschaft. Auf dieser Ebene wurde die wie auch immer gearteten „Werte“ nicht geschaffen, auf denen die freiheitlich-demokratische Staatsordnung Europas angeblich steht. Somit können die Schöpfer des Begriffs der „christlichen Leitkultur“ auch diese Ebene nicht wirklich gemeint haben.

Bleibt die Frage, was sie sonst gemeint haben. Und es entsteht der Eindruck, dass sie ein nebulöses Etwas meinen, das sie mit Hilfe von Post-68-er Bibelinterpretationen herbeifantasieren. Ohne die Bibel gelesen zu haben, wenn man ihnen zuhört. Was, nebenbei bemerkt, die Sinnlosigkeit staatlichen Religionsunterrichts unterstreicht. Das ist Absicht. Nichts mehr scheuen die selbsternannten Kulturverteidiger, als dass die Diskussion auf eine sachliche Ebene gebracht werden könnte. Dann könnten sie Argumente brauchen. Die haben sie nicht. Bequemer ist, mit einem sinnentleerten Kampfbegriff zu operieren, den man mit allerlei Emotionen aufladen kann und der sich hervorragend als Keule gegen alle eignet, die es wagen, nachzudenken. Letzteres gehört nicht so sehr zu den erstrebenswerten Eigenschaften eines Christenmenschen. Wohl aber zu denen eines Demokraten.

Christoph Baumgarten

Zu einer früheren Satire des Autors zum Thema geht es hier